343. Der Zauberknecht.

[237] 1. Im Getschwyler zu Spiringen machen sich die Heuer daran, das gedörrte Futter zu rechen und einzutragen. Einer der Arbeiter jammert: »Ach, wenn doch nur das chogä Heiw scho dinnä wär!« Ein anderer erwidert: »E, das isch ä liächti Arbet; wennd iähr andärä midänand ds Heiw im Obergadä wennt verwärfä, fir ds Innäbringä wil ich scho sorgä, lahnd iähr mich nur la machä.« Gesagt, getan. Der Hexenkünstler nimmt einen Weisshaselzweig, geht zu oberst in die Wiese und klopft mit seinem sonderbaren Rütchen nur so auf das[237] liegende dürre Heu, indem er, rückwärts gehend, langsam die Wiese hinunter schreitet. Das Heu fliegt jetzt wie ein Wirbelwind durch das offene Heutor, durch alle Ritzen und Löcher in den Obergaden hinein, dass die Arbeiter da drinnen erstickt wären, hätten sie nicht ihre Köpfe durch Lücken hinausstrecken können.


Pfr. Jos. Arnold.


Nach anderer Darstellung: In der Hirmi zu Unterschächen. Der Knecht wischte mit einem kleinen Besen ein wenig im Heu.


Karl Gisler, 75 J. alt, Unterschächen, u.a.


2. Der Bauer im Berg Grossobermatt zu Spiringen schickte seinen Knecht, ein wildes Mandli, nachmittags zu mähen. Als er am Abend heimkam, war zu seinem grössten Erstaunen das ganze Gut gemäht. Ob er denn nicht furchtbar müde zu sei, fragte er den Knecht. »Nei, kei Leechä!« war die Antwort. »Nu, das wär ja scho rächt,« meinte der Bauer, »aber wiä i'trägä morä? säg dü miär das!« »Das lahnd iähr nur mich la machä!« beruhigt ihn der Knecht. Am folgenden Nachmittag liess der letztere seinen Meister in den Obergaden gehen, um dort zu verwerfen; er selber nahm einen Haselzwick in die Hand, ging zuoberst in die Bergwiese und begann, mit dem Zwick in dem liegenden Heu zu rühren. Das sauste nun wie eine Lawine durch alle Löcher und Gwätti in den Gaden hinein, dass der Bauer dort bald erstickt wäre. Aber im folgenden Sommer »heiged-em 'Kiäh all süber verchalberet«.


Josef M. Herger, 72 J. alt, Grossobermatt.


3. Folgende Sage wird in Altdorf, Schattdorf und Umgebung erzählt. – Ein Bauer hatte einen Knecht, der mehr zu leistete als mehrere andere zusammen, und doch sah man ihn nie viel arbeiten. Dem Meister kam die Sache merkwürdig vor, und er beschloss, den Burschen beim Heuen heimlich zu beobachten. Da sah er, dass sich der Heuer, statt zu arbeiten, gemütlich ins Heu legte und ruhig schlief, bis die Sonne am Untergehen war. Auf einmal erhob er sich, nahm eine Haselrute und begann damit zu unterst (zu oberst) im Heu zu rühren. Im Nu flog das Heu in den Gaden hinein, so raas, dass der Meister, der im Obergaden zuschaute, schleunigst die Flucht ergriff.

Der Meister klopfte dem Gesellen auf die Schulter und sagte zu ihm: »Dü bisch ä güetä gsy und ä flinggä, das isch wahr, aber gah channsch etz, i will-di nimmä!«[238]

Statt des Knechtes wird auch ein Heidenmüetterli genannt und statt der Haselrute ein Tannenzweig.


A. Stadler.


4. a) Jakobä-Tonis zu Ruoppelingen1 (18./19. Jahrhundert) auf Gurtnellen besassen auch den hochgelegenen Graggerberg (in alten Gült- und Kaufbriefen Mysiberg genannt). Eines Tages hatten sie in beiden Gütern eine Masse dürres Heu liegen, und es drohte schlechtes Wetter. Der Knecht sah ihre Verlegenheit und sagte: »Wenn ihr andern zu Ruoppelingen das Heu eintraget, so nehme ich den Berg schon auf mich.« Sie wollten das nicht glauben, aber, weil nichts anderes zu machen, überliessen sie es ihm, den Graggerberg zu besorgen. Der Knecht machte sich auf den Marsch, und sie begannen zu wenden und einzutragen. Sobald sie ihre Aufgabe vollendet, stieg der Meister noch in das Berggut hinauf, um allenfalls dem Knecht noch ein wenig zu helfen. Die Sonne senkte sich schon hinter die höhern Berggipfel, und die Schatten näherten sich mit bedenklich raschen Schritten dem Graggerberg, als er zu unterst in der Wiese ankam und da zu seinem allergrössten Erstaunen den Knecht schlafend im Heu liegen sah. Er weckte ihn und machte ihm heftige Vorwürfe. Doch dieser meinte: »Seid ohne Angst! es ist noch Zeit genug. Gehet ihr nur in den Obergaden, ihr werdet dann schon sehen!« Der Meister dachte: »Da witt etz doch lüegä!« stieg hinauf in den Obergaden und schaute durch eine Lücke dem Grossprecher heimlich zu. Dieser griff zu einer Haselgerte und klopfte damit, von unten anfangend, auf das liegende dürre Heu, das jetzt »wiä-nn-ä Gux« durch das Heutor und zu allen Schwemmungen in den Gaden herein geflogen kam, dass der Jakobä-Toni erstickt wäre, hätte er nicht seine Nase durch die Lücke hinaus gestreckt. Aber diesen Knecht wollte er nicht mehr, er entliess ihn.


Hans Tresch, 72 J. alt, Gurtnellen.


b) Er nahm ein Haselrütchen und schlug damit in jede der vier Ecken der Wiese einen Streich; alsbald flog das Heu wie z'schnyädä durch alle Schwemmungen in den Gaden, und kein Halm ging daneben.


Josef M. Baumann, Rütti, 68 J. alt.


5. In einer Wiese zu Schattdorf waren die Leute mit Eintragen des Heues beschäftigt, als ein fahrender Schüler[239] des Weges kam, sie anredete und einen baldigen Regen prophezeite. Sie lachten ihn aus, denn der Himmel war glanzheiter. Der Fremde aber meinte, er müsse oder wolle ihnen doch helfen, nahm einen Haselzwick und begann damit im Heu zu rühren, so wie man etwa eine Nidel schwingt, worauf das Heu durch alle Öffnungen und Spalten wie rasend in den Gaden fuhr. Kaum war es geborgen, entlud sich ein furchtbares Hagelwetter.


Fr. Wipfli-Herger, 80 J. alt.


Fußnoten

1 Der Ort heisst im 1. Viertel des 16. Jahrhunderts Ruoppeldingen (Jahrzeitbuch Silenen) und grenzt nach unten an Richelingen und Hottingen, jetzt Fottigen.

Quelle:
Müller, Josef: Sagen aus Uri 1-3. Bd. 1-2 ed. Hanns Bächtold-Stäubli; Bd. 3 ed. Robert Wildhaber. Basel: G. Krebs, 1926, 1929, 1945, S. 237-240.
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