Der wahrsagende Sack.

[40] Es war einmal eine Frau, die hatte einen Jungen [Sohn] und der musste »dem Amtmann seine« Kühe hüten, und die Frau hatte auch eine Kuh dabei. Da fand der Junge auf der Weide ein Vogelnest und erzählte seiner Mutter davon. Und die Mutter sagte: »Wenn auf das Nest eine Kuh scheisst, so schlag sie todt«. »Aber«, sagte sie, »wenn es nun unsere ist? Und wenn es unsere ist«, sagte der Junge, »dann schlag ich sie auch todt«. So trieb der Junge am anderen Tage die Kühe wieder auf die Weide und die eigene Kuh stellte sich über das Nest. Da schlug er sie todt, zog ihr das Fell112 ab und brachte es nach Hause. Dann schrie die Mutter, weinte und sagte: »Was soll ich nun anfangen, da unsere eine Kuh todtgeschlagen ist. Was soll ich mit dem Fell machen, dafür kriege ich doch nimmer eine Kuh wieder«. Da sagte der Junge: »Ich werde fortgehen und werde das Fell verkaufen«, steckte das Fell in einen Sack und ist »jejen« [gegangen], sagte, er hätte einen Wahrsager im Sack.

Wie er so ging, wurde es finster und er kam in der Abendstunde in ein Dorf, zu einem Bauernhause. Ehe er aber in die Stube ging, sah er durch das Fenster. Der Bauer war nicht zu Hause und ein Mann ging zu des Bauern Frau und sie assen beide und tranken. Nun klopfte er an, und die Frau dachte, ihr Mann käme und erschrak sehr. Sie setzte schnell den Braten in die [Ofen-] Röhre, die Weinflasche unter das Bettkissen, den Kuchen in den Schrank, versteckte alles und auch den Mann in den Kleiderschrank. Wie der Junge noch draussen war, kam der Bauer, beide gingen in die Stube, setzten sich an den Tisch und der Junge warf den Sack mit dem Fell unter den Tisch. Wie sie nun ein Weilchen gesessen hatten, stiess der Junge immer mit dem Fusse an den Sack, und sagte dann: »Wirst De [Du] wohl stille sind [sein]«. Da fragte der Bauer: »Was hast Du drinnen, dass Du sagst, er soll stille sein?« Da sagte der Junge: »Ich habe einen Wahrsager im Sack. – Wat [was] will er denn sagen? – Na, er will wat[40] sagen. – Na, lass ihn doch wat sagen!« Da sagte der Junge, er sollte mal nachsehen, in der »Röhre« stände ein Braten. Da sagte der Bauer: »Junge, das ist nicht wahr. – Ja, ja, geht nur hin, es ist doch wahr«. Da sahen sie nach und fanden den Braten. Wie sie nun eine Weile gegessen hatten, stiess der Junge wieder mit dem Fusse unter'm Tische an den Sack und sagte: »Willste stille sin [willst du stille sein]!« »Na, wat will er sagen?« fragte der Bauer. »Er will sagen: hinten im Bett stehen zwei Flaschen Wein.« – »Junge, das kann nicht wahr sein«. Da sahen sie nach und fanden die zwei Flaschen Wein. Da stiess der Junge zum dritten mal unter'm Tische an den Sack und sagte: »Willst Du stille sin!« – »Na, wat will er sagen?« fragte der Bauer. »Er will sagen, im Schranke steht Kuchen.« – »Junge das kann nicht wahr sein«. Dann sahen sie nach und fanden den Kuchen.

Wie nun alles da war, war der Sack ruhig, und die Frau musste das alles mit ansehen. Da sagte der Bauer zum Jungen: »Was willst Du haben, ich will Dir den Wrahrsager abkaufen?« Der Junge sagte: »Ich will weiter nichts haben, wie den grossen Kleiderschrank. – Ja, ja, gern, wenn Du weiter nichts haben willst, den kannst Du kriegen«. Da gab ihm der Bauer einen Ostwagen [Leiterwagen], und sie luden das Spinde auf und der Junge fuhr damit nach Hause.

Wie er nun unterwegs an ein grosses Wasser kam, da sagte der Junge zu dem Mann im Spinde: »Was wollt Ihr mir geben? sonst werf ich Euch in das Wasser«. Da »bettelte« [bat] der Mann so sehr und sagte, er wollte ihm dreihundert Thaler geben, er sollte ihn doch nur herauslassen, und gab dem Jungen die dreihundert Thaler.

Wie nun der Junge wieder nach Hause kam, brachte er der Mutter die drei hundert Thaler für das Fell und sagte: »Nun, Mutter, kannst Dir noch mehr kaufen als eine Kuh«. Und die Mutter war glücklich und erzählte alles dem Amtmann. Da liess der Amtmann alle seine Kühe todtschlagen und schickte die Felle weg, sie sollten auch so viel Geld bringen, doch sie brachten nichts. Nun war er sehr böse auf den Jungen. Da sagte der Junge zu dem Amtmann, er wollte machen, dass er recht viele Lämmer kriegte, er sollte ihn in den Schafstall hineinlassen. Wie es nun Abend war, schickte der Junge den Wolf in den Stall. Der Amtmann aber mit seiner Frau »gingen« an den Stall und horchten an der Stallthüre. Wenn dann der Wolf ein Schaf nahm, schrie es jedesmal. Da sagte der Amtmann: »Horch mal, horch mal, er macht es schon«. Wie aber der Morgen kam und Licht war, waren alle Schafe todt. Nun wollte der Amtmann den Jungen einsperren lassen, ging hin zur Frau und sagte: »Wo ist Euer Sohn?« Sie sagte: »Der ist todt. – Aber wo liegt er? – Im Keller«. Da sagte der Amtmann: »Ich kann ihm das nicht schenken, ich muss ihm nochmal etwas anthun, wenn er auch todt ist, ich muss ihm auf den Mund sch...113 G.-S.

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Sprüchwort: Kuždy dej ze swojej kožu sam k markoju. Jeder muss mit seiner Haut selbst zu Markte. B.

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Die weitere Erzählung kommt als Schluss öfter in Volksgeschichten vor, so in der auch unter den Wenden bekannten Geschichte vom Bauern und seinem Reisehute und den beiden Juden.

Quelle:
Schulenburg, Willibald von: Wendisches Volksthum in Sage, Brauch und Sitte. Berlin: Nicolai, 1882, S. 40-41.
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