[207] 68. Wie ein Waisenknabe unverhofft sein Glück fand

[207] Einmal lebte ein armer Tagelöhner, der sich mit seiner Frau kümmerlich von einem Tage zum andern durchbrachte. Von drei Kindern war ihnen das jüngste, ein Sohn, geblieben, der neun Jahre alt war, als man erst den Vater und dann die Mutter begrub. Dem Knaben blieb nichts übrig, als vor den Türen guter Menschen sein Brot zu suchen. Nach Jahresfrist geriet er auf den Hof eines wohlhabenden Bauerwirts, wo man gerade einen Hüterknaben brauchte. Der Wirt war nicht eben böse, aber das Weib hatte die Hosen an und regierte im Hause wie ein böser Drache. Wie es dem armen Waisenknaben da erging, läßt sich denken. Die Prügel, die er alle Tage bekam, wären dreimal mehr als genug gewesen, Brot aber wurde nie soviel gereicht, daß er satt geworden wäre. Da aber das Waisenkind nichts Besseres zu hoffen hatte, mußte es sein Elend ertragen. Zum Unglück verlor sich eines Tages eine Kuh von der Herde; zwar lief der Knabe bis Sonnenuntergang den Wald entlang, aber er fand die verlorene Kuh nicht wieder. Obwohl er wußte, was seinem Rücken zu Hause bevorstand, mußte er doch jetzt nach Sonnenuntergang die Herde zusammentreiben. Die Sonne war noch nicht lange unter dem Horizont, da hörte er schon der Wirtin Stimme: »Fauler Hund! Wo bleibst du mit der Herde?« Da half kein Zaudern, nur rasch nach Hause unter den Stock. Zwar dämmerte es schon, als die Herde zur Pforte hereinkam, aber das scharfe Auge der Wirtin hatte sogleich entdeckt, daß eine Kuh fehlte. Ohne ein Wort zu sagen, riß sie den nächsten Staken aus dem Zaun und begann damit den Rücken des Knaben zu bearbeiten, als wollte sie ihn zu Brei stampfen. In der Wut hätte sie ihn auch zu Tode geprügelt oder ihn zeitlebens zum Krüppel gemacht, wenn der Wirt, der das Schreien und Schluchzen hörte, dem Armen nicht mitleidig zu Hilfe gekommen wäre. Da er die Gemütsart seines Weibes kannte, so wollte er sich nicht geradezu dazwischenlegen, sondern suchte zu vermitteln und sagte: »Brich ihm lieber die Beine nicht entzwei, damit er doch die verlorene Kuh suchen [208] kann. Davon werden wir mehr Nutzen haben, als wenn er umkommt.« – »Das ist wahr«, sagte die Wirtin, »das Aas kann auch die teure Kuh nicht ersetzen«, zählte ihm noch ein Paar tüchtige Hiebe auf und schickte ihn dann fort, die Kuh zu suchen. »Wenn du ohne die Kuh zurückkommst, so schlage ich dich tot.«

Weinend ging der Knabe zur Pforte hinaus und geradenwegs in den Wald, wo er am Tage mit der Herde gewesen war, suchte die ganze Nacht, fand aber nirgends eine Spur von der Kuh. Als am andern Morgen die Sonne sich erhoben hatte, war des Knaben Entschluß gefaßt. ›Werde aus mir, was da wolle, nach Hause gehe ich nicht.‹ Und er lief in einem Atem vorwärts, so daß er das Haus bald weit hinter sich hatte. Zuletzt ging ihm aber die Kraft aus, und er fiel wie tot nieder. Als er aus einem langen, schweren Schlafe erwachte, kam es ihm vor, als ob er etwas Flüssiges im Munde gehabt habe, und er sah einen kleinen, alten Mann mit langem, grauem Barte vor sich stehen, der eben im Begriffe war, den Spund wieder auf sein Milchfäßchen zu setzen. »Gib mir noch zu trinken!« bat der Knabe. »Für heute hast du genug«, erwiderte der Alte, »wenn mein Weg mich nicht zufällig hierhergeführt hätte, so wäre es sicher dein letzter Schlaf gewesen, denn als dich fand, warst du schon halbtot.« Dann befragte der Alte den Knaben, wer er sei und wohin er wolle. Der Knabe erzählte alles, was er erlebt hatte, solange er sich erinnern konnte, bis zu den Schlägen von gestern abend. Da sagte der Alte: »Mein liebes Kind! Dir ist es nicht besser noch schlimmer ergangen als so manchen, deren liebe Pfleger und Tröster im Sarge unter der Erde ruhen. Zurückkehren kannst du nicht mehr. Da du einmal fortgegangen bist, so mußt du dir ein neues Glück in der Welt suchen. Da ich weder Haus noch Hof, weder Weib noch Kind habe, so kann ich auch nicht weiter für dich sorgen, aber einen guten Rat will ich dir um sonst geben. Schlaf diese Nacht hier ruhig aus; wenn morgen die Sonne aufgeht, so merk dir genau die Stelle, wo sie emporstieg. In dieser Richtung mußt du wandern, so daß dir die Sonne jeden Morgen ins Gesicht und jeden Abend in den Nacken scheint. Deine Kraft wird von Tage zu Tage wachsen. Nach sieben Jahren wird ein mächtiger Berg [209] vor dir stehen, der so hoch ist, daß sein Gipfel bis an die Wolken reicht. Dort wirst du dein künftiges Glück finden. Nimm meinen Brotsack und mein Fäßchen, du wirst darin täglich soviel Speise und Trank finden, als du bedarfst. Aber hüte dich davor, jemals ein Krümchen Brot oder ein Tröpfchen vom Trank unnütz zu vergeuden, sonst könnte deine Nahrungsquelle leicht versiegen. Einem hungrigen Vogel und einem durstigen Tiere darfst du reichlich geben: Gott sieht es gern, wenn ein Geschöpf dem andern Gutes tut. Auf dem Grunde des Brotsacks wirst du ein zusammengerolltes Klettenblatt finden; das mußt du sehr sorgfältig in acht nehmen. Wenn du auf deinem Wege an einen Fluß oder See kommst, so breite das Klettenblatt auf dem Wasser aus, es wird sich sofort in einen Nachen verwandeln und dich über die Flut tragen. Dann wickle das Blatt wieder zusammen und steck es in deinen Brotsack.« Nach dieser Unterweisung gab er dem Knaben Sack und Fäßchen und rief: »Gott befohlen!« Im nächsten Augenblick war er den Augen des Knaben entschwunden.

Der Knabe hätte alles für einen Traum gehalten, wenn nicht Sack und Fäßchen in seiner Hand gewesen wären. Er prüfte den Brotsack und fand darin ein halbes Brot, ein Schächtelchen voll gesalzener Strömlinge, ein anderes mit Butter und dazu noch ein Stück Speckschwarte. Als der Knabe sich satt gegessen hatte, legte er sich schlafen, Sack und Fäßchen unter dem Kopfe, damit kein Dieb sie wegnehmen könne. Den andern Morgen wachte er mit der Sonne auf, stärkte sich durch Speise und Trank und machte sich dann auf die Wanderung. Wunderbarerweise fühlte er gar keine Müdigkeit in seinen Beinen; erst der leere Magen mahnte ihn daran, daß die Mittagszeit gekommen war. Er sättigte sich mit der guten Kost, tat ein Schläfchen und wanderte weiter. Daß er den rechten Weg eingeschlagen hatte, sagte ihm die untergehende Sonne, die ihm gerade im Nacken stand. So war er viele Tage in derselben Richtung vorwärtsgegangen, als er einen kleinen See vor sich erblickte. Hier konnte er die Kraft seines Klettenblattes prüfen. Wie es der alte Mann vorausgesagt hatte, so geschah es: ein kleines Boot mit Rudern lag vor ihm auf dem Wasser. Er stieg ein, und ein paar tüchtige Ruderschläge [210] führten ihn ans andere Ufer. Dort verwandelte sich das Boot wieder in ein Klettenblatt, und dieses ward in den Sack gesteckt.

So war der Knabe schon manches Jahr gewandert, ohne daß die Nahrung im Brotsack und im Fäßchen abgenommen hätte. Sieben Jahre konnten verstrichen sein, denn er war zu einem kräftigen Jüngling herangewachsen; da sah er eines Tages von weitem einen hohen Berg, der bis in die Wolken hineinzuragen schien. Es verging aber noch eine Woche, eh er den Berg erreichte. Dann setzte er sich am Fuße des Berges nieder, um auszuruhen und zu sehen, ob die Prophezeiungen des alten Mannes in Erfüllung gehen würden. Er hatte noch nicht lange gesessen, als ein Zischen sein Ohr berührte; gleich darauf wurde eine große Schlange sichtbar, welche mindestens zwölf Klafter lang war und sich dicht bei dem jungen Manne vorbeiwand. Schrecken lähmte seine Glieder, so daß er nicht fliehen konnte; aber im Nu war auch die Schlange vorüber. Dann blieb ein Weilchen alles still. Darauf schien es ihm, als käme aus der Ferne ein schwerer Körper in Sätzen herangehüpft. Es war eine große Kröte, so groß wie ein zweijähriges Füllen. Auch dieses häßliche Geschöpf zog an dem Jüngling vorüber, ohne ihn gewahr zu werden. Sodann vernahm er in der Höhe ein starkes Rauschen, als wenn ein schweres Gewitter sich erhebe. Als er hinaufsah, flog hoch über seinem Haupte ein großer Adler in derselben Richtung wie vorher die Schlange und die Kröte. ›Das sind wunderbare Dinge, die mir Glück bringen sollen!‹ dachte der Jüngling. Da sieht er plötzlich einen Mann auf einem schwarzen Pferde auf sich zukommen. Das Pferd schien Flügel an den Füßen zu haben, denn es flog mit Windesschnelle. Als der Mann den Jüngling am Berge sitzen sah, hielt er sein Pferd an und fragte: »Wer ist hier vorübergekommen?« Der Jüngling erwiderte: »Erstens eine große Schlange, wohl zwölf Klafter lang, dann eine große Kröte von der Größe eines zweijährigen Füllens und endlich ein großer Adler hoch über meinem Kopfe, und sein Flügelschlag rauschte wie ein Gewitter daher.« – »Du hast recht gesehen«, sagte der Fremde, »es sind meine schlimmsten Feinde, und ich jage ihnen [211] nach. Dich könnte ich in meinem Dienste brauchen. Klettre über den Berg, so kommst du gerade in mein Haus. Ich werde dort mit dir zugleich anlangen, wenn nicht noch früher.« Der junge Mann versprach zu kommen, worauf der Fremde wie der Wind davon ritt.

Es war nicht leicht, den Berg zu erklimmen. Der Wanderer brauchte drei Tage, eh er den Gipfel erreichte, und dann wieder drei Tage, bis er auf der andern Seite an den Fuß des Berges gelangte. Der Wirt stand schon vor seinem Hause und erzählte, daß er Schlange und Kröte glücklich erschlagen habe, des Adlers aber nicht habhaft geworden sei. Dann fragte er den jungen Mann, ob er Lust habe, als Knecht bei ihm einzutreten. »Gutes Essen bekommst du täglich, soviel du willst, und auch mit dem Lohne will ich nicht geizen, wenn du dein Amt getreulich verwaltest.« Der Vertrag wurde abgeschlossen, und der Wirt führte den neuen Knecht im Hause umher und zeigte ihm, was er zu tun habe. Es war dort ein Keller im Felsen angebracht und durch dreifache Eisentüren verschlossen. »In diesem Keller sind meine bösen Hunde angekettet«, sagte der Wirt, »du mußt dafür sorgen, daß sie sich nicht unterhalb der Tür mit den Pfoten herausgraben. Denn wisse: wenn auch nur einer dieser Hunde frei würde, so wäre es nicht mehr möglich, die beiden anderen festzuhalten, sondern sie würden nacheinander dem Führer folgen und alles Lebendige auf Erden vertilgen. Wenn endlich der letzte Hund ausbräche, so wäre das Ende der Welt da, und die Sonne hätte zum letzten Male geschienen.« Darauf führte er den Knecht an einen Berg, den Gott nicht geschaffen hatte, sondern der von Menschenhänden aus mächtigen Felsblöcken aufgetürmt war. »Diese Steine«, sagte der Wirt, »sind deswegen zusammengetragen, damit immer wieder ein neuer Stein hingewälzt werden kann, sooft die Hunde ein Loch ausgraben. Die Ochsen, welche den Stein führen sollen, will ich dir im Stalle zeigen und dir auch alles übrige mitteilen, was du dabei zu beobachten hast.« Im Stalle fanden sie an hundert schwarze Ochsen, deren jeder sieben Hörner hatte; sie waren reichlich zweimal so groß wie die größten Ukrainer Ochsen. »Sechs Paar Ochsen vor die Steinfuhre [212] gespannt, führen einen Stein mit Leichtigkeit hinweg. Ich werde dir eine Brechstange geben, wenn du den Stein damit berührst, rollt er von selbst auf den Wagen. Du siehst, deine Arbeit ist so mühsam nicht, desto größer muß deine Wachsamkeit sein. Dreimal bei Tage und einmal bei Nacht mußt du nach der Tür sehen, damit kein Unglück geschieht, der Schade könnte sonst größer sein, als du vor mir verantworten könntest.«

Bald hatte der Jüngling alles begriffen, und sein neues Amt war ganz nach seinem Sinne: alle Tage das beste Essen und Trinken, wie es ein Mensch nur begehren konnte. Nach zwei bis drei Monaten hatten die Hunde ein Loch unter der Tür gekratzt, groß genug, um die Schnauze durchzustecken, aber sogleich wurde ein Stein davorgestemmt, und die Hunde mußten ihre Arbeit von neuem beginnen.

So waren viele Jahre verstrichen, und der Knecht hatte sich ein hübsches Stück Geld gesammelt. Da erwachte in ihm das Verlangen, einmal wieder unter andere Menschen zu kommen. War der Herr auch gut, so wurde dem Knecht doch die Zeit entsetzlich lang, zumal wenn den Herrn die Lust anwandelte, einen langen Schlaf zu halten. Dann schlief er immer sieben Wochen lang ohne Unterbrechung und ohne sich sehen zu lassen.

Wieder einmal war eine solche Schlaflaune über den Wirt gekommen, als eines Tages ein großer Adler sich auf dem Berge niederließ und so zu sprechen anhub: »Bist du nicht ein großer Tor, daß du dein schönes Leben für gute Kost hinopferst? Dein zusammengespartes Geld nützt dir nichts, denn es sind ja keine Menschen hier, die es brauchen. Nimm des Wirtes windschnelles Roß aus dem Stalle, bind ihm deinen Geldsack um den Hals, setz dich auf und reit in der Richtung fort, wo die Sonne untergeht, so kommst du nach wenigen Wochen wieder unter Menschen. Du mußt aber das Pferd an einer eisernen Kette festbinden, damit es nicht davonlaufen kann, sonst kehrt es zu seiner gewohnten Stätte zurück, und der Wirt kann kommen, um dich zu holen. Wenn er aber das Pferd nicht hat, so kann er nicht von der Stelle.« – »Wer soll denn hier die Hunde bewachen, wenn ich weggehe, während der Wirt schläft?« fragte der Knecht. »Ein [213] Tor bist du, und ein Tor bleibst du!« erwiderte der Adler. »Hast du denn noch nicht begriffen, daß der liebe Gott ihn dazu geschaffen hat, daß er die Höllenhunde bewache? Es ist reine Faulheit, daß er sieben Wochen schläft. Wenn er keinen fremden Knecht mehr hat, so wird er sich aufraffen und seines Amtes selber walten.«

Der Rat gefiel dem Knechte sehr. Er tat, wie der Adler gesagt hatte, nahm das Pferd, band ihm den Geldsack um, setzte sich auf und ritt davon. Noch war er gar nicht weit vom Berge, als er schon hinter sich den Wirt rufen hörte: »Halt an! Halt an! Geh in Gottes Namen mit deinem Gelde, aber laß mir mein Pferd.«

Der Knecht hörte nicht darauf, sondern ritt immer weiter, bis er nach einigen Wochen wieder zu sterblichen Menschen kam. Dort baute er sich ein hübsches Haus, freite ein junges Weib und lebte glücklich als reicher Mann. Wenn er nicht gestorben ist, so muß er noch heute leben; aber das windschnelle Roß ist schon längst verschieden.

Quelle:
Löwis of Menar, August von: Finnische und estnische Volksmärchen. Jena: Eugen Diederichs, 1922, S. 207-214.
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