[282] 68. Das Lebenswasser des Ka-ne

In uralten Zeiten lebte einmal auf Hawaii ein König, der war sehr krank. Alle seine Freunde dachten, daß er nun sterben müsse. Seine Familie versammelte sich im Vorraum des Gehöftes, wo der kranke Mann lag; und seine drei Söhne weinten bitterlich, weil sie so großen Kummer tragen mußten.

Da kam ein fremder, alter Mann vorüber und fragte sie, warum sie so traurig wären. Und einer von den Jünglingen antwortete: »Unser Vater liegt hier im Hause und ist todkrank.«

Der alte Mann sah über den Zaun hinweg und sagte bedächtig: »Ich weiß, was euren Vater schon wieder gesund machen würde. Er muß das Lebenswasser des Ka-ne trinken. Leider kann man das nur sehr schwer finden und ebenso schwierig erhalten.«

Der alte Mann ging fort, und der Alteste sprach: »Ich werde das Lebenswasser schon finden; dann bin ich Vaters Liebling und werde das Königreich erhalten.« Er lief zum Vater und bat ihn um die Erlaubnis, das Wasser suchen zu dürfen.

Der kranke König antwortete: »Nein, das ist zu schwierig und lebensgefährlich. Da ist es besser für mich, hier zu sterben.« Doch der junge Prinz bat seinen Vater so inständig und lange, bis er ihn ziehen ließ.

Der Prinz nahm seine Wasserkalabasse und eilte fort; doch die Reise dauerte lange, und er fand kein Wasser, welches wiederum Leben verlieh. Als er durch einen Wald wanderte, trat ihm plötzlich ein kleiner häßlicher Mann, ein a-a, ein [282] Zwerg, in den Weg und rief: »Wohin gehst du so eilig?« Der Prinz antwortete barsch: »Geht das dich etwas an? Das brauche ich dir nicht zu sagen.« Und er stieß das Männlein beiseite und eilte weiter.

Da wurde der Zwerg sehr böse und beschloß den unfreundlichen Wanderer zu bestrafen. Mit einemmal wurde der Weg zu tausend Windungen verschlungen und schmaler und enger, je weiter der Prinz auf ihm entlangzog. Immer dichter drängten sich die Bäume, dazwischen schlangen sich Lianen und wanden sich Farne. Schließlich fiel er zu Boden, kroch durch das Wirrwarr der Farnkräuter und kämpfte einen verzweifelten Kampf mit den ihn fest umschließenden Lianen des Feen- und Zwergenlandes. Sie wickelten sich ihm um den Leib, Arme und Beine – er blieb wie tot in ihnen hängen.

Zu Hause wartete man auf ihn lange Zeit, und als er nicht wiederkam, glaubte man, daß ihm etwas zugestoßen sei. Da sagte der zweite Sohn, nun wolle er ausziehen und das Lebenswasser suchen. Er nahm seine Wasserkalabasse und ging denselben Weg wie sein Bruder. Er meinte, er würde jetzt das Lebenswasser finden und der Wunsch seines Bruders, das Königreich zu erhalten, bei ihm in Erfüllung gehen.

Als er des Weges ging, traf er dasselbe Männlein, das in Wirklichkeit der König des Feenreiches war, obschon er als Zwerg erschien. Das Männlein rief: »Wohin gehst du so eilig?«

Der Prinz gab ihm eine barsche Antwort, stieß ihn vom Wege und lief weiter. Bald darauf gelangte er in den Zauberwald und wurde dort ebenso wie sein Bruder von den Lianen verstrickt und gefangen.

Schließlich zog der Jüngste aus, nahm seine Wasserkalabasse und wollte seine Brüder suchen, sie befreien und für den Vater das Lebenswasser holen. Er traf dasselbe Männlein. Es fragte ihn, wohin er ginge. Da erzählte er dem Zwerge von der Krankheit des Königs und der Wirkung des Lebenswasser [283] von Ka-ne, und er fragte ihn, ob er ihm nicht behilflich sein könnte, dies Wasser zu beschaffen. »Denn mein Vater ist todkrank,« sagte der Prinz, »nur das Lebenswasser kann ihn gesund machen, und ich weiß nicht den Weg.«

Das Männlein antwortete: »Weil du mir alles so freundlich erzählt und mich um Hilfe gebeten hast, und weil du nicht so ungezogen und barsch warst wie deine Brüder, will ich dir den Weg zeigen und dir helfen. Vor diesem Stab wird sich dir der Weg öffnen. Und nach einiger Zeit wirst du dann an das Haus eines Königs kommen. Der ist ein Zauberer. In seinem Hause ist die Quelle des Lebenswassers. Aber nur mit diesen drei Päckchen mit Nahrungsmitteln, die ich dir jetzt gebe, kannst du in das Haus gelangen. Nimm diese Päckchen in die eine und den Stab in die andere Hand. Und wenn du an das Haustor des Königs kommst, klopfe dreimal mit dem Stab dagegen, dann wird es sich dir öffnen. Du wirst zwei Drachen sehen, welche dich verschlingen wollen. Wirf ihnen schnell die Päckchen in den Rachen, dann sind sie ruhig. Fülle deine Kalabasse mit dem Lebenswasser und eile fort. Denn um Mitternacht sind alle Tore, alle Öffnungen fest verschlossen, und du kannst nicht herauskommen.«

Der Prinz bedankte sich bei dem Männlein, nahm die Geschenke und zog fröhlich weiter. Nach langer Zeit kam er in ein fremdes Land und zum Hause des Zauberer-Königs. Er klopfte dreimal, die Mauer zerbrach und es öffnete sich ihm eine Tür. Er sah die Drachen, warf ihnen die Päckchen in den Rachen, und sie wurden seine Freunde. Er trat ein und begegnete einigen jungen Häuptlingen, die begrüßten ihn und schenkten ihm eine Kriegskeule und ein Bündel mit Essen. Dann gelangte er in ein anderes Zimmer. Dort traf er ein wunderschönes Mädchen, das ihn sofort in ihr Herz schloß. Sie schaute ihm in die Augen und sagte, nach einer Weile würden sie sich wiedersehen, um dann als Mann und Frau zusammen zu leben. Darauf zeigte sie ihm, wo er das [284] Lebenswasser bekommen konnte. Sie ermahnte ihn, sich recht zu beeilen. Er füllte die Kalabasse an der Quelle und lief durch das Tor, gerade als die Mitternacht eintrat.

Voller Freude eilte er nun von einem Land zum andern und von einem Meer zum andern und sah überall nach dem Männlein, dem a-a, aus, welches ihm so brav geholfen hatte. Als ob es seinen Wunsch geahnt hätte, stand plötzlich das Männlein vor ihm und fragte, wie es ihm denn auf der Reise ergangen wäre. Der Prinz erzählte ihm von dem weiten Weg, dem Erfolg, und wollte es nun dafür entlohnen, weil es ihm so schön geholfen hatte.

Der Zwerg wies jedoch jegliche Belohnung zurück. Da sagte der Prinz, ob er so kühn sein dürfte und noch eine Gunst von ihm verlangen. Das Männlein antwortete: »Du bist nett, freundlich und ehrerbietig gegen mich gewesen, bitte, und vielleicht kann ich dir deinen Wunsch erfüllen.«

Der Prinz sagte: »Ich möchte nicht ohne meine Brüder nach Hause kommen; kannst du mir helfen und sie finden?« – »Die liegen tot im Walde,« sprach der Zwerg, »wenn du sie findest, werden sie dir nur Leid antun. Laß sie nur zwischen den Farnen und Lianen ruhen; sie haben böse Herzen.« Doch der Prinz bat so inständig, daß der Zwerg ihm schließlich den verschlungenen Pfad durch die Wälder zeigte. Mit dem Zauberstab eröffnete er sich den Weg und fand seine Brüder. Er besprengte sie ein bißchen mit dem Lebenswasser, und sofort erwachten sie wieder zum Leben und bekamen wieder Kräfte. Er erzählte ihnen, wie er »das Lebenswasser des Ka-ne« gefunden, was für Geschenke er erhalten hatte, und wie er zu einer schönen Braut gekommen war. Da vergaßen die Brüder ihren langen Todesschlaf und wurden neidisch und ärgerlich auf die Erfolge ihres jüngeren Bruders.

Sie hatten noch einen weiten Weg bis nach Hause. Unterwegs kamen sie durch ein fremdes Land, wo der Oberhäuptling im Kriege lag gegen viele aufständische Untertanen. Das Land war verwüstet und die Menschen litten Not. Dem Prinzen taten der Oberhäuptling und seine Getreuen leid; [285] er gab ihnen von dem Essen aus dem Hause des Gottes Ka-ne. Sie genossen es und wurden wieder stark und kräftig. Dann lieh er dem Oberhäuptling die Kriegskeule. Schnell wurden da die Aufständischen zerstreut, und das Land hatte wieder Ruhe und Frieden.

Er half noch einem andern Häuptling im Kriege und befreite einen dritten aus seinen Schwierigkeiten, dann kam er schließlich mit seinen Brüdern an das heimatliche Gestade. Sie legten sich zum Schlafen nieder; aber die bösen Brüder, die wußten, daß nun keine Gefahren mehr drohten, wo sie ihn benötigten, planten, ihn zu töten, doch die Zauberkeule verhinderte es. Sie nahmen jedoch seine Kalabasse mit dem Lebenswasser, füllten es in ihre eigenen, und gossen in seine schlechtes salziges Meerwasser. Am nächsten Morgen gingen sie heim. Der jüngste Prinz drängte sich mit seiner Kalabasse vor, gab sie dem Vater und sagte zu ihm, er solle trinken und wieder gesund werden. Der König trank gehörig von dem Salzwasser und wurde noch viel kränker. Da kamen die anderen beiden Brüder herbei und beschuldigten ihn, daß er den Vater habe vergiften wollen. Sie gaben ihm das echte Lebenswasser, und sogleich wurde er wieder gesund und fühlte sich so kräftig wie in seinen jungen Tagen.

Der König wurde sehr zornig auf seinen jüngsten Sohn und sandte ihn mit einem Manne fort, welcher die Wälder gut kannte. Der Mann war ein Freund des jungen Prinzen und brachte ihn in ein sicheres Versteck, wo er lange lebte.

Nach einiger Zeit kamen aus den verschiedenen Ländern die drei mächtigen Könige, um dem Prinzen viele Geschenke zu bringen, weil er ihnen so brav geholfen, Frieden und Wohlstand verschafft hatte. Sie sagten dem Vater, was für einen wunderbaren Sohn er hätte, und wollten sich bei ihm bedanken. Der Vater rief den Mann herbei, den er mit dem jüngsten Sohn fortgeschickt hatte, und sah sein Unrecht ein. Als der Mann ihm berichtete, daß der Prinz nicht tot wäre, sandte er Boten aus, die ihn holen sollten.

[286] Inzwischen hatte die schönste Prinzessin der Welt überall die Kunde verbreiten lassen, daß sie sich in ihrem Hause hinsetzen würde, und der Prinz, welcher geradeswegs entlang einer Linie, die ihre Zauberer durch die Luft gezogen hatten, auf sie zugehen würde, ohne nach links oder rechts blicken zu müssen, der solle ihr Gemahl sein. Es wurde ein besonderer Tag dafür festgesetzt.

Die Boten, welche der König ausgesandt hatte, um den Prinzen zu holen, wußten auch von der Kunde und erzählten ihm davon, als sie ihn gefunden hatten. Da eilte er auf Flügeln der Liebe in das Land des schönen Mädchens. Seinen Brüdern waren die sorgfältigsten Bemühungen mißglückt; doch der junge Prinz folgte dem Zug seines Herzens und ging geradeaus auf eine Tür zu, welche sich ihm von selbst öffnete. Jetzt lief aus dem Hause das Mädchen aus dem Lande des Ka-ne, es eilte ihm in die Arme und schickte seine Bedienten überallhin, um laut zu verkünden, daß es seinen Gemahl gefunden hätte.

Die beiden Brüder wanderten in fremde Länder aus und kehrten nie wieder zurück. Der Prinz und die Prinzessin wurden König und Königin. Sie lebten glücklich und zufrieden und regierten das Königreich zum Wohl ihrer Untertanen.

Quelle:
Hambruch, Paul: Südseemärchen. Jena: Eugen Diederich, 1916, S. 282-287.
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