[199] 46. Die angeführte Menschenfresserin

[199] Es war einmal eine Frau, die hatte drei Knaben und ein Mädchen. Eines Tages gingen die Kinder im Walde spazieren. Da kamen sie an ein Haus, in dem eine Menschenfresserin wohnte. Als die Frau sie kommen hörte, sagte sie zu ihnen: »Kommt nur herein, ich bin eure Großmutter!« Die Kinder gingen hinein; die Frau war sehr freundlich zu ihnen; sie legten sich auf den Boden hin und suchten sich die Läuse ab, bis sie müde waren und einschliefen. Da wickelte sie die Kinder in eine Schlafmatte ein; den Jüngsten legte sie jedoch in die Herdgrube. Dann deckte sie ihn mit Blättern zu. Sie ging zum Hause hinaus, holte einige Felsblöcke und wälzte sie gegen die Tür, so daß sie fest verschlossen war und niemand heraus konnte. Hierauf ging sie mit einer Perlmutterschale zum Felsen hinauf und schliff sie, um sie recht scharf zu machen. Dabei sah sie zur Sonne empor und sang:


»Sonne, o Sonne, geh unter

Ich möchte gehen und essen!

Schirenpue und Mauenpue,

Die will ich gerne fressen.«


Als sie so sang, hörte der Jüngste die Worte; sie erwachten und standen auf. Sie sahen sich überall um, doch konnten sie nirgendwo eine Stelle zum Entschlüpfen finden, denn die Tür war fest verrammelt. In ihrer Not krochen sie schließlich in eine Ecke und ließen dort einen gehörigen Wind streichen. Da barst die Wand; sie konnten herauskommen und liefen fort.

Als die Menschenfresserin zurückkam, schnitt sie die Matte auf, in welche sie die Kinder eingewickelt hatte, befühlte und betastete sie und sagte: »Eine kleine Weile muß ich noch warten, dann werden sie schön zu essen sein!« Während sie so redete, kam eine kleine Eidechse herbei und sprach: »Sie [200] sind nicht mehr da! Heute morgen sind sie alle zusammen entschlüpft!« Als die Frau die Worte der Eidechse vernahm, gab sie ihr zur Antwort: »Du lügst, und deshalb sollst du auch nichts abbekommen!« Sie schnitt die Matte ganz auf, und als sie nachsah, war nichts darin. Da wurde sie sehr böse, sie eilte zum Haus hinaus und schnupperte auf allen Wegen herum, ob sie die Kinder nicht entdecken konnte. Sie roch so lange und suchte so lange, bis sie die Kinder schließlich auf einem Wege erblickte. Jetzt lief sie hinter ihnen her und kriegte sie endlich an einer Wasserquelle zu fassen. Doch sie irrte sich; was sie gefangen zu haben glaubte, waren nicht die Kinder, sondern ihre Spiegelbilder; denn als sie die Menschenfresserin kommen sahen, waren sie auf einen Baum geklettert, der über der Quelle wuchs. Die Frau sprang in das Wasser hin ein; sie meinte, die Kinder hätten sich darin versteckt. Sie suchte sie in allen Winkeln; beinahe wäre sie dabei ertrunken; sie vermochte nur eben noch ans Ufer zu kommen. Als die Kinder ihre vergeblichen Bemühungen bemerkten, mußten sie laut loslachen. Da bemerkte die Menschenfresserin sie oben im Baum und sagte: »Kommt doch herunter!« Sie antworteten: »O nein, komm du nur herauf!« Die Alte kletterte auf den Baum, und schon berührte sie fast den Fuß des Kleinsten, als die Kinder einen Spruch hersagten, damit die Menschenfresserin wieder vom Baum herabfiel. Sie sprachen:

»Tritt auf, tritt unter, steig auf, steig über!

Ich wünschte, du glittest aus und hättest keine Haut mehr.« Da tat die Alte einen Fehltritt, sie purzelte vom Baum herunter und zerschund sich dabei die ganze Haut. Jetzt klagte sie: »O, was soll ich tun? Wie soll ich nun hinaufkommen?« Und die Kinder antworteten: »Versuch einmal mit dem Rücken hinaufzuklettern!« Sie kletterte wieder hinauf und gelangte ganz in ihre Nähe. Die Kinder sprachen wieder:

»Tritt auf, tritt unter, steig auf, steig über!

Ich wünschte, du glittest aus und hättest keine Haut mehr.« Sie fiel wieder vom Baum herunter, und nun hatte sie gar [201] keine Haut mehr. Sie wehklagte und sagte: »O, was soll ich nun machen?« Und die Kinder antworteten: »Geh, reibe dich mit Asche ein, und dann springe ins salzige Meerwasser!« Sie lief nach Hause, rieb sich mit Asche ein und sprang ins Meer. Da mußte sie große Schmerzen leiden und schließlich sterben.

Die Kinder aber waren gerettet; sie stiegen vom Baum herab und gingen zu ihrer Mutter heim.


Die Landschaft Matolenim auf Ponape
Die Landschaft Matolenim auf Ponape
Quelle:
Hambruch, Paul: Südseemärchen. Jena: Eugen Diederich, 1916, S. 199-202.
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