[372] Die kleine Surja Bai.

[372] Seite 120. In dieser Erzählung sowohl, wie in der von der Panch-Phul Ranee, Seite 175, überrascht uns Bewohner des Westens die Kaltblütigkeit mit der die erste Ranee die zweite, ja selbst die dritte und geliebtere Frau ihres Mannes empfängt, um mit ihnen den Thron zu theilen. Dies ist bezeichnend für das orientalische Leben. Findet man doch nicht selten in vornehmen indischen Familien mehrere Frauen, die gleich den uns beschriebenen, auf das freundschaftlichste mit einander verkehren. Das Gegentheil, wie es uns in dem Märchen von der kleinen Surja Bai und in einigen andern geschildert wird, trifft man allerdings häufiger. Doch steht der Mensch von Natur in der Regel soweit unter der Herrschaft der Sitte, daß diese Quelle des Elends und Verbrechens, diese bitteren Eifersüchteleien zwischen den verschiedenen Frauen eines königlichen Hindu-Harems, durch äußere Freundlichkeit verdeckt werden. – Man machte in den letzten Jahren in unsrem indischen Reiche die auffallende Bemerkung, daß die wärmsten Vertreter der einheimischen Regierungen und der einheimischen Höfe ihre Meinung änderten, und zu der jetzt häufig ausgesprochenen Ueberzeugung kamen, daß die Duldung der Polygamie nicht allein die Sicherheit jeder indischen Dynastie ernstlich gefährde, sondern auch die Erhaltung jeder vornehmen indischen Familie; und daß deßhalb ihre Abschaffung eine Lebensfrage sei.

Quelle:
Frere, M[ary]: Märchen aus der indischen Vergangenheit. Hinduistische Erzählungen aus dem Süden von Indien, Jena: Hermann Costenoble, 1874, S. 372-373.
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