|
[259] Auf Kauai wurden einer Familie sechs Mädchen-Götter, ein wirkliches Mädchen und ein richtiger Knabe geboren. Die »Götter« hatten alle die Gestalt von Ratten angenommen und hießen: »Kikoo«; so wurden auch die Bogen genannt, mit denen man Pfeile bei der Rattenjagd abschoß. Es gab einen Himmels-Bogen, einen Erd-Bogen, einen Berg-Bogen, einen Meer-Bogen, einen Nacht-Bogen und einen Tag-Bogen.
Diese sechs Rattenschwestern betreuten ihren Bruder und seine Spiele. Seine Beschwörungen und Zaubersprüche geschahen in ihrem Namen. Die rechte Menschen-Schwester hieß Ka-ui-o-Manoa, die Schöne von Manoa. Sie war das schönste Mädchen, das von Oahu herüberkam, um Pawaa, den Häuptling im Manoa-Tal, zu heiraten. Er war der aikane, der Bruderhäuptling des Königs von Oahu, Kakuhihewa. Sie wohnten im Manoa-Tal in Kahaloa und besaßen auch Kahoiwai am oberen Tal.
Der Knabe hieß Pikoi-a-ka-Alala, Pikoi der Sohn des Alala. Zu seiner Zeit galt die Rattenjagd mit Pfeil und Bogen als vornehmster Zeitvertreib. Pikoi war schon als Knabe sehr geschickt. Er konnte scharf und vortrefflich sehen und übertraf alle Leute in Kauai bei weitem in der Geschicklichkeit, Ratten weit weg in ihrem Versteck zu töten. Die Sage erzählt, daß er das hauptsächlich der Hilfe seiner Schwestern verdankte. Zur selben Zeit lebte auf Kauai auch ein wunderbarer Hund, Pupualenalena, Pupua der Gelbe. Der Hund war sehr klug und sehr schnell.
Eines Tages lief er in den finstern Wald und begegnete dort einem kleinen Knaben, der mit großem Erfolg Ratten erlegte. Der Hund schloß sich ihm an. Er fing zehn Ratten, während Pikoi zehn schoß.
Einige Tage später begaben sich die beiden Freunde in die [260] Wildnis. Sie jagten um die Wette; der Hund fing vierzig, und der Knabe erlegte ebenfalls vierzig Ratten. Sie versuchten es immer wieder von neuem, der Knabe wollte den Hund, und der Hund umgekehrt den Knaben schlagen, aber keiner von beiden konnte den andern ausstechen. Nach einiger Zeit waren sie in ganz Kauai berühmt geworden. Die Kunde von Pikoi gelangte nach Oahu und von da aus sogar nach Hawaii. Sein Name wurde überall bekannt; doch erst wenige hatten ihn gesehen.
Eines Tages sagte Alala zu Pikoi, er wolle seine Tochter im Manoa-Tal besuchen. Sie ließen das Boot zu Wasser und fuhren über den Kanal; der wunderbare Hund blieb aber zurück: Mitten auf dem Kanal rief Pikoi: »Schau! da kommt ein großer Tintenfisch!« Es war der Gott Kakahee, der die Gestalt eines Tintenfisches angenommen hatte. Pikoi holte seinen Bogen hervor und legte einen geeigneten Pfeil auf die Sehne; er sah das große Tier in einer Höhle des Korallenfelsens tief unten im Meer verborgen liegen. Der Tintenfisch kroch heraus und verfolgte das Boot; er streckte seine langen Arme aus und versuchte die beiden einzufangen. Der Knabe schoß auf das Untier und benutzte dabei den Bogen und Pfeil, der für das Meer geeignet war. Nach wenigen Augenblicken starb der Tintenfisch. Das geschah in der Nähe von Kap Kaena, und das Land heißt dort Kahahee. Diese Meeresungeheuer nannte man Kupuas. Und man glaubte, daß es böse Götter waren, die nur darauf bedacht waren, den Menschen Unheil zuzufügen.
Pikoi landete mit seinem Vater und begab sich zum Manoa-Tal. Sie trafen dort Ka-ui-o-Manoa; als sie sich umarmten, weinten sie vor lauter Freude. Man gab ihnen ein Fest, und sie blieben dort einige Zeit.
Pikoi wanderte im Tal umher und kam auch nach den Bergen, die über den Hafen von Kou (Honolulu) hinausschauen. Unten in der Ebene Kula-o-ka-hua erblickte er eine Häuptlingsfrau mit ihrem Gefolge. Die Ebene schloß sich an das Makiki-Tal an und war ziemlich flach. Sie schien damals [261] mit niederem Gestrüpp, dem Zwerg-Busch, aweoweo, bewachsen zu sein. Unter dem Dickicht der dicken Blätter und Zweige lebten die Ratten.
Pikoi begab sich zu dem Orte, wo sich die Leute versammelten. Die Häuptlingsfrau hieß Kahamaluihi und war die Gemahlin vom König Kakuhihewa. In ihrem Gefolge befand sich ihr berühmtester Bogenschütze Ke-pana-kahu, der mit Mainele, dem bewährten Rattenjäger ihres Gatten, um die Wette schoß. Die Königin hatte mit Mainele gewettet und hatte verloren, weil er an diesem Tage ihren Leibschützen übertroffen hatte. Sie stand an einem eingefriedigten Tabuplatz im Schatten; doch Pikoi trat dort ohne weiteres ein und stellte sich neben sie hin. Einen Augenblick lang war sie böse und fragte ihn nach seinem Begehr. Er gab eine lustige Antwort und sagte, er wolle dem Wettspiel zuschauen.
Sie fragte ihn, ob er schießen könne. Er entgegnete, er verstünde ein wenig von der Kunst; nun ließ sie ihm Pfeil und Bogen bringen.
Er sagte: »Dieser Bogen und Pfeil eignen sich nicht.«
Sie lachte ihn aus. »Du bist noch ein Knabe und willst schon etwas von der Rattenjagd verstehen?«
Das wurmte ihn ein wenig, er zerbrach Bogen und Pfeil und sagte: »Sie taugen überhaupt nichts!«
Jetzt wurde die Königin wirklich böse und rief: »Du dummer Junge, was fällt dir ein? Warum zerbrichst du mir meine Sachen?«
Inzwischen war Pikoi schon von seinem Vater vermißt worden. Als er von seiner Tochter erfuhr, daß die Königin eine Ratten-Wettjagd veranstaltete, wickelte er Pikois Bogen und Pfeile in Tapa ein, nahm das Bündel auf die Schulter und zog das Tal hinab.
Pikoi zog einen Bogen und einen Pfeil aus dem Bündel heraus und bat die Königin, einen neuen Wettkampf mit Mainele zu veranstalten. Die Königin war schon wieder bei guter Laune und sagte ja.
Mainele rüstete sich zum ersten Schuß; er hatte mit Pikoi [262] ausgemacht, daß sie in der ersten Runde fünfzehn Schüsse abgeben wollten.
Pikoi zeigte ihm eine Ratte nach der andern, die unter den Büschen versteckt waren; schließlich hatte Mainele vierzehn Stücke erlegt. Da rief der Knabe: »Nun ist noch eine übrig. Schieße jetzt die Ratte, deren Barthaare dort neben dem Blatt des aweoweo-Baumes hervorschauen. Ihr Körper ist allerdings verborgen, aber die Barthaare kann ich erkennen. Mainele, schieß diese Ratte!«
Mainele sah sich die Büsche sorgfältig an; aber er konnte nichts von einer Ratte entdecken. Auch die andern Leute kamen herbei und schossen die Pfeile in die Blätter hinein; sie konnten ebenfalls nichts bemerken.
Schließlich sagte Mainele: »Dort ist keine Ratte. Wo du sagtest, habe ich nachgesehen. Du lügst ja, wenn du behauptest, die Barthaare der Ratte sehen zu können.«
Pikoi blieb dabei, daß eine Ratte dort sei. Mainele stutzte und sagte: »Sieh dir die Schätze an, welche ich der Königin abgewann, und sieh auch die Schätze, um die wir nun wettstreiten. Du sollst alles haben, wenn du schießt und die Barthaare einer x-beliebigen Ratte unter dem kleinen Busch triffst. Wenn du keine Ratte triffst, dann habe ich die Wette gewonnen.«
Nun zog Pikoi aus dem Bündel, das ihm sein Vater hielt, Bogen und Pfeil heraus. Er spannte sorgfältig den Bogen, legte einen Pfeil auf und zielte nach der näher bezeichneten Stelle. Die Königin sprach: »Welch wundervoller Bogen!« Ihre Kammerfrau beobachtete dagegen die schönen Augen des Knaben und seine prächtige Erscheinung.
Pikoi sang leise vor sich hin. Er sprach das Zaubergebet an seine Schwestern:
»Hier steht er, hier steht er, der Pikoi!
Alala heißt mein Vater,
Koukou heißt meine Mutter,
Sechs göttliche Schwestern wurden ihnen geboren:
Der Himmels-Bogen,
Der Erden-Bogen,[263]
Der Berg-Bogen,
Der Meer-Bogen,
Der Nacht-Bogen,
Der Tag-Bogen!
O ihr Wunderbaren,
Ihr Schweigenden!
Ruhe.
Da ist ja die Ratte –
Dort steckt die Ratte in den Aweoweo-Blättern,
Unter der Frucht des Aweoweo
Neben dem Aweoweo-Stamm.
Mainele, du hast große Augen,
Hast du noch nicht die Ratte gesehen?
Hättest du doch nur geschossen!
Hättest du geschossen, Mainele,
Und hättest du die Barthaare der Ratte getroffen –
Du hättest zwei Ratten gehabt – zwei,
Es kommt noch eine – drei Ratten – drei!«
Darauf sagte Mainele: »Bengel, du lügst. Ich, der Mainele, bin ein tüchtiger Schütze. Ich habe die Ratten schon am Maul, am Bein und sonstwo am Körper getroffen, – aber niemand durchbohrte jemals die Barthaare. Du willst uns betrügen.«
Pikoi hob den Bogen, befühlte den Pfeil und sagte zu seinem Vater: »Was für ein Pfeil ist dies?« Der Vater antwortete: »Das ist der Pfeil Mahu, mit dem man Blüten von den Bäumen schießt.« Pikoi sprach: »Der ist ungeeignet. Gib mir einen anderen.« Der Vater gab ihm Lau-kona, mit dem man dicke Blätter herunterschießt; doch der Knabe sagte: »Mit diesem Pfeil sind nur sechzig Ratten erlegt worden, seine Augen sind schwach. Gib einen andern her!« Der Vater händigte ihm nun Huhui aus, der an der Spitze drei oder vier scharfe Zinken besaß. Pikoi nahm ihn in die Hand und sagte: »Der Pfeil wird mir die Schätze bringen;« darauf näherte er sich dem Baum und murmelte dabei leise seine Sprüche. Summend und sausend ließ er den Pfeil abschwirren; er traf, und die Barthaare von drei Ratten verwickelten sich in die Zinken.
[264] Mainele beobachtete die wunderbare Schießkunst und mußte ihm alle Schätze ausliefern, um die er gewettet hatte. Doch Pikoi sagte, er würde nicht eher gewonnen haben, bis er vierzehn weitere Ratten getötet hätte; nun schoß er mit einem sehr langen Pfeil zwischen die dicken Blätter in den Büschen, und der Pfeil saß voll von Ratten; vierzig Stück wurden von ihm aufgespießt.
Das Volk stand mit offenem Mund, schweigend, voll Erstaunen dabei; dann brach ein wilder Beifallssturm los. Vater und Sohn verschwanden unterdessen heimlich und begaben sich ins Manoa-Tal zurück. Sie blieben dort lange Zeit bei der »Schönen von Manoa« und besuchten weder Waikiki noch einen anderen Ort auf Oahu.
Als König Kakuhihewa von dem seltsamen Wettstreit hörte, hätte er gern den wunderbaren Knaben bei sich gesehen. Doch der war wie vom Erdboden verschwunden. Die Kammerfrau der Königin war die einzige, welche sich seine Augen und sein ganzes Aussehen eingeprägt hatte; aber sie vermochte ebenfalls keine Auskunft zu geben, wo er sich aufhielt oder wie er verschwunden war.
Sie machte den Vorschlag, daß alle Leute von Oahu, nach Gauen geordnet, dem König Geschenke bringen sollten; jeder Gau sollte es zwei Monate lang tun, damit nicht einerseits ein Überfluß an Geschenken sich einstellte, andererseits aber auch die Bevölkerung nicht verarmte oder gar verhungerte.
Fünf Jahre gingen ins Land. Im sechsten wurde das Tal von Manoa aufgefordert, Gaben zu senden.
Inzwischen war Pikoi erwachsen und hatte sich äußerlich sehr verändert. Sein Haar war lang geworden und hing ihm bis zum Boden am Körper herunter. Er bat seine Schwester, ihm die Haare zu schneiden, und veranlaßte sie, dazu die Haizahnmesser ihres Gatten zu verwenden. Zuerst wollte sie nicht und sagte: »Die Messer sind tabu, denn sie gehören dem Häuptling.« Schließlich nahm sie die Zahnmesser doch und versuchte, das Haar zu schneiden; aber es war so dick und kräftig, daß die Handgriffe abbrachen; nun gab sie es [265] auf und sagte: »Du hast Haare wie ein Gott.« Wahrend er in der Nacht schlief, kamen jedoch seine Ratten-Schwestern herbei und knabberten ihm die Haare ab, bald fraßen sie an der einen, dann wieder an einer anderen Stelle. Es wurde nicht gleichmäßig. Und aus der Zeit stammt der Spruch: »Schau sein Haar! das haben wohl die Ratten geschnitten!« Der Häuptling Pawaa kam nach Hause und fand seine Frau in großer Erregung. Sie erzählte ihm, was sie getan hatte; er antwortete: »Nun, die Handgriffe sind wohl zerbrochen, aber nicht die Haizähne. Wären die Zähne entzweigebrochen, dann wäre es schlimm gewesen.«
Die Ratten-Schwestern hatten Pikoi auch mit einer anderen Hautfarbe versehen. Als er mit dem zerzausten Haar erschien erkannte ihn niemand – sogar Vater und Schwester nicht. Er setzte sich einen prächtigen Blumenkranz auf und ging nun mit dem Manoa-Volk nach Waikiki, um vor dem König zu erscheinen.
Die Leute feierten und vergnügten sich; sie beteiligten sich am Brandungsschwimmen und anderen Belustigungen, ehe sie aufgefordert wurden, dem Könige ihre Ehrerbietung zu erweisen.
Pikoi ging an den Ulu-kou-Strand, wo sich die Königin mit ihrem Gefolge am Brandungsschwimmen beteiligte. Er stand gerade am Ufer, als eine hohe Welle die Königin herantrug und sie vor ihm niedersetzte. Er bat sie um das Brett; doch sie sagte, es wäre für alle tabu, nur sie allein dürfte es benützen.
Wer das Brett sonst berührte, würden die Diener erschlagen. Nun kam die Häuptlingsfrau herbei, die seiner Zeit bei der Königin gesehen hatte, wie Pikoi die Ratten in Waikiki erlegte. Die Königin sagte: »Du darfst dies Brett hier benutzen.« Die Kammerfrau gab ihm das Brett, aber sie erkannte ihn nicht. Nun begab er sich nach Waikiki, wo die Leute ihre Wettkämpfe veranstalteten. Hier taugte die Brandung nur an einer Stelle, und die war der Königin vorbehalten. Doch Pikoi ließ sich von den Wellen zu den hohen Wogen tragen, auf denen sie mit dem Brett hinabglitt. Sie[266] wartete auf ihn, denn seine große Schönheit gefiel ihr, trotzdem er sich Mühe genug gegeben hatte, sich zu verändern. Sie bat ihn um eine schöne Blume aus seinem Kranz; doch er erwiderte, er dürfe ihr keine geben, denn sie wäre ja tabu. »Nein! Nein!« entgegnete sie, »für mich ist nichts tabu, was ich annehmen soll. Es ist erst tabu, wenn ich es in der Hand halte und getragen habe.« Da schenkte er ihr den Blumenkranz. Und so heißt heute noch diese Brandung Kalehua-wike, die losgebundenen Lehua-Blumen.
Er bat sie ferner, mit der ersten Welle loszufahren; er wolle auf der zweiten hinter ihr folgen. Sie tat es aber nicht, sondern wartete, bis er auf der zweiten an ihr vorbeikam. Er bemerkte sie und versuchte nun von seiner Welle zur folgenden hinüberzugleiten. Sie folgte ihm und erfaßte sehr geschickt dieselbe Welle; dann glitt sie mit ihm zusammen zum Strand hinab.
Das Volk lärmte gewaltig: »Der Bengel hat das Tabu verletzt! Er muß sterben!«
König Kakuhihewa hörte das Rufen und schaute nach dem Meere hin: – und erblickte die geheiligte Person der Königin mit dem Burschen auf derselben Brandungswelle!
Er rief seine Leute herbei: »Schnell, greift mir den jungen Menschen, der das Tabu der Königin verletzt hat. Er soll nicht am Leben bleiben.«
Sie liefen hin, ergriffen ihn, stießen ihn hin und her, rissen ihm den Schurz ab, schlugen mit Keulen auf ihn los und wollten ihn töten. Pikoi rief: »Haltet ein! Wartet, bis ich mit dem Könige geredet habe.« Sie führten ihn zum Platz, wo der König sich aufhielt. Auf dem Wege beleidigten ihn die Leute und bewarfen ihn mit Schmutz und Steinen. Der König war jedoch heiterer Laune; er hörte sich die Verteidigung an und ließ ihn nicht töten. Während er noch mit dem Könige redete, kam auch die Königin mit den anderen Frauen herbei. Die eine betrachtete ihn sehr genau; ihr fielen einige besondere Merkmale an der Hüfte auf. Sie rief: »O, das ist der wunderbare Knabe, der den Mainele besiegte. Das [267] ist der geschickte Rattenjäger!« Der König antwortete der Frau: »Du siehst, daß es ein schmucker Bursch ist und willst ihn wohl retten?« Die Frau war darüber bestürzt, aber sie bestand auf der Meinung, daß es der Rattenjäger wäre.
Nun sprach der König: »Dann kann er es vielleicht einmal mit dem Mainele aufnehmen. Sie sollen hier im Hause schießen.« Das Haus hieß Hala-noa, zu dem jeder Zutritt hatte. Der König erließ jetzt die Bestimmungen: »Ihr sollt jeder die Pfeile eurer Hand1 und fünf dazu verschießen – im ganzen fünfzehn.«
Pikoi kam der Wettkampf gar nicht gelegen. Mainele hatte seine eigenen Waffen, und Pikoi hatte gar keine; doch als er sich umschaute, bemerkte er seinen Vater Alala, der ihn jedoch nicht erkannte. Der Vater trug das Bündel Tapa mit den Bogen und Pfeilen bei sich. Die Frauen erkannten ihn und riefen: »Seht, das ist der Mann, der für den Knaben Bogen und Pfeile trägt.«
Pikoi sagte zu Mainele, er solle einige Ratten in der Türöffnung schießen. Er zeigte ihm eine nach der andern, bis er zwölf getötet hatte. Pikoi sprach: »Da ist noch eine. Man kann ihren Körper nicht sehen, aber die Barthaare lugen dort an der Ecke von der steinernen Stufe hervor.« Mainele leugnete, daß dort eine Ratte wäre, und wollte nicht schießen. Und der König befahl Pikoi, nicht auf eine x-beliebige Ratte unter der Tür zu schießen, sondern wirklich sichtbare Ratten zu töten, wie es Mainele getan hatte.
Pikoi zog seinen Bogen hervor. Er spannte ihn, bis er sich von der einen Seite des Hauses zur anderen dehnte. Der Pfeil war sehr lang. Dann forderte er seinen Gegner auf, ihm die Ratten zu zeigen.
Mainele konnte ihm keine zeigen. Auch der König vermochte keine im ganzen Hause zu erblicken. Pikoi schoß jedoch den Pfeil auf die Stufe ab und tötete eine Ratte, welche darunter verborgen gesessen hatte. Dar auftraf er in einer anderen Ecke einen schon vom Alter gebeugten Rattengreis; [268] danach zielte er auf den Firstbalken und murmelte ein Lied, das er diesmal beendete mit:
»Gradeaus schwirrt der Pfeil,
Er trifft das Maul der Ratte,
Vom Auge des Pfeils bis zum Ende
Zählt man vierhundert – vierhundert!«
Der König sagte: »Schieß nur deine, ›vierhundert, vierhundert‹! Mainele soll sie aufsammeln; doch wenn das Auge deines Pfeiles sich irrt, wenn es keine Ratten findet, dann mußt du sterben!«
Pikoi entsandte den Pfeil, der nun am Firstbalken unter dem Dache entlangstreifte und eine Ratte nach der andern aufspießte, bis der Pfeil von einem Ende zum andern davon vollsaß – es waren Hunderte und aber Hunderte.
Jetzt erkannte der hohe Häuptling Pawaa seinen Schwager; er umarmte ihn und beklagte die ihm angetane Unbill. Er griff nach seiner Kriegskeule und ging zum Haus hinaus, um die Leute zu suchen, welche Pikoi geschlagen und ihm den Schurz abgerissen hatten. Er schlug sie ins Genick und tötete so zwanzig Menschen. Der König fragte seinen Freund, weshalb er das täte. Pawaa erwiderte: »Weil sie meinen Schwager schlecht behandelt haben – den einzigen Bruder meiner Frau, ›der Schönen von Manoa‹.« Der König antwortete: »Du tust recht so.«
Die Leute, welche Pikoi beleidigt und ihn mit Schmutz beworfen hatten, liefen jetzt fort und wollten sich verstecken. Sie flohen nach allen Richtungen auseinander. Pikoi faßte aber seinen Bogen, legte einen Pfeil auf und rief wieder seine Ratten-Schwestern an. Diesmal endete er mit einem Zauberspruch, der sich auf die Flüchtigen bezog:
»Triff! Schau, jetzt sind die Ratten – Menschen!
Den kleinen Mann,
Den großen Mann,
Den dünnen Mann,
den dicken Mann,
Den bebenden Feigling.
Flieg mein Pfeil! und triff!
Und kehre wieder!«
[269] Der Pfeil durchbohrte einen fliehenden Mann, dann schwirrte er seitwärts und traf einen andern; und so sauste er hierhin und dorthin, verschonte, die dem Pikoi nichts getan hatten, und erreichte nur die, welche gefehlt hatten; er suchte sich sein Opfer aus, gerade als ob er Augen hätte, und kehrte endlich wieder in das Tapabündel zurück. Der Pfeil erhielt den Namen »Ka-pua-akamai-loa«, der kluge Pfeil. Viele wurden durch den klugen Pfeil bestraft.
Die Häuptlinge wunderten sich und waren ganz bestürzt; sie sprachen zueinander: »Wir haben keinen Krieger, der diesem geschickten Jüngling entgegentreten kann.« Der König wies Pikoi einen höchst ehrenvollen Platz unter den Häuptlingen an und ernannte ihn zu seinem Leib-Rattenjäger. Die Königin nahm ihn zum Sohn an.
Bis dahin hatte noch niemand den eigentlichen Namen Pikois vernommen. Wenn er die Sprüche murmelte, in denen sein Name vorkam, dann hatte er so leise gesprochen, daß niemand hören konnte, was er sagte. Das Volk nannte ihn daher »Ka-pana-kahu-ahi«, den Feuer-Schützen, weil sein Pfeil alles wie Feuer vernichtete.
Pikoi kehrte mit Pawaa, seinem Vater und der Schwester ins Manoa-Tal zurück. Dort wohnte er eine Zeitlang in einem großen Grashaus, das ihm der König geschenkt hatte. Kakuhihewa wollte ihm seine Tochter zur Frau geben; doch bald bot sich dem Pikoi auf Hawaii eine neue Gelegenheit, sich hervorzutun. Er wanderte nach dieser Insel hinüber und wurde dort ein ebenso berühmter Vogeljäger wie Rattenjäger, als er den letzten Wettstreit mit Mainele ausfocht.
Mainele schämte sich sehr, als der König ihm befahl, nicht nur die Leichname der Erschlagenen zusammenzutragen, sondern auch die toten Ratten einzusammeln. Er mußte auch den Boden vom Blute säubern. Darauf verschwand er und versteckte sich in einem Dorfe, wo das niedere Volk lebte. Schließlich kam auch für ihn eine Gelegenheit, nach Hawaii auszuwandern und sich dort mit Pfeil und Bogen neuen Ruhm zu verschaffen.
1 | Die 10 Finger. |
Buchempfehlung
Diese Blätter, welche ich unter den geheimen Papieren meiner Frau, Jukunde Haller, gefunden habe, lege ich der Welt vor Augen; nichts davon als die Ueberschriften der Kapitel ist mein Werk, das übrige alles ist aus der Feder meiner Schwiegermutter, der Himmel tröste sie, geflossen. – Wozu doch den Weibern die Kunst zu schreiben nutzen mag? Ihre Thorheiten und die Fehler ihrer Männer zu verewigen? – Ich bedaure meinen seligen Schwiegervater, er mag in guten Händen gewesen seyn! – Mir möchte meine Jukunde mit solchen Dingen kommen. Ein jeder nehme sich das Beste aus diesem Geschreibsel, so wie auch ich gethan habe.
270 Seiten, 13.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.
428 Seiten, 16.80 Euro