10. [205] Wie die Sonne, der Mond und der Wind zu einem Mittagsessen gingen.
10. Wie die Sonne, der Mond und der Wind zu einem Mittagsessen gingen

Eines Tages gingen Sonne, Mond und Wind zum Mittagsessen zu ihrem Onkel und ihrer Tante, dem Donner und dem Blitz. Ihre Mutter, – einer der entferntesten Sterne, die Ihr dort oben am Himmel seht, – wartete einsam auf ihrer Kinder Rückkehr.

Die Sonne sowohl, als der Wind waren gierig und eigennützig. Sie genossen die schönen Leckerbissen, die man ihnen vorsetzte, ohne auch nur daran zu denken, etwas für ihre Mutter aufzuheben. Der sanfte Mond hingegen vergaß ihrer nicht. Von jedem schmackhaften Gerichte, das herumgereicht ward, steckte er ein wenig unter einen seiner wunderschönen, langen Fingernägel, damit der Stern auf diese Weise auch seinen Antheil vom Gastmahl erhalte.1[206]

Bei ihrer Heimkehr, fragte sie ihre Mutter, welche die ganze Zeit hindurch ihretwegen ihr kleines funkelndes Auge wach erhalten hatte: »Nun Kinder, was habt Ihr mir mit gebracht?« Da antwortete die Sonne, welche die älteste war: »Ich habe Dir nichts mitgebracht. Ich bin zu meinen Freunden gegangen, um mich zu amüsiren und nicht um meiner Mutter Essen zu holen!« Und der Wind sprach: »Auch ich brachte Dir gar nichts mit heim, Mutter. Wie kannst Du erwarten, daß ich Dir einen Haufen von Süßigkeiten mitbringe, wenn ich nur zu meinem eignen Vergnügen ausgehe?« Der sanfte Mond aber sagte: »Mutter, gieb mir einen Teller, und siehe, was ich Dir mitbrachte.« Mit diesen Worten schüttelte er seine Hände. Da fiel eine Menge köstlichen Essens heraus, so schön, wie man es noch nie sah. –

Da wandte sich der Stern zur Sonne und redete sie folgendermaßen an: »Weil Du nur ausgingest, um mit Deinen Freunden lustig zu sein und schmaußtest und froh warest, ohne auch nur im Geringsten an Deine Mutter daheim zu denken, – so verfluche ich Dich. Hinfort sollen Deine Strahlen heiß und versengend sein, und alles was sie berühren, verbrennen. Die Menschen sollen Dich hassen und ihr Haupt bedecken, sobald Du erscheinst. –«

(Und aus diesem Grunde scheint bis auf diesen Tag die Sonne so heiß.)

Und dann wandte sie sich an den Wind und sprach: »Du hast ebenfalls Deiner Mutter in Mitten Deiner selbstsüchtigen Freuden vergessen, – vernimm Dein Loos. Du sollst immer bei heißem, trocknen Wetter wehen. Alles, was da athmet, soll durch Dich welk und trocken werden. Und von heute an sollen Dich die Menschen verachten und meiden.«[207]

(Und daher ist der Wind bei heißem Wetter immer so unangenehm.)

Zum Monde aber sprach sie: »Mein Kind, Du hast Deiner Mutter gedacht, einen Theil Deiner eigenen Freuden hast Du ihr zugewendet, – Du sollst hinfort immer kühl, ruhig und glänzend sein. Kein schädlicher Schimmer soll Deine reinen Strahlen begleiten; und die Menschen sollen Dich segnen.«

(Und daher ist das Mondenlicht so sanft kühl, und schön bis auf diesen Tag.)


10. Wie die Sonne, der Mond und der Wind zu einem Mittagsessen gingen

1

Siehe die Bemerkungen.

Quelle:
Frere, M[ary]: Märchen aus der indischen Vergangenheit. Hinduistische Erzählungen aus dem Süden von Indien, Jena: Hermann Costenoble, 1874, S. 205-208.
Lizenz:
Kategorien: