[202] 47. Taile

Hoch oben in den Bergen von Dschokasch auf Ponape lebte einmal ein böser Zauberer, der hieß Taile. Er war schon sehr alt und betagt und wohnte in einem kleinen Häuschen, das dicht neben einer großen Höhle stand. Eines Tages erzählten ihm die Leute, daß in Matolenim das hübscheste Mädchen lebte, das man je gesehen hätte. Alle priesen ihre Schönheit und lobten sie. Die »Schöne von Taman« wurde sie genannt, und sie war die Tochter des Königs Schautelur. Als Taile das hörte, wurde er so von Liebe zu ihr entflammt, daß er sie heiraten wollte.

Er machte sich auf und wanderte zu Fuß über die Berge nach Matolenim. Unterwegs traf er eine Anzahl Männer, die bereiteten eine Brotfruchtspeise für Schautelur. Er sah ihnen eine Weile zu, fragte sie dann nach dem Wege und erzählte ihnen sein Vorhaben. Da lachten sie ihn alle aus und sagten, die Königstochter würde sich wohl für einen solch häßlichen Mummelgreis allerschönstens bedanken. Taile antwortete ihnen nichts darauf und zog weiter; im stillen dachte er aber über die Worte der Leute nach und beschloß, sich wieder jung, zu machen, um die Schöne von Taman zu erringen.

Zunächst pflückte er eine Menge schöner roter Blumen und machte sich daraus einen prächtigen Kranz. Den setzte er [202] sich auf den Kopf. Da sah er schon besser aus. Er wanderte weiter und kam an einen einsamen Ort. Dort legte er seine dicken, geschwollenen Beine ab und setzte sich dafür jugendlich frische ein. Er zog weiter und kam an einen anderen Ort. Dort legte er sein weißes Haar ab und vertauschte es mit einer hübschen schwarzen Kopfzierde. Er ging weiter und kam an einen anderen Ort. Dort entledigte er sich seiner schlaffen Hoden und ersetzte sie durch kleine, zarte, pralle. So wurde er immer jünger aussehen. Und als er schließlich noch seine alten häßlichen Triefaugen aus dem Kopfe nahm und blanke, helle Augen dafür einsetzte, als er sich die Runzeln und Falten aus dem Gesicht strich, da war er wieder zum jungen Mann geworden.

So kam er denn nach Pankatra an den Hof des Königs. Er trat in das Haus ein, wo der König mit seiner Tochter gerade beim Essen saß. Sie luden den Taile ein, bei ihnen Platz zu nehmen und mit zu essen. Die Schöne von Taman mochte den jungen hübschen Mann gern leiden und bat ihn, ihr den roten Blumenkranz zu schenken. (Den hatte Taile aber vorher verzaubert.)

Als sie den Kranz aufgesetzt hatte, da packte sie eine heftige Liebe zu Taile. Die Liebe wurde immer größer, und als der Zauberer fragte, ob sie seine Frau werden wolle, sagte sie mit Freuden ja. Da heiratete Taile die Schöne von Taman, und beide wohnten in Pankatra.

Nach einiger Zeit wollte Taile jedoch nach Dschokasch zurückkehren, und er sagte seiner Frau, sie möchte ihren Vater, den König, bitten, sie reisen zu lassen. Schautelur entließ sie, und sie gingen fort. Sie gingen zu Fuß. Als sie an den Platz kamen, wo Taile seine Triefaugen abgelegt hatte, nahm er sie wieder auf und setzte sie sich ein. So machte er es auch an den anderen Orten; überall, wo er vordem seine alten Sachen abgelegt hatte, holte er sie sich wieder, das weiße Haar, die schlaffen Hoden und die dicken Beine. Und mit Schrecken bemerkte die junge Frau, wie ihr jugendlicher Mann plötzlich zum häßlichen Mummelgreis geworden war. [203] Sie wollte fliehen; doch das ging nicht. Sie kannte nicht den Weg in der fremden Wildnis und mußte wohl oder übel bei Taile aushalten.

Als die beiden an die Stelle kamen, wo der Zauberer sein Boot versteckt hatte, zog er es aus dem Dickicht heraus und legte seine Frau samt allen abgelegten Sachen hinein. Dann nahm er das Boot auf die Schulter und trug es über die Berge bis zu seinem Haus. Er setzte es nieder, öffnete die Tür und schob es ins Haus hinein. Dann verrammelte er die Tür ganz fest und freute sich auf den schönen Braten, den er sich so schlau eingefangen hatte, um ihn mit seinen Freunden zu verzehren. Taile war nämlich ein arger Menschenfresser. Er ging nun auf den Berg und rief von dort aus alle seine Freunde zusammen und lud sie zum Schmause ein. Sie kamen bald herbei und fragten ihn, was für einen Braten er denn für sie erwischt habe. Er antwortete: »Die Schöne von Taman.« Da freuten sich alle und schmatzten mit den Lippen.

Während Taile auf dem Berge war, kam seine Schwester des Wegs, um ihren Bruder zu besuchen. Als sie vor dem Häuschen angekommen war, hörte sie darinnen rufen. Sie fragte: »Wer ist da im Häuschen und ruft immerfort?« – Die Gefangene antwortete: »Ich bin es, die Schöne von Taman, die Tochter des Schautelur!« – »O, du dummes Mädchen!« sagte die Schwester, »warum bist du auch mit dem bösen Zauberer gegangen? der will dich fressen.« – »Was soll ich tun?« wehklagte die Schöne, »ich kann nicht hinaus, die Tür ist verschlossen und fest verrammelt.« »Ich werde dir helfen,« entgegnete die andere, »klopfe du drinnen, ich klopfe draußen. Bald wird ein Loch entstehen, dann kannst du heraus und dich in Sicherheit bringen.« Das tat das Mädchen, und bald war sie frei.

Sie lief nun so schnell sie konnte fort und bat inständig alle Bäume und Büsche, ihr zu helfen, den rechten Weg zu zeigen und sie ja nicht dem Taile zu verraten. Die Bäume und Büsche hatten Mitleid mit der Schönen; sie halfen ihr, zeigten [204] ihr den Weg und versprachen, sie nicht dem Zauberer zu verraten. Nur ein kleiner, winziger Busch weigerte sich. Da pißte sie auf ihn und zog über die Berge weiter.

Als Taile nun vom Berge herab an sein Haus kam, öffnete er die Tür, um das Mädchen für den Schmaus herzurichten. Aber der Vogel war ausgeflogen. Er fragte seine Schwester, ob sie wüßte, wo das Mädchen geblieben wäre. Sie verneinte es. Da suchte er überall nach der Entflohenen; er fragte die Bäume und Büsche, ob sie bei ihnen vorbeigekommen wäre. Die antworteten alle nein; nur der kleine winzige Busch sagte: »Soeben ist die Schöne von Taman hier an mir vorübergelaufen.« Da lief der Zauberer weiter. Aber er holte das Mädchen nicht ein. Mit ihren jungen Beinen konnte sie schneller rennen, als er mit seinen alten. So mußte er schließlich seine Absicht aufgeben und kehrte nach Haus um.

Unterwegs begegnete er zwei alten Frauen, die trugen frische Kokosnüsse mit sich. Er bat sie, ihm einige zu geben; denn vom Laufen war er matt geworden und wollte sich erfrischen. Sie taten es. Als er sie fragte, ob sie etwa das Mädchen gesehen hätten, antworteten sie: »Zieh dein unteres Augenlid einmal herunter, dann wollen wir es dir sagen.« Taile zog die unteren Augenlider herunter, und die Frauen warfen ihm große Hände voll Staub in die Augen. »So, nun geh hin, wasch dir die Augen aus, dann wirst du die Schöne schon sehen!« sagten sie und rannten fort. Taile war blind geworden; er konnte nichts mehr sehen; er verirrte sich in der Wildnis, fand sich nicht mehr nach Haus und ging elendig zugrunde.

Die Schöne von Taman war jetzt frei. Sie kam glücklich nach Pankatra und erzählte dort allen ihre Erlebnisse, o, uä!

Quelle:
Hambruch, Paul: Südseemärchen. Jena: Eugen Diederich, 1916, S. 202-205.
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