[79] 15. Von dem Prinzen und der Schwanenjungfrau.

[79] Es war einmal ein König, der konnte keine Kinder bekommen und härmte und grämte sich darüber Tag und Nacht, und in seinem Kummer befahl er, daß in allen Städten und Dörfern die Häuser schwarz angestrichen werden sollten.

Nach langer Zeit wurde ihm endlich ein Söhnchen geboren, und aus Freude darüber befahl er, daß alle Häuser in seinem ganzen Reiche weiß angestrichen werden sollten. Darauf erkundigte er sich nach dem weisesten und gelehrtesten Manne auf der Welt, und als er ihn erfahren hatte, ließ er ihn kommen und sprach zu ihm: »ich freue mich nicht so sehr, daß ich einen Sohn bekommen habe, als daß er zu deiner Zeit geboren worden ist; du sollst ihn erziehen und ihn nicht eher aus deiner Hut lassen, bis er alles gelernt hat, was du weißt.«

Um aber das Kind vor allem Schaden zu bewahren, ließ er ein gläsernes Schloß bauen und setzte es mit seinem Lehrer hinein. Eines Tags brachte man Fleisch auf die Tafel, an dem noch ein Knochen war, und über diesen wunderte sich der Knabe, denn er hatte wohl von Knochen gehört, aber noch keinen Knochen gesehn. Er verlangte ihn also, um damit zu spielen, und als er ihn erhalten hatte, warf er ihn so lange hin und her, bis er so stark an eine der Wände fuhr, daß er sie durchschlug. Da steckte der Knabe den Kopf durch das Loch und erblickte zum ersten Male Himmel, Berge, Flüsse, Felder und vieles andere, und das gefiel ihm so sehr, daß er seinen Lehrer bat, ihn hinaus zu führen. Der aber sagte ihm: »ich darf das nicht, darum mußt du deinen Vater[80] bitten.« Als nun dieser zum Knaben kam, da bat und flehte der so lange, bis ihn der Vater aus dem gläsernen Schlosse nahm und in die Welt brachte. Darüber war große Freude im ganzen Reiche, und es wurden zur Feier große Feste und Jagden angestellt. Der Knabe aber fand großes Vergnügen an der Jagd und wurde bald ein solcher Jagdliebhaber, daß er oft allein ohne Diener und Hunde auszog und jagte.

Eines Tags stellte der König eine große Jagd an, an der auch der Prinz und sein Lehrer Teil nahmen. Da erblickten beide einen großen Hirsch; sie gaben sich an seine Verfolgung und kamen dadurch von der Gesellschaft ab, und nach einer Weile verlor der Lehrer auch den Prinzen aus dem Gesichte, und alles Suchen nach ihm war vergebens. Da glaubte man endlich, daß ihn irgend ein Raubtier gefressen habe, und der König verfiel darüber in so tiefe Trauer, daß er wieder alle Häuser schwarz anzustreichen befahl.

Der Prinz wurde von dem Hirsche in eine Einöde gelockt, aus welcher er sich nicht mehr herauszufinden im Stande war, und als sein Pferd vor Müdigkeit nicht mehr weiter konnte, band er es an einen Baum, und um seinen Hunger zu stillen, stach er mit seinem Messer Wurzeln aus der Erde und verzehrte sie.

So lebte er längere Zeit, bis eines Tages ein Jude vor ihm erschien, und ihn fragte, was er in dieser Wildnis suche. Darauf erzählte ihm der Prinz, wie es ihm ergangen sei, und der Jude sprach: »sei guten Muts, mein Sohn, ich will dir den Weg zu deinem Vater schon zeigen.« Sie machten sich nun auf und trafen unterwegs einen Büffel, den erlegte der Jude und zog ihm die Haut ab und nahm sie mit. Darauf kamen sie an einen sehr hohen und steilen Berg, und da sagte der Jude zu dem Prinzen:[81] »wenn du willst, daß ich dich zu deinem Vater bringe, so mußt du mir vorher einen Dienst erweisen, und auf diesen Berg steigen und mir das Gold herunter werfen, das dort liegt.« »Das wollte ich recht gerne tun«, antwortete der Prinz, »wenn ich nur erst oben wäre, denn wie soll ich hinaufkommen?« Da sprach der Jude: »das ist viel leichter, als du dir denkst, mein Sohn, du brauchst dich nur von mir in dieses Büffelfell einnähen zu lassen, denn jetzt ist grade die Zeit, wo die Adler herunterkommen und Futter suchen, und wenn sie dich in dem Felle erblicken, werden sie dich für einen Büffel halten und auf den Berg tragen. Wenn sie mit dir oben sind und dich auf die Erde legen, dann nimm dein Messer, und schneide das Fell auf und streife es ab.« Dem Prinzen gefiel dieser Anschlag; er ließ sich also in das Fell einnähen, und es dauerte nicht lange, so kamen die Adler, packten ihn und flogen mit ihm auf den Berg; da zerschnitt der Prinz das Fell und warf nun dem Juden das Gold herunter, was dort lag. Der sammelte davon so viel er konnte, setzte sich dann auf das Pferd des Prinzen und ritt fort. Da rief der Prinz: »wo willst du hin, und wie soll ich von dem Berge herunter kommen?« Der Jude aber rief ihm zurück: »bleibe, wo du bist, es ist ja schön dort oben«, und jagte davon.

Der Prinz suchte nun nach irgend einem Wege oder Fußsteige, um von dem Berge herunter zu kommen, doch alle Mühe war vergebens, überall war der Abhang so steil, als wenn er mit dem Messer abgeschnitten wäre. Oben war aber eine endlose Fläche, auf der allerhand Wurzeln wuchsen; von diesen nährte sich der Prinz und wurde so stark, daß er, wenn er drei Tage hinter einander davon aß, ein Haus mit seinen Händen hätte niederreißen können.[82]

Als er eines Tages eine Wurzel ausgrub, fand er einen eisernen Ring, der in eine Steinplatte eingelassen war, und als er diese aufhob, erblickte er eine endlose Stiege, die in den Berg hinab führte. Er besann sich nicht lange und stieg auf ihr hinunter, aber er brauchte einen ganzen Tag, bis er unten ankam. Endlich erblickte er Himmel und Erde, und als er die Treppe vollends hinunter gestiegen war, da sah er einen großen Pallast, und auf den eilte er zu, um zu sehn, ob er etwas zu essen fände, denn von dem langen Wege war er sehr hungrig geworden. Als er dort eintrat, erblickte er einen Greis, der mit schweren Eisenketten an die Mauer gefesselt war, und dessen Bart ihm bis an die Knie herabreichte, der bat ihn, daß er ihn lösen möchte. Der Prinz aber verlangte etwas zu essen. Da sprach der Greis: »löse mich vorher, dann will ich dir zu essen geben.« Der Jüngling aber rief: »dazu bin ich jetzt nicht stark genug, denn ich sterbe vor Hunger.« Da sagte der Greis: »lange in meine Tasche und hole die vierzig Schlüssel heraus, die die vierzig Stuben des Schlosses aufschließen, und öffene mit diesem Schlüssel die und die Stube. In ihrem Schranke wirst du eine Rute finden, und wenn du mit dieser auf den Boden klopfst, so werden daraus alle Speisen kommen, die du wünschest.« Der Prinz tat, wie ihm geheißen, und nachdem er sich satt gegesssen hatte und wieder zu Kräften gekommen war, da löste er den Greis von seinen Fesseln, und reinigte und lauste ihn, denn er war lange Zeit angeschmiedet gewesen, und blieb nun bei ihm in dem Schlosse.

Aber es dauerte nicht lange, so begann sich der Prinz zu langweilen, und als das der Greis merkte, gab er ihm neununddreißig Schlüssel zu neununddreißig Stuben des Schlosses und lud ihn ein, sie anzusehen und sich an den[83] Schätzen zu ergötzen, die er darin finden würde. Da schloß der Prinz der Reihe nach alle neununddreißig Stuben auf, und vergnügte sich an dem Anblicke aller Schätze, welche sie enthielten. Nachdem er aber damit fertig war, wurde er wieder traurig, und als ihn der Greis darum beredete, sprach er: »du hast mir die neununddreißig Schlüssel zu den neununddreißig Stuben gegeben, jedoch einen hast du zurückbehalten; ich möchte aber wissen, was in der vierzigsten Stube ist.« Da rief der Greis: »verlange das nicht, mein Sohn, das wäre dein Verderben, denn darin ist ein See, und zu diesem kommen täglich drei Elfinnen und baden sich darin; sie sind sehr schön von Gestalt, aber auch ebenso grimmig von Gemüt, denn sie zerreißen Jeden, den sie erblicken. Ihre ganze Kraft steckt aber in den Kleidern, und wenn man die ihnen wegnimmt, so sind sie machtlos. Es haben dies schon viele junge Männer an ihnen versucht, doch sie sind alle darüber zu Grunde gegangen. Schlage dir also diesen Gedanken aus dem Kopfe, denn es wäre dein Unglück.« Aber der Prinz ließ sich nicht irre machen, und lag dem Greise so lange an, bis er ihm endlich den Schlüssel gab und sprach: »wenn du dich denn nicht abhalten lassen willst, so befolge wenigstens genau, was ich dir sage. Von den drei Schwestern baden zuerst die beiden ältesten, und die jüngste bleibt im Grase sitzen und spielt auf der Laute; das ist aber die schönste von den dreien. Wenn nun die andern fertig sind, so zieht sie sich aus und geht in das Wasser, und dann mußt du ihr die Kleider wegnehmen, und sie fest unter den einen Arm packen und ihr mit dem andern zuwinken, dir zu folgen. Du darfst dich aber durch kein Bitten und Flehen weich machen lassen, und ihr die Kleider geben oder ihr auch nur erlauben, sie mit einem Finger zu berühren, denn sonst bist du verloren.«[84]

Darauf nahm der Prinz den Schlüssel, öffnete die vierzigste Stube, fand darin den See und versteckte sich hinter einem Busche. Da kamen zuerst die beiden ältesten und badeten sich, während die jüngere auf dem Grase saß und die Laute spielte. Als nun jene gebadet hatten und fortgingen, entkleidete sich die Jüngste, stieg in den See und trieb darin allerhand Kurzweil. Da faßte sich der Prinz ein Herz, stürzte aus seinem Verstecke vor, packte die Kleider fest unter den Arm und winkte ihr, ihm zu folgen. Nun legte sich das Mädchen auf das Bitten, und bat, sie wenigstens den Saum ihres Kleides berühren zu lassen, weil sie nun doch sein eigen sei, und er ließ sich endlich erweichen, und erlaubte ihr, den Saum ihres Kleides zu berühren; aber kaum hatte sie ihn gepackt, so zog sie mit solcher Kraft an dem Kleide, daß sie es ihm fast entrissen hätte. Doch er besann sich nicht lange, und gab ihr einen solchen Stoß, daß sie davon zurücktaumelte.

Darauf ging der Prinz zu dem Greise, und das Mädchen folgte ihm dorthin; zu diesem, aber sprach er: »nun will ich zu meinen Eltern zurück, kannst du mir kein Pferd geben?« »Sehr gerne«, antwortete der Greis. »Gehe nur in den Stall und rufe: Goldfuchs! Goldfuchs! Flügelpferd! komm und bringe mich zu meinem Vater und meiner Mutter. Gieb aber Acht auf die Kleider des Mädchens und packe sie unter die andern, denn wenn sie sie erwischt, so bist du verloren. Das Goldstäbchen aber schenke ich dir zum Andenken.«

Der Prinz tat, wie ihm der Greis gesagt, stieg auf das Flügelpferd, nahm das Mädchen hinter sich und ritt ab.

Unterwegs hielten sie an und setzten sich unter einen Baum, um zu frühstücken, und als sie dort saßen, kam der Bruder des Mädchens in der Gestalt eines Derwisches zu ihnen; der trug einen Schäferstab in der Hand[85] und sprach: »mich hungert sehr, habt ihr etwas zu essen?« Der Prinz erwiederte: »wenn du mir sagst, warum du diesen Schäferstab bei dir führst, so sollst du zu essen haben.« Da antwortete der Derwisch: »wenn ich zu dem Stabe sage: wurr! mein Stöckchen, schlag ihn auf den Kopf, so fährt der Stab aus meiner Hand dem an den Kopf, den ich meine, und schlägt ihn tot.« »Laß mich ihn ein wenig ansehn«, sagte der Prinz, und als er ihn in der Hand hatte, rief er: »wurr! mein Stöckchen, schlag den Derwisch auf den Kopf.« Da fuhr ihm der Stab aus der Hand und an den Kopf des Derwisches und schlug ihn tot. Der Prinz aber nahm den Schäferstab, sein Goldstäbchen und das Mädchen, das über den Tod ihres Bruders sehr traurig war, und zog weiter.

Zur Mittagszeit hielten sie wieder still, und da kam der zweite Bruder des Mädchens in der Gestalt eines Juden zu ihnen, der bald sichtbar und bald unsichtbar war. Da fragte das Mädchen den Prinzen: »was ist das, was bald erscheint und bald verschwindet?« Der aber sah nichts, denn der Jude erschien nur, so oft der Prinz die Augen senkte, und verschwand, sobald er sie aufschlug. Endlich aber zeigte er sich auch ihm, kam heran und sagte: »mich hungert, habt ihr etwas zu essen?« Da fragte ihn der Prinz: »sage mir erst, wie es zuging, daß du bald sichtbar, bald aber unsichtbar warst, und dann sollst du zu essen haben.« Der Jude erwiederte: »Siehst du diese Mütze, wenn ich sie aufsetze, werde ich unsichtbar, und wenn ich sie abnehme, werde ich sichtbar.«

»Laß sie mich einmal ansehen«, sprach der Prinz, und als er sie in der Hand hatte, rief er: »wurr! mein Stöckchen! dem Juden an den Kopf!« da fuhr sein Schäferstab dem Juden an den Kopf und schlug ihn tot. Als die Elfin das sah, sprach sie bei sich: »nun muß ich sehn,[86] wie ich mir selber helfe, denn da meine beiden Brüder tot sind, hilft mir Niemand mehr.«

Der Prinz aber nahm das Goldstäbchen, die Mütze, den Schäferstab und das Mädchen und ritt damit in das Reich seines Vaters. Als er in das erste Dorf kam, sah er, daß alle Häuser schwarz angestrichen waren; er ließ daher den Schulteiß kommen und fragte ihn nach der Ursache. Da begann dieser, und erzählte ihm von dem alten Könige und seinem Sohne, und wie der auf einer Jagd umgekommen sei, und der König aus Kummer darüber alle Häuser habe schwarz anstreichen lassen. Als er fertig war, sagte ihm der Prinz: »ich bin der Sohn des Königs, gehe hin zu meinem Vater und sage ihm das, und verdiene dir den Botenlohn.« Der Schulteiß wollte es anfangs nicht glauben, weil der Königssohn schon lange verloren und verfault sei. Aber endlich entschloß er sich doch, lief zum König und sagte ihm die Botschaft. Dieser schickte sogleich seine Hofherren und seine Spielleute hinaus, ließ ihn mit den größten Ehren einholen, und empfing ihn unter Kanonendonner und Volksjubel. Darauf befahl er seinen Untertanen, alle Häuser wieder weiß anzustreichen, und stellte große Festlichkeiten an, bei welchen alle Welt die Elfin bewunderte, weil sie so schön war und so schön tanzte.

Während sie nun so tanzte und alle Welt nur auf sie Acht hatte, nahm der Prinz ihre Kleider und gab sie seiner Tante zum Aufheben und bat sie, sie sorgfältig zu verschließen, und Niemanden zu geben, als ihm allein. Die Elfin aber hatte es doch gemerkt, und als der Prinz sich nun Mittags niederlegte, um ein wenig zu schlummern, da kam sie zur Tante und bat sie, ihr die Kleider zu geben, damit sie sie ein bischen anziehen und darin tanzen könne. Die Tante weigerte sich anfangs, aber die Elfin bat sie[87] so beweglich und schmeichelte ihr so lange, bis sie nicht mehr widerstehen konnte und ihr die Kleider gab. Die Elfin zog sie an, kehrte zum Tanzplatze zurück, und tanzte nun noch viel schöner als vorher. Als der Prinz aufwachte, verlangte er von seiner Tante die Kleider des Mädchens, und diese gestand ihm, daß sie das Mädchen so lange gequält habe, bis sie sie ihr gegeben. Da lief der Prinz dahin, wo die Elfin tanzte; wie ihn aber diese sah, sprang sie auf das Fenster und rief: »Lebe wohl, wenn du Lust hast, mich wieder zu sehn, so komme in die gläserne Stadt!« und flog davon.

Da weinte und tobte der Prinz, aber was half es? Das Mädchen kam nicht wieder, und so beschloß er denn, sie aufzusuchen. Sein Vater und seine Freunde bemühten sich vergebens, ihn davon abzubringen, er blieb bei seinem Vorsatze, nahm sein Goldstäbchen, seinen Schäferstab und seine Mütze, stieg auf das Flügelpferd, ritt wieder zu dem Greise, erzählte ihm, wie es ihm ergangen sei, und verlangte Rat. Der aber sprach: »ich kann dir nicht helfen, denn ich weiß nicht, wo die gläserne Stadt ist, nimm aber diesen Brief und gehe damit zu meinem Vater, vielleicht weiß der Bescheid.«

Als er zu dem Vater des Greises kam und ihm sein Leid klagte, antwortete dieser: »ich kann dir auch nicht helfen, denn ich weiß ebenso wenig wie mein Sohn, wo die gläserne Stadt liegt, nimm aber diesen Brief und gehe damit zu meiner Mutter, vielleicht weiß die es.«

Als er zu der Alten kam und ihr sein Leid geklagt hatte, sprach diese: »ich weiß auch nicht, wo die gläserne Stadt ist, aber ich will die Vögel zusammenrufen und sie fragen.«

Darauf rief sie alle Vögel zusammen und fragte sie, ob einer von ihnen wisse, wo die gläserne Stadt sei, aber[88] keiner wußte es. – Darüber wurde der Prinz so traurig, daß es die Alte erbarmte und sie ihren Knecht fragte: »hast du auch alle Vögel zusammengerufen, ohne einen auszulassen?« »Ja«, antwortete dieser, »ich habe sie alle gerufen, nur einen Schnapphahn habe ich ausgelassen, weil er so schlecht zu Fuß ist.« Da rief die Alte: »laufe sogleich hin und hole mir auch den herbei«, und als ihn der Knecht gebracht hatte, fragte ihn die Alte: »weißt du, wo die gläserne Stadt ist?« Der Schnapphahn antwortete: »o ja! aber es ist weit dahin.« Darauf sprach die Alte zu dem Prinzen: »da, nimm diesen Sack mit Mundvorrat für dich und den Schnapphahn, setze dich auf ihn und reite hin.«

Der Prinz nahm den Speisesack, setzte sich auf den Schnapphahn und fort gings. Er mußte aber lange reiten, ehe er zur gläsernen Stadt kam, und bevor er sie erreichte, ging der Mundvorrat aus. Da rief der Schnapphahn: »ich bin hungrig, ich will zu fressen haben!« und der Prinz schnitt seinen eignen Fuß ab, und gab ihn dem Schnapphahn zu fressen.

Als sie endlich ankamen, kehrten sie bei einem alten Mann ein; der war zu den heiligen Stätten gewandert, und wurde davon Chadschi genannt. Er war, nach der Weise der Alten, sehr gesprächig und erzählte dem Prinzen, daß der König der Stadt mit einem andern Könige Krieg habe. Als der Prinz das hörte, sprach er zu dem Chadschi: »Gehe hin und sage dem König, daß ich im Stande sei, allein seinen Feind zu besiegen.« Der Chadschi aber hielt dies für eine leere Prahlerei und begann daher auf den Prinzen zu schmähen und zu schimpfen, weil er glaubte, er wolle ihn zum besten haben. Aber der Prinz lag ihm so lange an, bis er sich entschloß, zum König zu gehn und den Auftrag auszurichten.[89]

Der König ließ den Prinzen zu sich kommen, um ihn selber zu fragen, und als dieser vor dem König erschien, sagte er ihm: »ich verpflichte mich, dir deinen Feind gebunden hierher zu bringen, und wenn ich es nicht im Stande bin, so sollst du mir das Haupt abschlagen, wenn ich ihn aber bringe, so sollst du mir deine jüngste Tochter zur Frau geben.« Der König war das zufrieden, und der Prinz suchte sich die besten von den Soldaten des Königs aus und zog mit ihnen wider den Feind. Als sie ihn erblickten, ging ihm der Prinz allein entgegen und sagte zu seinem Schäferstabe: »Wurr! Stäbchen, den Feinden auf den Kopf!« Da fuhr der Stock auf das feindliche Heer los und erschlug alles was ihm vorkam, und darüber erschraken die Feinde so, daß alles in Verwirrung kam und das ganze Heer davon lief. Der Prinz aber hatte seine Mütze aufgesetzt und war dem Stocke unsichtbar gefolgt und suchte nun so lange, bis er den feindlichen König gefunden hatte. Da packte und band er ihn, und führte ihn in die gläserne Stadt zum Könige. Darüber freute sich dieser so sehr, daß er gleich seine jüngste Tochter holen ließ und ihr den Prinzen als ihren Gemahl vorstellte. Der Prinz hatte sich aber so verkleidet, daß ihn das Mädchen nicht erkannte, und als sie hörte, daß sie diesen Mann heiraten sollte, da erschrak sie und widersetzte sich, worüber der König sehr zornig wurde. Der Prinz aber sagte zum König, er möchte ihm nur erlauben seiner Tochter zwei Worte im Geheimen zu sagen, dann werde sie gewiß einwilligen. Da ließ sie der König in ein besonderes Zimmer führen, und dort gab sich der Prinz der Jungfrau zu erkennen. Die aber freute sich sehr über das unverhoffte Wiedersehen, und erklärte nun ihrem Vater, daß sie den Fremden zum Manne haben wolle. Da wurde eine große Hochzeit angestellt, und als[90] diese vorüber war, nahm er von dem Könige Abschied und ging mit seiner Frau in seine Heimat zurück.

Quelle:
Hahn, J[ohann] G[eorg] v[on]: Griechische und Albanesische Märchen 1-2. München/Berlin: Georg Müller, 1918, S. 79-91.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Das neue Lied und andere Erzählungen 1905-1909

Das neue Lied und andere Erzählungen 1905-1909

Die Sängerin Marie Ladenbauer erblindet nach einer Krankheit. Ihr Freund Karl Breiteneder scheitert mit dem Versuch einer Wiederannäherung nach ihrem ersten öffentlichen Auftritt seit der Erblindung. »Das neue Lied« und vier weitere Erzählungen aus den Jahren 1905 bis 1911. »Geschichte eines Genies«, »Der Tod des Junggesellen«, »Der tote Gabriel«, und »Das Tagebuch der Redegonda«.

48 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon