[277] 67. Der Häuptling mit den wunderbaren Dienern

Vor vielen, vielen Jahren lebte einmal auf der Insel Oahu ein Häuptling. Der wollte seine Länder bereisen und sehen, wie es auf ihnen stände. Er war damit so zufrieden, daß er sie nicht genug preisen konnte – als ihm ein anderer Reisender begegnete. Der Mann antwortete: »Ich kann die Lande von Wakea und Papa sehen, und die sind noch größer und prächtiger als deine schönsten Lande.« Da beschlossen sie, zusammen loszuziehen und das Wunderland der Götter zu suchen.

Bald darauf trafen sie einen Mann, der stand am Wege. Der Häuptling fragte ihn, was er täte. Der Mann antwortete: »Ich bin Mama-loa, der Schnelle. Ich warte darauf, daß die Sonne aufgeht, dann will ich laufen und sie einfangen.« [277] Sie warteten nun, bis die Sonne heraufkam und sich über der Insel erheben wollte. Da eilte der Mann schnell auf sie zu, fing sie, fesselte sie und behielt sie einige Zeit als seine Gefangene.

Die drei wanderten weiter – der Häuptling Ikai-loa, der Starke, der Mann Ike-loa, der Fernseher, und Mama-loa, der Schnelle. Nach einer kleinen Weile bemerkten sie zwei Leute, die waren am Wege eingeschlafen. Der eine zitterte vor Kälte; er hieß Kanaka- make-anu, der Mann, welcher in der Kälte stirbt. Der andere glühte, wie wenn er über einem Feuer säße; er hieß Kanaka-make-wela, der Mann, welcher im Feuer stirbt. Sie wärmten und kühlten sich gegenseitig; und alle zogen zusammen weiter.

Sie kamen nach einem Platze, wo ein Mann sehr geschickt mit Pfeil und Bogen Ratten erlegte. Er hieß Pana-pololei, der Scharfschütze. Sie forderten ihn auf, doch mit ihnen ins Land von Wakea und Papa zu ziehen; da schloß er sich ihnen an. Nach einer Weile trafen sie einen Mann, der lag auf dem Wege und hielt das Ohr an den Boden. Der Häuptling fragte ihn: »Was machst du da?« Er schaute auf und antwortete: »Ich habe mir die Zänkereien zwischen Papa und Wakea angehört.« Diese beiden Ahnen der Hawaii-Leute hatten nämlich einen berühmten Streit und trennten sich darauf für immer. Der Mann, welcher die harschen Worte der beiden belauschte, hieß Hoolohe-loa, der Horcher.

Nun reisten sie zusammen weiter und kamen schließlich in ein Land, das schöner war, als sie je eins gesehen hatten. Und die Sage erzählt, daß eins der Häuser von Wakea und Papa in der wunderschönen Landschaft um das Nuuanu-Tal und Honolulu lag.

Der Hüter sah die sechs feinen Gesellen nahen; der siebente übertraf sie aber bei weitem in allem. Schnell wurde Kunde von dem Besuch der Fremden an die Königin gesandt, welche das Land unter Wakea und Papa beherrschte. Sie befahl dem Anführer ihrer Krieger, die Fremdlinge einzuholen und nach ihrem Hause zu bringen. Dort sorgte man für Kurzweil. [278] Während sie schliefen, versammelte die Königin ihre Untertanen, und der ganze Hofraum war dicht gedrängt voll von Leuten.

Am Morgen sagte der Häuptling Ikai-loa zur Königin: »Ich habe gehört, du gibst schwere Rätsel auf. Wenn ich deine Rätsel löse, sollst du meine Frau werden.« Die Königin war damit einverstanden; sie führte ihn aus dem Hause hinaus und sprach: »Mein jetziger Mann steht vor der Tür des Hauses von Wakea und Papa; wo befindet sich die Tür des Hauses?« Der Häuptling wandte sich zu Ike-loa und fragte ihn heimlich, ob er die Tür zu Papas Haus sehen könne. Der sah sich in der Runde um und sagte schließlich: »Die Tür zum Hause befindet sich dort an der Wurzel des großen Baumes. Bist du stark genug, so breche den Baum ab, dann kannst du die Tür finden, denn sie liegt in einer der Wurzeln.«

Da ging der Häuptling zum Baum hin, riß die Rinde herunter, zersplitterte das Holz und öffnete die Tür.

Darauf sagte die Königin: »Wir haben drei Hunde. Einer gehört dem höchsten Herrscher Wakea; der andere seiner Frau Papa; und der dritte mir. Kannst du mir die Hunde einzeln bezeichnen, die jedem gehören?«

Der Häuptling flüsterte seinem Diener Hoo-lohe-loa ins Ohr: »Lausche und merke dir die Namen der Hunde.« Da legte der Mann, welcher so gut hören konnte, sein Ohr an den Boden und hörte, wie Papa zu ihren Dienern sagte: »Papas schwarzer Hund soll zuerst hinaus, dann der rote Hund; und der weiße Hund der Königin soll zuletzt gehen.« So erfuhr der Häuptling, wie er die Hunde benennen mußte.

Als der schwarze Hund zur Tür herauslief, rief der Häuptling: »Da ist ja der schwarze Hund von Papa!«

Und wie nun der rote Hund ihm folgte, sagte er: »Das ist der rote Hund von Wakea.«

Dann kam der weiße Hund, und der Häuptling sprach: »Der weiße Hund gehört uns, Königin.«

Hierauf traf man Vorbereitungen zu einem großen Feste. [279] Die Königin sagte: »Uns fehlt noch Frischwasser, und die Quelle ist sehr weit von hier. Schick' doch einen der Leute, ich sende eine Frau fort; jeder soll eine Kalabasse mitnehmen; und wenn dein Bote als Erster zurückkommt, wollen wir heiraten.«

Der Häuptling gab dem Mama-loa eine Kalabasse. Er machte sich fertig, und die Frau stellte sich mit ihrer Kalabasse neben ihm auf.

Auf ein Zeichen hin begannen beide den Wettlauf. Der Mann lief geschwind und meinte, niemand von all den Leuten wäre so flink wie er; doch die Frau überholte ihn, und er blieb weit hinter ihr zurück.

Der Häuptling rief Pana-pololei, den Scharfschützen, herbei und sagte ihm, er möge jetzt einmal seine Geschicklichkeit beweisen. Der nahm seinen Bogen, legte einen Pfeil auf und schoß. Der Pfeil flog weit, weit weg und schwirrte gerade am Hinterkopf der Frau vorüber. Sie erschrak sich so sehr darüber, daß sie stolperte und zu Boden fiel; und der Mann lief an ihr vorüber.

Nach einer Weile sagte der Häuptling zu Ike-loa, dem Fernseher: »Wie steht es jetzt?« Der Diener antwortete: »Die Frau gewinnt.« Der Häuptling sprach zum Scharfschützen: »Hast du wohl noch einen Pfeil?« Und wiederum sauste ein Pfeil hinter den Schnelläufern her. Er streifte den Rücken der Frau, und sie fiel hin. Mama-loa lief an ihr vorüber, gelangte zur Quelle, füllte seine Kalabasse und rannte zurück. Aber die Frau war nicht säumig, sie tauchte ihre Kalabasse ins Wasser, machte kehrt und hatte den Mann bald überholt. Wiederum wurde ein Pfeil abgesandt, der die Frau so am Kopfe berührte, daß sie nach vorn taumelte, ihre Kalabasse zerbrach, und sie verschüttete das Wasser. Sie stand wieder auf, sah, daß sie noch ein wenig Wasser übrigbehalten hatte, und eilte hinter dem Mann her, der sie inzwischen überholt hatte. »O, wie sie rennt! Sie fliegt ja nur so an dem Mann vorüber, und gleich hat der Wettlauf ein Ende!«

[280] Da rief der Häuptling seinem Schützen zu: »O, Pana-pololei! Hast du wohl noch einen Pfeil?« Der Scharfschütze sandte einen stumpfen Pfeil ab. Der prallte an der Brust der Frau ab; sie fiel ganz außer Atem hin und verlor den letzten Rest Wasser aus ihrer zerbrochenen Kalabasse.

Der Häuptling nahm seinem Mann die Kalabasse aus der Hand, goß das Wasser in eine Kokosschale und gab es der Königin zu trinken. Als die Frau herbeikam, fragte die Königin sie nach der Ursache ihres Mißgeschicks. Die Frau antwortete: »Ich überholte den Mann, doch da traf mich etwas, und ich fiel hin. Das wiederholte sich mehrmals, aber niemals sah ich etwas. Zum Schluß fiel ich wieder hin, die Kalabasse zerbrach, das Wasser wurde verschüttet, und der Mann dort hat den Wettlauf gewonnen.«

Inzwischen hänselten die anderen Diener des Häuptlings den Mama-loa. Er fragte sie: »Weshalb lacht ihr mich aus? Ich habe doch gesiegt.«

Da lachten sie noch unbändiger und sagten: »Haha! Wenn wir dir nicht geholfen hätten, würdest du verloren haben.« Darauf erzählten sie ihm, wie der Fernseher auf ihn aufgepaßt und der Scharfschütze ihm mit seinen Pfeilen geholfen hätte.

Die Königin sagte aber zum Häuptling, daß er noch eine Aufgabe lösen müßte; dann wollten sie auch wirklich heiraten.

Sie sagte: »In diesem Lande gibt es einen sehr heißen und einen sehr kalten Ort. Wenn du dahin zwei Leute schicken kannst, die dort leben können, dann wollen wir heiraten.«

Da sprach der Häuptling zu Kanaka-make-anu: »Du stirbst in der Kälte, dann wird der heiße Ort der Königin wohl für dich am besten zum Leben sein.« Und Kanaka-make-wela, der unter der Hitze litt, bat er, sich an den kalten Platz zu begeben. Die beiden Diener antworteten: »Wohlan, wir gehen; aber wir kommen nie wieder zurück, denn die beiden Orte sind für uns zum Leben am allerbesten geeignet.«

[281] Nun gab es keine Aufgaben mehr zu lösen. Der Häuptling heiratete die Königin, und beide lebten herrlich und in Freuden im schönen Lande der Götter.

Quelle:
Hambruch, Paul: Südseemärchen. Jena: Eugen Diederich, 1916, S. 277-282.
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