[132] 311. Das Burgfräulein von Falkenstein.

Vor sieben oder acht Jahrhunderten lebte auf Burg Falkenstein bei Vianden ein Ritter mit seiner Tochter Euphrosine. Von den vielen durch der Jungfrau Schönheit und Reichtum angelockten Bewerbern sollte Kuno von Bitburg Euphrosine als Braut heimführen.

Eines Tages hatte sich Euphrosine auf der Jagd im Walde verirrt, und schon brach die Nacht herein, als ein ritterbürtiger Jüngling herannahte und ihr anbot, sie nach Falkenstein zurückzugeleiten. Dort angelangt, bat die Jungfrau den Jüngling, der durch seine Schönheit und sein angenehmes Wesen ihre Zuneigung gewonnen, mit ihr zum gastlichen Saale ihres Vaters hinaufzugehen. Der Jüngling aber weigerte sich, da die Häuser von Falkenstein und Stolzemburg, dem er angehörte, durch unversöhnliche Feindschaft entzweit waren. Von nun an traf Euphrosine auf ihren Spaziergängen oft mit dem Jüngling zusammen, gewann ihn immer lieber und schauderte bei dem Gedanken, dem Bitburger ihre Hand geben zu müssen. Dennoch widerstand[132] sie dem Vorschlag des Stolzemburgers, mit ihm heimlich zu entfliehen. Erst als dieser sie einst mit kräftiger Hand von einem Abgrund, dem ihr scheu gewordnes Roß in wildem Lauf zueilte, weggerissen hatte, willigte sie in die Entführung ein.

Gegen Mitternacht verließ Euphrosine heimlich das Schloß und schwang sich hinter den harrenden Stolzemburger aufs Pferd. Aber der eifersüchtige Kuno, dem der Jungfrau verändertes Benehmen aufgefallen war, hatte die Flucht sofort bemerkt und auf schnellen Rossen eilte er mit dem Falkensteiner den Flüchtigen nach. Als der Stolzemburger die Verfolger heranbrausen hörte, drängte er der Jungfrau sein Schwert in die Hand und beschwor sie, zuzuschlagen. Die Unglückliche folgte willenlos und führte einen Hieb aufs Geratewohl. Da erscholl ein Schrei ... sie hatte den Vater getroffen. Mit Windeseile jagte indes der Stolzemburger dem Urflusse zu, wo ein Kahn ihrer harrte. Kaum aber hatten sie ihn bestiegen, als die Unglückliche ihren Geliebten in hellen Flammen stehen sah. In ihrer Angst kreuzte sie die Arme über der Brust; bei diesem Zeichen grinste das Gespenst sie an, hob drohend die Faust empor und verschwand mit dem Rufe: »Vatermörderin!« War es der Teufel selbst oder vielmehr derjenige, der, um sein Rachegefühl zu befriedigen, dem Teufel seine Seele überliefert hatte? Euphrosine aber, vor Schrecken und Gewissensbissen ihrer Sinne nicht mehr mächtig, stürzte sich in die Fluten der Ur. Seit diesem Unglückstage erscheint die Jungfrau um Mitternacht in den Ruinen des Schlosses Falkenstein und schleppt seufzend und wimmernd eine schwere Kette.1


L'Evêque de la Basse Moûturie, 451

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Leute, welche über diese Sage befragt worden sind, wissen nichts von einem als Geist umgehenden Burgfräulein zu Falkenstein. Nach ihnen fand ein Vatermord nicht statt; es sei, als die beiden Fliehenden hastig in den bereitstehenden Kahn gesprungen, dieser umgeschlagen und beide hätten in den Fluten der hoch angeschwollenen Ur ihren Tod gefunden.

Quelle:
Gredt, Nikolaus: Sagenschatz des Luxemburger Landes 1. Neudruck Esch-Alzette: Kremer-Muller & Cie, 1963, S. 132-133.
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