[214] 69. Des Nebelberges König

Es waren einmal Dorfkinder auf Nachthütung im Walde, die Nacht war kalt und neblicht, so daß auch am Feuer die erstarrte Hand nicht mehr warm werden wollte. Da sagte eins der Mädchen, das einen aufgeweckten Geist hatte: »Ich will lieber ein Stück Weges laufen, das wird mir mehr Wärme geben als das Sitzen am Feuer.« Mit diesen Worten sprang es auf und lief davon. Die andern lachten hinter ihr her und sagten: »Sie wird wohl bald zurückkommen!« Aber der Flüchtling kam nicht wieder. Als die Morgenröte schon am Himmel stand, fingen sie an, das verschwundene Mädchen zu rufen, erhielten aber von keiner Seite her eine Antwort. Die Kinder meinten nun, sie müsse wohl ins Dorf gegangen sein. Als man aber heimkam, war die Vermißte nirgends zu finden. Die Eltern gingen in den Wald, ihre Tochter zu suchen; umsonst aber strichen sie über einen halben Tag lang von einem Flecke zum andern, sie fanden keine Spur von ihr. Da dachten sie mit [214] Schrecken daran, daß wilde Tiere das Mädchen getötet haben könnten. Sorgenvoll und betrübt gingen sie gegen Abend wieder nach Hause.

Das verlorengegangene Kind war schon eine Strecke weit von den übrigen abgekommen, als es an eine Bergspitze gelangte, auf der ein kleines Feuer brannte, weiter konnte es durch den dichten Nebel nichts sehen. Das Kind dachte, seine Gefährten seien da am Feuer, kletterte den Berg hinan und sah, daß ein graubärtiger, einäugiger Mann ausgestreckt am Feuer lag und es mit einem Eisenstecken schürte. Das Kind erschrak und wollte zurück, aber der Alte hatte es schon bemerkt und rief in strengem Tone: »Bleib stehen, oder ich werfe den Eisenstecken nach dir! Zwar habe ich nur ein einziges Auge, aber das ist ebenso sicher wie die Hand, so daß ich niemals mein Ziel verfehle!« Das Kind blieb zitternd stehen. Der Alte hieß es näher kommen, und als das Mädchen furchtsam zögerte, stand er auf, nahm es bei der Hand und sagte: »Komm und wärm dich!« Das Mädchen mußte nun wohl mitgehen. Der Alte nahm Weißbrot aus seinem Schultersack und gab es dem Kinde zu essen. Dann klopfte er mit dem Eisenstecken auf den Rasen, und alsbald standen zwei hübsche Mädchen am Feuer, als wären sie aus der Erde hervorgewachsen. Es dauerte nicht lange, so hatten sich die Kinder miteinander befreundet, spielten und trieben Kurzweil am Feuer, der Alte aber hatte das Auge geschlossen, als schliefe er.

Als die Morgenröte heraufstieg, trat ein altes Mütterchen heran und sprach zum Dorfkinde: »Heute mußt du bei unseren Kindern zu Gast bleiben und auch die nächste Nacht hier schlafen, dann schicke ich dich wieder nach Hause.« Obwohl sich nun das Dorfkind anfangs geängstigt hatte, so war es dort bald mit den andern Kindern so bekannt geworden, daß es weder Furcht noch Heimweh mehr empfand. Der Tag verging ihnen spielend, und abends wurden die Kinder miteinander zur Ruhe gelegt. Den andern Morgen aber kam ein junges Frauenzimmer und sprach zum Dorfkinde: »Du mußt heute nach Hause gehen, denn deine Eltern haben deinetwegen großen Kummer, sie glauben, du seist gestorben.« Mit diesen Worten führte sie das Kind an der Hand, [215] bis sie aus dem Walde herauskamen. Dann sagte die Führerin: »Von dem, was du gestern und die vorige Nacht gehört und gesehen hast, darfst du kein Wörtchen zu Hause reden, sage nur, du habest dich im Walde verirrt.« Darauf gab sie dem Kinde eine kleine silberne Spange und sagte: »Wenn dich die Lust anwandeln sollte, wieder einmal zu uns zu Gast zu kommen, so hauch nur auf diese Spange, so findest du schon den Weg zu uns!« Das Kind steckte die Spange in die Tasche und dachte auf dem Wege zum Dorfe daran, was wohl die Eltern von der Sache halten würden, da sie ihnen die Wahrheit nicht gestehen dürfe. In der Dorfgasse gingen zwei Männer an ihr vorüber, welche sie nicht kannte. Als sie in des Vaters Hoftor trat, schien ihr der Ort gänzlich fremd; wo vorher nichts gestanden hatte, da wuchsen jetzt Apfelbäume, an denen schöne Früchte hingen. Auch das Haus erschien ihr fremd. Da trat ein fremder Mann aus der Tür, schüttelte verwundert den Kopf und sagte, so daß das Mädchen auf dem Hofe es hörte: »Ein fremdes Dorfmädchen ist auf unserem Hofe.« Dem Mädchen erschien die Sache wie ein Traum, doch trat sie einige Schritte näher, bis sie an die Türschwelle kam. Als sie ins Zimmer hineinsah, erblickte sie den Vater, der auf der Ofenbank saß; eine fremde Frau und ein junger Mann saßen neben ihm, aber dem Vater waren Bart und Haupthaar ganz grau geworden. »Guten Morgen, Vater!« sagte die Tochter. »Wo ist die Mutter?« – »Die Mutter, die Mutter?« rief die fremde Frau. »Hilf Gott! Bist du der verlorenen Tiu Geist, oder bist du ein lebendiges Geschöpf wie wir? Ist es denn möglich, daß unser liebes Kind, das uns vor sieben Jahren starb, zum zweiten Male ins Leben zurückkommt?« Tiu konnte aus dieser Rede nicht klug werden. Da erhob sich die fremde Frau von der Bank, streifte Tius Hemdärmel auf, fand auf der Handwurzel eine kleine Brandnarbe und rief dann aus, das Mädchen umhalsend: »Unsere Tiu, unser für tot beweintes Kind, das vor sieben Jahren im Walde verlorenging.« – »Das kann ja nicht sein«, erwiderte Tiu, »ich bin nur eine Nacht und einen Tag von euch weggewesen, oder zwei Nächte und einen Tag.«

Jetzt gab es genug, sich zu wundern; Tiu sah nun deutlich, daß [216] sie länger weggewesen war, als sie glaubte, denn sie war jetzt schon größer als ihre Mutter, und Vater und Mutter waren gealtert. Gern hätte sie den Eltern erzählt, was ihr begegnet war, allein sie durfte ja nicht. Endlich sagte sie: »Ich hatte mich verirrt und war unter fremde Leute geraten.« Der Eltern Freude über ihr wiedergefundenes Kind war so groß, daß sie nicht weiter nachforschten, wo es denn gewesen sei.

Den andern Abend aber, als Vater und Mutter schlafen gegangen waren, ließ es der Tiu keine Ruhe mehr, sie zog die Spange aus der Tasche und hauchte darauf, um Auskunft darüber zu erlangen, was für ein wundersames Ereignis sich mit ihr zugetragen. Alsbald fand sie sich wieder am Feuer auf dem Berge, und auch der einäugige Alte war wieder da. »Lieber alter Vater«, bat Tiu, »gib mir Auskunft darüber, was mit mir vorgegangen ist.« Der Alte erwiderte lachend: »Plappern ist Weibersache!«, klopfte mit seinem Stecken auf den Rasen, und das junge Frauenzimmer, welches Tiu nach Hause geleitet und ihr die Spange geschenkt hatte, stand vor ihr. Sie nahm Tiu bei der Hand und führte sie einige Schritte vom Feuer weg; dort sagte sie: »Da du dir zu Hause nichts hast merken lassen, will ich dir mehr verraten. Der Alte am Feuer ist des Nebelberges König, die alte Mutter, welche du die erste Nacht gesehen hast, ist die Rasenmutter1, und wir sind die Töchter. Ich will dir jetzt eine noch schönere bunte Spange geben, sage zu Hause, du habest sie gefunden. Willst du uns sehen, so hauch nur wieder auf die Spange. Heute darf ich dir nichts weiter sagen, aber sei verschwiegen, so wirst du künftig mehr von uns zu hören bekommen. Jetzt geh nach Hause, ehe die Eltern aus dem Schlafe erwachen.« Als sie am Morgen erwachte, hielt sie das in der Nacht Geschehene für einen Traum, aber die schöne Spange auf ihrer Brust bewies ihr, daß sie nicht geträumt hatte. Indes war ihr das Leben im Dorfe so fremd geworden, daß sie häufig abends, wenn die Eltern schlafen gegangen waren, auf ihre Spange hauchte und sich dadurch, wie sie wünschte, auf den Nebelberg versetzte. [217] Am Tage war sie meist verdrießlich, weil sie sich nach ihrem nächtlichen Glücke sehnte und somit wenig Ruhe hatte. Als der Herbst kam, fanden sich viele Freier ein, aber sie wies sie ab; endlich vor Weihnacht wurde mit dem jungen Manne, welchen sie bei ihrer Rückkehr auf des Vaters Hofe gesehen hatte, Branntwein2 getrunken.

Der Bräutigam blieb als Schwiegersohn im Hause, denn die Eltern waren beide schon betagt.

Im nächsten Jahre brachte Tiu ein Töchterchen zur Welt, es war ein sehr schönes Kind, konnte aber doch der Mutter Herz nicht ausfüllen. Sie sehnte sich stets nach dem Nebelberge zurück und wäre gern hingezogen, wenn sie das Kind hätte allein lassen können. Als aber die Tochter sieben Jahre alt geworden war, kam eine Nacht, wo die Mutter ihr Verlangen nicht mehr zurückdrängen konnte, sie hauchte auf die Spange und sah sich auf den Nebelberg versetzt. Der Rasenmutter Töchter kamen ihr mit Freudengeschrei entgegen. »Warum bist du so lange weggeblieben?« fragten sie. Tiu sagte mit tränenden Augen, daß es ihr nicht möglich gewesen sei, zu kommen, wiewohl ihr Herz großes Verlangen danach getragen habe. »Des Nebelberges König muß uns helfen«, sagten darauf die Mädchen und baten Tiu, nach zwei Wochen wiederzukommen und ihr Töchterchen mitzubringen. Tiu versprach, es zu tun, wenn es möglich wäre.

Als aber die Zeit herangekommen war, schlief das Kind so ruhig an des Vaters Seite, daß die Frau nicht das Herz hatte, es mit sich zu nehmen, sie ging deshalb, indem sie sich der Spange bediente, allein. Der alte König des Nebelberges lag beim Scheine des Feuers am Boden und sagte, als er Tiu erblickte: »Du bist heute zur unglücklichen Stunde ohne dein Kind hergekommen, und es wird dir große Qual daraus erwachsen. Doch kannst du zu guter Letzt noch eine vergnügte Nacht feiern, ehe deine Leidenstage beginnen.« Bei diesen Worten klopfte er mit dem Eisenstecken auf den Rasen, und sofort erschienen der Rasenmutter Töchter, nahmen Tiu mit sich und feierten ein schönes Fest miteinander.

[218] Inzwischen war daheim der Mann erwacht, und als er die Frau nicht im Bette fand, stand er auf und suchte sie auf dem Hofe. Auch hier fand er keine Spur der Verschwundenen. Da entbrannte im Manne der Zorn, denn er glaubte, die Frau sei irgendwo auf bösen Wegen, darum legte er sich nicht wieder hin, sondern ging sofort zu einem Weisen des Dorfes, ihm den Fall zu erzählen und ihn um Rat zu fragen. Als der Weise sich aus einem Weinglase Aufschluß verschafft hatte, sagte er: »Mit deinem Weibe steht es nicht, wie es sein soll, sie geht des Nachts als Werwolf3 um und hat das gewiß schon lange getrieben, nur daß du es bis heute nicht bemerkt hast. Wenn sie nach Hause kommt, mußt du sie gleich vor Gericht stellen.«

Der Mann fand, als er nach Hause kam, die Frau an der Seite des Kindes ruhig im Bette schlafen, er weckte sie jedoch nicht, um sie über ihren nächtlichen Gang auszufragen, sondern ging vor Gericht, wie der Weise gewollt hatte. Die Frau wurde vorgefordert. Sie weigerte sich, Auskunft darüber zu geben, wo sie vergangene Nacht gewesen sei, wollte auch nicht gestehen, wo sie früher als Kind sieben Jahre lang sich verborgen gehalten, und sagte nur: »Meine Seele ist schuldlos, mehr kann ich nicht sagen.«

Auch später wollte sie ihr Geheimnis nicht verraten, so daß endlich der Spruch gefällt wurde: das Weib ist ein Werwolf, eine Hexe und Übeltäterin, deshalb muß sie den Feuertod sterben. Es wurde dann ein großer Scheiterhaufen errichtet, an welchen man das arme Weib festband, worauf er angezündet wurde. Als aber die Flamme eben aufloderte, fiel so dichter Nebel, daß man die Hand vor den Augen nicht sehen konnte. Als später die Sonnenstrahlen den Nebel aufsogen, fand man den Scheiterhaufen noch unversehrt, das Weib aber war nirgends zu finden, es war, als ob sie im Nebel zerflossen wäre. – Des Nebelberges König hatte sie gerettet.

Wiewohl nun Tiu jetzt auf dem Nebelberge gute Tage hatte, so fand ihr Herz doch keinen Frieden, sondern sehnte sich nach dem zurückgebliebenen Kinde. »Hätte ich mein Töchterlein hier«, so seufzte sie oft, »dann könnte ich glücklich leben, so aber ist das [219] halbe Herz immer bei dem Kinde im Dorfe, und die andere Hälfte lebt in Trauer.« Des Nebelberges König erriet ihre geheimen Gedanken und ließ einst bei Nacht das Töchterlein aus dem Dorfe zur Mutter bringen. Da waren beide, Mutter und Tochter, vollkommen glücklich und sehnten sich nach nichts mehr. Die Dorfleute und der Mann glaubten, daß die in einen Werwolf verwandelte Frau das Kind bei Nacht fortgenommen habe. Der Mann freite eine andere Frau, aber weder seine eigene Wirtschaft noch die andern Höfe nahmen so guten Fortgang wie sonst; allsommerlich litten sie Schaden durch Dürre, das Getreide und Gras verdarben, weil der erfrischende Nachttau nicht auf den Strich fiel, den die Leute bewohnten. Des Nebelberges König war zornig darüber, daß sie sein Pflegekind hatten umbringen wollen.

Fußnoten

1 Die Rasenmutter ist nach Kreutzwald eine Schutzgöttin, deren Obhut besonders Hof und Garten anvertraut waren.


2 Diesen bietet nach estnischer Sitte der den Freier begleitende Brautwerber an.


3 Estn. liba hunt, eigentlich läufige Wölfin.

Quelle:
Löwis of Menar, August von: Finnische und estnische Volksmärchen. Jena: Eugen Diederichs, 1922, S. 214-220.
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