[113] 80. Herkenbal.

[113] Schriftliche Mittheilung des Herrn Dr. Coremans in Brüssel.

Caesarius l. 9. dialog. cap. 39.

Baptista Campofulgasius, Dicta factaque memorabilia. l. 1, cap. 6.

Vgl. Thomas Cantipratensis Buch II, S. 381.


Im Jahre 1020 verbreitete sich in Brüssel an einem Montage Morgens die Sage, daß nächtlicher Weile an der Ehre einer Jungfrau arg gefrevelt worden sei; aber was jedem unglaublich schien und doch durch des Mädchens und einiger Zeugen Aussage außer Zweifel gesetzt wurde, war, daß des Bürgermeisters Neffe, ein schöner hoffnungsvoller Jüngling, sich des Verbrechens schuldig gemacht hätte. Wahrscheinlich hatte er von seinen Leidenschaften und von geistigen Getränken, für die er einige Vorliebe hatte, berauscht, die Uebelthat begangen.

Die Einwohner waren über die Bestrafung des Frevlers sehr verschiedener Meinung. Manche sagten, daß es nöthig sei, an einem Vornehmen dem Volke ein warnendes Beispiel zu geben; andere schienen milder gestimmt und hätten sich wohl mit der Verbannung des Schuldigen auf einige Zeit begnügt, vielleicht sogar gegen seine gänzliche Begnadigung nichts einzuwenden gehabt. Wieder andere sagten: »Ei, dem wird nicht viel geschehen; er ist des Bürgermeisters Neffe, und für solche Leute giebt es weder Richter noch Strafen.« Einige jedoch, die den Bürgermeister genau zu kennen vorgaben, äußerten: »Der junge Mann ist verloren. Gott sei ihm gnädig!«

Herkenbal war ein tugendhafter, edler Herr, ein Altbelgier im vollsten Sinne des Wortes; doch ging seine Strenge oft bis zur Grausamkeit, und sein Rechtssinn war unbeugsam. Mitleid und Erbarmen hatte er entweder nie gekannt, oder sie waren ihm längst fremd geworden.[114]

Seinen Neffen, einer verstorbenen Schwester einzigen Sohn, liebte er mit aller Liebe, deren ein Herkenbal fähig ist. Er erfreute sich an dem Anblicke des blühenden mannhaften Jünglings, nannte ihn oft seinen Sohn, einen Schatz, den eine geliebte Todte ihm anvertraut habe, den Abendstern seines Lebens.

Wie ein Schwertstreich von Riesenhand versetzt, traf die Kunde von dem Verbrechen seines Neffen den Alten. Was er selbst für unmöglich erachtete, geschah; er wankte zwischen seiner Pflicht und seiner Liebe, zwischen Bestrafung und Vergebung. Der Schwester hatte er auf dem Sterbebette versprochen, Stütze, Vater dem Jünglinge zu sein, bisher auch dieses Versprechen, wie es einem Manne ziemt, treulich gehalten; und nun sollte er eine schwere Strafe über diesen geliebten Jüngling verhängen. Ihn derselben entziehen, war menschlich, aber eine Pflichtverletzung, welche ihn künftig zu andern Verletzungen gleicher Art führen mußte; dazu wollte er sich nicht verstehen. Er befahl, den muthmaßlichen Verbrecher festzunehmen, und bestimmte den nächsten Freitag zur Verhandlung.

Was in der Seele dieses Mannes inzwischen vorgegangen sein mag, läßt sich nur errathen; doch heißt es, daß seine Haare, die trotz seines hohen Alters ihre ursprüngliche Farbe bis dahin noch beibehalten hatten, völlig ergrauten. Verwendungen für den unglücklichen Neffen schloß er sein Ohr, und als dieser ihn um eine Unterredung dringend bitten ließ, hatte er den grausamen Muth, zu antworten: »Am Freitag werde ich ohnehin mit ihm sprechen.«

Der Freitag erschien.

Die Menge, welche sich um das Rathhaus (nicht das jetzige prachtvolle gothische Gebäude, an dessen Stelle damals nur ein ziemlich unförmlicher Steinhaufe stand)[115] versammelt hatte, war außerordentlich. Die öffentliche Meinung war dem Jünglinge günstiger, als an den Vortagen, und man schien allgemein ein mildes Urtheil, eine väterliche Bestrafung zu erwarten.

Herkenbal ließ über alle Umstände des Verbrechens den genauesten und ausführlichsten Bericht erstatten, die Zeugen und endlich seinen Neffen vernehmen, der ohne Hehl alles bekannte und von dem ihm zustehenden Vertheidigungsrechte einen sehr beschränkten Gebrauch machte. Er suchte seine Handlung weder in ein mildes Licht zu stellen, noch zu entschuldigen, und bewies die größte Reue.

Nachdem Herkenbal den Unglücklichen gefragt hatte, ob er nichts mehr vorzubringen wünsche, forderte er die Schöppen auf, ihre Meinung über die Schuld oder Unschuld des Angeklagten nach Wissen und Gewissen auszusprechen. Die Schöppen erklärten den Jüngling zwar für schuldig, doch unter mildernden Umständen, und empfahlen ihn der Gnade des Richters.

Herkenbal blieb nun einige Augenblicke unbeweglich stehen. Er wischte sich eine Thräne vom Auge. Es war die Stimme der Natur, welche zu dem strengen Manne sprach, doch, wie es schien, kein Gehör fand ... Der Kampf war vorüber, er sprach über den Neffen das Urtheil dahin aus, daß derselbe nach den Rechten und Gebräuchen im Lande Brabant durch Henkersbeil vom Leben zum Tode gebracht werden solle.

Ein allgemeiner Schrei des Entsetzens wurde laut und der Verurtheilte sank besinnungslos in die Arme der Umstehenden. Herkenbal allein war ruhig, durchschritt anscheinend gleichgültig die Volksmassen und kehrte nach Hause ...

Einige Tage nachher spielten Kinder oben auf einem Rasenhügel nah am Gefängnisse; sie pflückten Margarethchen. Plötzlich rief ein Kind: »Aber ich, ich habe[116] schöne gefunden, meine sind blutroth!« – Herkenbal hatte seinem Neffen die Gnade angedeihen lassen, an einem Morgen vor wenigen Zeugen in der Stille hingerichtet zu werden.

Quelle:
Wolf, Johann Wilhelm: Niederländische Sagen. Leipzig: Brockhaus, 1843, S. 113-117.
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