[231] 58. Die Ratte und der Fliegende Hund

[231] Es war einmal eine Ratte, die wollte gern die Flügel des Fliegenden Hundes haben. Das war leicht gesagt, aber schwer getan, denn der Fliegende Hund flog immer hoch oben in den Lüften; und der Ratte half es gar nichts, daß sie ein großer Häuptling war, sie mußte doch stets auf der Erde herumkriechen. Sie sann über eine List nach und schaute nach einem Baume mit Früchten aus, welche der Fliegende Hund sehr liebte. Sie merkte, daß der Fliegende Hund die Früchte des Erythrina-Baumes mit den schönen roten Blüten allen anderen vorzog. Tagelang sah die Ratte, wie er nur an diesen Früchten naschte; gatae heißt er und wird auch 'alo 'alo genannt.

Da dachte die Ratte sich folgendes aus: »Schön, ich werde da 'mal hinaufsteigen, wo der Fliegende Hund sitzt.« Sie ging also zu ihm hin und gelangte auch auf den Baum hinauf. Als sie ihn aber anredete, flog der Fliegende Hund fort und hing sich an einen anderen Baum, dessen Früchte er ebenfalls gern mochte. Die Ratte stieg wieder herunter und kletterte auf dem anderen Baum noch oben. Als der Fliegende Hund sie bemerkte, wollte er flüchten; doch die Ratte rief ihm zu: »Lauf doch nicht davon! Es macht ja nichts, daß dies nicht dein, sondern mein Baum ist. Warte, bleib' hier, ich möchte einmal etwas mit dir besprechen.« Da antwortete der Fliegende Hund: »Gut, ich will warten; aber was für Wichtigkeiten hast du denn mit mir zu bereden?«

Die Ratte sagte: »Sagt einmal, Herr Pe'a, wie kommt es denn, daß Ihr ohne meine Erlaubnis hier vom Baume eßt? Ich esse doch davon.« Der Fliegende Hund antwortete: »Ratte, ich bitte vielmals um Entschuldigung, du hast recht.« Und die Ratte sprach wiederum: »Ich bin dir deshalb nicht böse, im Gegenteil, ich möchte mit dir Freundschaft schließen; Pe'a, ich werde dich nicht wegjagen; komm [232] nur ruhig hier nach dem Baum und iß dich satt.« »Schön,« sagte der Fliegende Hund, »dann wollen wir Freunde werden.«

Alsbald sprach die Ratte: »Pe'a, hast du denn gar keine Angst, wenn du dort so hoch oben in den Lüften fliegst? Wenn ich nur hinsehe, kommt es mir doch sehr hoch vor, wo du fliegst.«

Fliegender Hund: »Nein, Ratte, ich fürchte mich nicht.«

Ratte: »Ist das auch wahr?«

Fliegender Hund: »Wirklich, ich bin nicht bange.«

Ratte: »Pe'a, dann habe einmal ein Einsehen. Sei so gut, und leihe mir deine Flügel. Ich möchte das Fliegen gern lernen; dann kann ich ja sehen, ob du wirklich mein aufrichtiger Freund bist.«

Fliegender Hund: »Gern, ich will dir meine Flügel leihen; du sollst 'mal sehen, wie schön das Fliegen geht.«

Er setzte hinzu: »Fliege aber nicht zu weit.« – »O nein,« sagte die Ratte, »ich will nur eben nach dem Baum dort fliegen; ich komme gleich wieder; iß du dich derweilen ordentlich an den Früchten satt.«

Der Fliegende Hund nahm seine Flügel ab und heftete sie der Ratte an den Leib. Die sagte: »Pe'a, darf ich dir meine Sachen zur Aufbewahrung geben, sie hindern mich nur beim Fliegen.« Dann gab sie dem Fliegenden Hund den Schwanz und die vier Füße; der nahm sie in Empfang, setzte sich die Füße ein und heftete den Schwanz an seinen Hinterleib.

Und wieder ermahnte der Fliegende Hund: »Ratte, komm aber gleich wieder, damit ich mich nicht verspäte.« Die Ratte antwortete: »Ja, ich komme rasch zurück; bleib' nur und iß dich ordentlich satt.« Dann flog die Ratte fort, und der Fliegende Hund aß von den Früchten. Dabei schaute er hinter der Ratte her, die sich weiter und weiter entfernte, und der es gar nicht einfiel, umzukehren. Nun weinte der Fliegende Hund und klagte: »Aue! aue! aue! Die Ratte hat mich angeführt; sie ist mit meinen Flügeln davongegangen.«

Dies ist die Geschichte von Pe'a, dem die Flügel gestohlen [233] wurden, und der nun auf der Erde leben muß. Und die Ratte heißt jetzt Fliegender Hund, während der Fliegende Hund zur Ratte wurde.

Davon rührt auch das Sprichwort her, das die Sprecher gebrauchen, wenn ein Häuptling vom andern betrogen wird; dann sagen nämlich die Sprecher: »Aber kanntest du nicht die Freundschaft zwischen dem Fliegenden Hund und der Ratte?«

Quelle:
Hambruch, Paul: Südseemärchen. Jena: Eugen Diederich, 1916, S. 231-234.
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