Mozart und der Kontrapunkt

[174] Mozart ist hineingeboren in ein »galantes« Zeitalter der Musik, das einen Bruch mit der Vergangenheit vollzogen hatte. Im Grunde lag dieser Bruch schon mehr als hundertfünfzig Jahre zurück, als eine Anzahl von Ästhetikern und Musikern, deren Sprachrohr die sogenannte Camerata fiorentina war, dem Kontrapunkt den Krieg erklärte, zugunsten der Verständlichkeit des Wortes, und »monodische« Vokal- und Instrumentalmusik inaugurierte. Man begann Kantaten und Opern, Solo- und Triosonaten zu schreiben, in denen die Führung der Stimmen aus dem harmonischen Bewußtsein herauswuchs. Das Prinzip der Polyphonie hatte sich verwandelt in das Prinzip des Konzertierens. Aber Polyphonie, Kontrapunkt, Kombination selbständiger Stimmen ist ein ewiges Prinzip der Musik. Man hört nicht auf, »fugweis« zu schreiben, man spricht gleichsam in zwei, im Grunde disparaten Sprachen, und erst gegen das Ende des 17. Jahrhunderts wird ein Musiker geboren, der »harmonisches« und »polyphones« Denken zur Einheit verschmilzt, der auf Grund voller Kenntnis aller Gesetze der Harmonie die Polyphonie auf ihren Gipfel führt: Johann Sebastian Bach.Bach war freilich ein posthumer Musiker. Um ihn herum, in Deutschland, Italien, Frankreich, hatte sich längst die Scheidung der Stile vollzogen, der »galante«, homophone, konzertante Stil hatte gesiegt, und die Polyphonie, der strengere Kontrapunkt war nicht bloß der ältere, sondern auch der altmodische Stil geworden. Polyphonie wird Archaismus. Wenn ein moderner Komponist – nennen wir einen der einflußreichsten, Alessandro Scarlatti, eine Messe schreiben will, so hat er die Wahl, sie ganz im »galanten«, oder ganz im »alten« Stil, das heißt dem der Palestrinazeit (oder was das 17. und 18. Jahrhundert für Palestrinastil hielt) zu schreiben, oder – die Stile, den leichteren und den strengeren, zu mischen. Wer nicht für die Kirche schrieb, brauchte sich mit dem strengeren Stil zeitlebens nicht abzugeben, zum Beispiel Gluck, von dem wir keine Fuge besitzen, weder vokal noch instrumental, und für den selbst das kaum existierte, was wir »freie Imitation« nennen.[175] Und Gluck hatte nicht unrecht, von seinem Standpunkt aus, sich um den strengen Stil nicht mehr zu kümmern. Denn was ihm seine Zeit und Umgebung hätte bieten können, war keine echte, lebendige Polyphonie mehr, sondern ein Artefakt, ein erstarrtes steifes Produkt der Lehrbücher – das berühmteste und modernste darunter selber schon ein Produkt posthumen Denkens, das dialogisch (!) abgefaßte Lehrbuch des kaiserlichen Hofkapellmeisters Johann Joseph Fux, der »Gradus ad Parnassum« von 1725. Ungefähr zehn Jahre später, 1735 oder 1736, schreibt ein kränklicher, lahmer, negroider Musiker in Neapel, Pergolesi, das »Duetto spirituale«, das im 18. Jahrhundert beispiellose Berühmtheit und Verbreitung erfährt: das »Stabat Mater«, das den Dualismus, den Zwiespalt der Stile bereits in Reinkultur zeigt: die Strophen des Jacopone da Todi aufgeteilt in ein Dutzend Arien und Duetti, reinster Opernoder sogar Buffostil gemischt mit der konventionellen und armen »Polyphonie« von Sätzen wie das »Fac, ut ardeat« oder das »Amen« nach dem »Quando corpus morietur«.
Nun, dieser Mischstil aus »Galant« und »Gelehrt« bleibt maßgebend für das ganze 18. Jahrhundert; besonders in der Kirchenmusik. Man schreibt natürlich da und dort, in Deutschland und Italien, noch instrumentale Fugen, ohne daß eigentlich, außer dem stillen Mann in Leipzig und seinen Söhnen und Schülern, noch jemand sich bewußt ist, was es um Erfindung eines echten Fugenthemas und seiner legitimen Durchführung auf sich hat. Aber in der Kirchenmusik war es traditionell geworden, gewisse Teile oder Abschnitte »polyphon«, »fugweis« zu behandeln; in der Messe etwa das »Et vitam venturi« und »Cum sancto spiritu«, manchmal auch das »Patrem« oder »Dona«; im Tedeum das »In te Domine speravi«, in der Litanei das »Pignus«; im Magnifikat das »Sicut erat in principio« usw. Wer Kirchenmusiker war, hatte sich vertraut zu machen mit allem, was »strenger Stil« heißt.Leopold trägt dieser Zeitlage volle Rechnung in der Erziehung seines Sohnes. Er läßt ihn 1767 »Fugen fürs Clavier« schreiben, die verloren sind; schon zwei Jahre vorher, in London, hatte Wolfgang für das British Museum einen kleinen vierstimmigen Chor (K. 20) geschrieben, von dem man sagen[176] kann, daß er »polyphonierend« ist; denn polyphon zu schreiben war ja der beste und höchste Beweis für die Frühreife eines Wunderkinds. Der »Galimathias musicum« von 1766 hatte mit einer Fuge geschlossen, deren Thema dem Lied »Willem van Nassau« entnommen war. Sie bedarf bezeichnenderweise der energischen Nachhilfe des Vaters. In der G-dur-Kassation vom Frühjahr 1769 schreibt Mozart bereits ein Menuett, in dem die Bässe den Streichern im Abstand eines Taktes kanonisch nachfolgen: – genaue Imitation eines Menuetts aus Joseph Haydns G-dur-Sinfonie (Nr. 23) von 1764, die Mozart vermutlich in Wien gehört hatte:
Mozart und der Kontrapunkt

Mozart und der Kontrapunkt

Und ein ähnliches Kunststückchen findet sich im Menuett der Salzburger G-dur-Sinfonie vom Juli 1771 (K. 110), nur daß die kanonisch nachahmende Stimme in der Unterquint folgt – in der Freiheit der Behandlung bereits eine höhere Stufe des Könnens. Denn inzwischen hatte Mozart sich bereits mit älterer, strengerer Polyphonie zu befassen, als er, im Frühjahr und Herbst 1770, Bologna und den Padre Giambattista Martini besuchte. Martini veranlaßte ihn zu kanonischen Übungen im Stil der etwas farblosen Kanons, die er selber als Vignetten seiner Musikgeschichte beigegeben hatte, und suchte ihn vertraut zu machen mit einem älteren polyphonen Vokalstil, von dem der alte Franziskaner, vielleicht als einziger im 18. Jahrhundert, noch einen vollen und wahren Begriff hatte. In Florenz,[177] nach dem ersten Bologneser Besuch, hatte Wolfgang dann Gelegenheit, in einem Stabat Mater des großherzoglichen Musikintendanten, des Marchese di Ligniville, den knöchernsten Kontrapunkt der Welt kennenzulernen, und er ist so emsig oder impressioniert, daß er sich aus dem gestochenen Werk nicht weniger als neun Sätze abschreibt, wie er auch aus Padre Martinis »Storia della musica« ein paar Rätselkanons kopiert und auflöst.
Die Übungen, die Padre Martini ihm auferlegt, sind Vorbereitung für Mozarts vielberufene Aufnahme in die berühmte Accademia filarmonica zu Bologna, am 10. Oktober 1770. Die Aufnahmebedingungen waren streng. Der Kandidat erhielt ein Stück gregorianischen Gesanges vorgelegt, im Falle Mozarts war es eine Antiphonmelodie, zu der er unter Klausur drei Oberstimmen im strengsten Stil, »in istile osservato« zu komponieren hatte. Nun, Mozart versagt vollkommen. Alle Ruhmredigkeiten Leopolds über Wolfgangs gloriose Lösung der Aufgabe haben sich als Schwindel erwiesen. Im Archiv der Accademia filarmonica und des Liceo Musicale zu Bologna sind alle drei Dokumente für den Vorgang erhalten: die ursprüngliche, in Klausur angefertigte Arbeit Mozarts, die Korrektur Padre Martinis, und Mozarts Abschrift dieser Korrektur, die dann der Jury vorgelegt wurde. Das Verdikt lautet, trotz dieser Mithilfe des guten Padre, nicht rühmlich: »Nach einer kleinen Stunde« (Leopold redet immer von einer halben) »hat Signor Mozart seinen Versuch abgeliefert, der in Anbetracht der besonderen Verhältnisse als zureichend befunden worden ist« – »Nel termine di meno d'un'ora ha esso Sr. Mozart portato il suo esperimento, il quale riguardo alle circostanze di esso lui è stato giudicato sufficiente.« Das ist ein humanes und mildes Urteil und ein Urteil von viel Instinkt, das später von Mozart gerechtfertigt worden ist – die Accademia filarmonica kann sich keines größeren Mitgliedes, keines stolzeren Namens in ihren Listen rühmen als des des Wolfgang Amadeus Mozart.Mozart hat diese Bologneser Erfahrung rasch wieder vergessen. Alles was mit dem Stil des 16. Jahrhunderts zusammenhängt, dem echten oder dem archaistischen, bedeutet ihm nichts; er, der alle Stile und Komponisten nachahmen konnte, hat[178] nie das Bedürfnis gefühlt, Palestrina nachzuahmen. Zum mindesten nicht nach diesem unmittelbaren Vorbild.
In Salzburg, nach der Rückkehr von den italienischen Reisen, sucht er seinen »galanten« Kirchenstil durch das Studium kontrapunktischer Vorbilder zu vertiefen, und das Beweisstück dafür hat sich erhalten: in einem Heft von mehr als anderthalbhundert Seiten, in das Mozart Werke Salzburger Meister im strengeren Stil eingetragen hat, alle von J.E. Eberlin oder von Michael Haydn, Messen, Messenteile, Motetten, Offertorien, Gradualia. Dieser Begriff ernsten Kirchenstils wird für ihn in den nächsten sechs oder sieben Jahren maßgebend: in der Tat ein nicht unwürdiger Begriff, reich in der Harmonie, gesättigt mit Vorhalten, chromatisch belebt, fugiert mit ernsthaften und etwas provinzial-hausbackenen Themen. Eins dieser neunzehn Stücke, das »Benedixisti Domine« Eberlins, ahmt er nach und entwickelt das Fugenthema zu einem kontrapunktischen Prunkstück, dem Offertorium »Misericordias Domini«, im Januar oder Februar 1775 in München entstanden, zur Zeit der »Finta giardiniera«. Er hatte, heftig wegstrebend von Salzburg, es geschrieben, um dem bayrischen Kurfürsten auch seine Fähigkeiten im strengen Kirchenstil zu demonstrieren, und schickt (5. März 1775) die Partitur an Padre Martini. Martinis Urteil ist sehr bezeichnend. Er erwidert, daß er in der Motette alles finde, »che richiede la musica moderna, buona armonia, matura modulazione, moderato movimento de' Violini, modulazione delli passi naturale, e buona condotta« – »alle die Eigenschaften, die die moderne Musik verlangt, gute Harmonie, reiche Modulation usw.« La musica moderna! Für das feine, an den polyphonen Meisterwerken des 16. Jahrhunderts geschulte Ohr Padre Martinis war das moderne Musik, indes Mozart Kirchenmusik im echten, alten, strengen Stil geschaffen zu haben glaubte. Er hat Martinis Urteil sicherlich kaum ganz begriffen, zum mindesten als sehr zurückhaltend empfunden.Dieser Begriff von strenger Musik, von Kirchenstil, wie er im »Misericordias« erscheint, aber nicht bloß im »Misericordias«, sondern in allen »gearbeiteten« Teilen seiner Messen, Litaneien, Messensätze, bleibt ihm unverändert bis in die ersten Wiener Jahre. Da gerät er in den Kreis eines vielberufenen Gönners[179] und Musikfreundes, des Barons Gottfried van Swieten. Van Swieten, Sohn des Leibarztes der Kaiserin, 1734 geboren, seit Ende 1777 Präfekt der Kaiserlichen Hofbibliothek, hat im Leben aller drei Musiker, die als »Wiener Klassiker« bezeichnet werden, eine Rolle gespielt: er hat Beethoven mit Händels Oratorien bekannt gemacht, er hat ihn in Shakespeares und Homers Werke eingeführt und ist der Träger der Dedikation von Beethovens Erster Sinfonie geworden; und ohne van Swieten wären weder Haydns »Schöpfung« noch »Die Jahreszeiten« entstanden. Aber noch bedeutungsvoller wird die Bekanntschaft mit diesem umstrittenen Mann – er war unbestritten, unter allen Umständen, ein fürchterlicher Pedant und ein erbärmlicher Knauser – für Mozart. Van Swieten hatte in seinem Haus eine Privatmusik eingerichtet, »die nicht für Zuhörer berechnet war«. »Die Grundlage bildete ein Streichtrio, das sich durch Haydns oder eines andern Komponisten Anwesenheit gelegentlich zu einem Quartett erweiterte. Den Stamm bildeten der Hofkapellmeister Starzer und der Hofsekretär Karl von Kohaut ...« (R. Bernhardt, G.v. Sw., in »Der Bär«, 1930, p. 140). Der Eintritt Mozarts in diesen Kreis lieferte den Klavier- und Partiturspieler. Man fand sich allsonntäglich zwischen zwölf und zwei Uhr in der Wohnung des Barons zusammen, und Mozart lernte aus englischen Partituren, die van Swieten während seines Aufenthalts in England 1769 erworben hatte, den »Judas Maccabäus«, »Joseph«, »Samson«, »Messias«, »Alexanderfest«, »Acis und Galathea«, Cäcilien-Ode, »Herakles«, »Athalia«, Trauerhymne, Utrechter Tedeum und kleinere Werke Händels kennen – wenn er auch manches davon schon selber als Knabe gehört haben mochte.
Es war ein Stil, der ihm nicht fremd war. Und so hält er für diese van Swietenschen Vormittagsstunden die Salzburger Kirchenmusik nicht für ungeeignet. Er bittet um Zusendung jenes Heftes mit Stücken von Ernst Eberlin und Michael Haydn (4. Jan. 1783): »... dann sind auch auf kleinen Papier blau eingebundener Contrapuncte von Eberlin, und etwelche sachen von Haydn dabey ...« und er fordert sogar den Vater auf, einiges von seiner eigenen Kirchenmusik einzusenden – was Leopold in weiser Selbsterkenntnis ablehnt. Worauf Mozart erwidert[180] (12. April 1783): »... wenn es wärmer wird, so bitte ich unter dem dache zu suchen, und uns etwas von ihrer kirchenmusik zu schicken; – sie haben gar nicht nöthig sich zu schämen. – Baron van suiten, und Starzer, wissen so gut als sie und ich, daß sich der gusto immer ändert – und aber – daß sich die Verränderung des gusto leider so gar bis auf die kirchen Musik erstreckt hat; welches aber nicht seyn sollte – woher es dann auch kömmt, daß man die wahre kirchen Musik – unter dem Dache – und fast von würmern gefressen – findet.« Aber das sind nur Höflichkeiten. Denn am 20. April 1782 hatte er dem Vater bereits geschrieben: »... wenn der Papa die Werke vom Eberlin noch nicht hat abschreiben lassen, so ist es mir sehr lieb – ich habe sie unter der hand bekommen, und – dann ich konnte mich nicht mehr erinnern, leider gesehen, daß sie – gar zu geringe sind, und wahrhaftig nicht einen Platz zwischen händl und Bach verdienen, allen Respect für seinen 4stimmigen satz; aber seine klavierfugen sind lauter in die länge gezogene versettl ...«
»Bach und Händel« – damit ist das Wort gesprochen und sind die entscheidenden Namen genannt. Und Händel nur aus »historischem Sinn«. Das Erlebnis Mozarts um 1782 heißt Bach. Am 10. April dieses Jahres schreibt er dem Vater, nachdem er ihn um Zusendung der oben erwähnten Eberlinschen Toccaten und Fugen und von sechs Händelschen Fugen (die also im Hause Mozart vorhanden waren) gebeten hatte: »... ich gehe alle Sonntage um 12 uhr zum Baron van suiten – und da wird nichts gespiellt als Händl und Bach. – ich mach mir eben eine Collection von den bachischen fugen. – so wohl Sebastian als Emanuel und friedeman Bach. – Dan auch von den händlischen; und da gehen mir nur diese noch ab ...«Die großen Ereignisse der Musikgeschichte sind manchmal abhängig von Zufällen. Es ist ein Zufall, daß Mozart in den engeren Kreis van Swietens eintrat; es ist ein Zufall, daß der Musikenthusiast oder Musikdilettant Van Swieten in den Jahren 1770 bis 1777 kaiserlicher Geschäftsträger am preußischen Hof war, das heißt der Verbindungsmann zwischen dem Grafen Kaunitz und Friedrich dem Großen. Es spricht für die Klugheit des Grafen, daß er, bei den ewig gespannten Beziehungen[181] zwischen Berlin und Wien, keinen diplomatischen Fuchs zu dem alten König schickt, der jedem Gauner gewachsen war (sogar den Gebrüdern Casanova), sondern den biederen Baron mit seinen musikalischen und literarischen Neigungen. Da der König selber die Musik aufgegeben hatte, bewegte sich van Swieten meist im musikalischen Zirkel der gestrengen Schwester des Königs, der Prinzessin Amalie, der Verächterin Glucks, der Gönnerin Marpurgs und ihres Kapellmeisters Kirnberger. In diesem Zirkel wird nur »strenge« Musik betrieben.
Aber es ist doch der König selber, der van Swieten auf Johann Sebastian Bach aufmerksam gemacht hat. Das Dokument dafür findet sich nicht in der Musikliteratur, sondern in Arneths »Geschichte Maria Theresias« (VIII, p. 621), wo es im Anhang seit fünfundsiebenzig Jahren geschlummert hat. In einem vertraulichen Brief (26. Juli 1774) an Graf Kaunitz über eine Audienz beim König erzählt van Swieten: »Entre autre il me parla de musique, et d'un grand organiste nommé Bach, qui vient de faire quelque séjour à Berlin. Cet artiste est doué d'un talent superieur à tout ce que j'ai entendu ou pu imaginer en profondeur de connoissances harmoniques et en force d'execution, cependant ceux qui ont connu son père, ne trouvent pas encore qu'il l'égale. Le Roi est de cette opinion, et pour me le prouver, il chanta à haute voix un sujet de fugue chromatique qu'il avait donné à ce vieux Bach, qui sur le champ en fit une fugue à 4, puis à 5, puis enfin à huit voix obligés.«Es ist klar, daß van Swieten vor diesem Julitag des Jahres 1774 in seinem Leben noch kein Wort über Johann Sebastian Bach gehört hatte und daß er den König ein wenig mißverstanden hat. Swieten hatte vermutlich zunächst Philipp Emanuel im Sinn; der »grand organiste«, den der König erwähnte, war jedoch Friedemann Bach, der am 15. Mai 1774 in der Berliner Nicolai- und Marienkirche sich auf der Orgel hatte hören lassen, mit sensationellem Erfolg. Aber die Kenner, die noch vertraut waren mit dem Spiel des »alten Bach«, ließen sich nicht blenden: seine überragende Größe mag ihnen durch den Triumph Friedemanns mit doppelter Stärke zum Bewußtsein gekommen sein. Der König stimmte ihnen bei, und brachte sich jenen Besuch des größten aller Meister – vom Mai 1747 – in[182] Erinnerung, jenen Besuch, der zur Entstehung des »Musicalischen Opfers« geführt hatte. Und van Swietens Interesse war geweckt. Er verschaffte sich die Werke Bachs. Noch im Jahre 1774 scheint er Philipp Emanuel Bach in Hamburg besucht zu haben; die Folge ist ein Briefwechsel, und der Ankauf einiger Johann Sebastianscher Werke. Van Swieten bringt nach Wien nicht bloß ein paar der gedruckten Werke Bachs mit, darunter die »Kunst der Fuge«, sondern auch Abschriften des »Wohltemperierten Claviers«, der Orgeltrios, vielleicht auch einiger der großen Präludien und Fugen für Orgel – in Wien damals vollkommen unbekannte Werke.
Für Mozart hat die Bekanntschaft mit diesen Werken eine Revolution und eine Krise in seinem Schaffen zur Folge. Diese Krise ist vielleicht nur zu vergleichen mit jener, die ein Künstler auf einem andern Gebiet durchzumachen hatte: Albrecht Dürer infolge seiner italienischen Reisen, namentlich der zweiten vom Jahre 1505 bis 1507. Die Bekanntschaft mit Mantegna und Bellini verrückt dem nordischen Schüler des Michael Wolgemut vollkommen das Konzept. Er schafft Werke wider seine Natur, in denen er nicht mehr ganz er selber ist und doch niemals die stille Sicherheit, die natürliche Süßigkeit der venezianischen Vorbilder erreicht. Und dennoch besäßen wir, ohne diese Krise, nicht die zwei Apostelpaare von 1526 – Synthese des Nordischen und Südlichen, des Persönlichen und Allgemeinen, Gipfelwerk alles dessen, was ein großer Künstler im Lauf eines Lebens gelernt hat. (Nebenbei: wenn wir Lust hätten, das beliebte Spiel der Parallelisierung von Künstlern aus disparaten Kunstgebieten mitzumachen, so könnte Mozart in der Tat nur mit Dürer verglichen werden. Nichts ist oberflächlicher und schiefer als der Vergleich Mozarts mit Raffael – es müßte denn der Vergleich Beethovens mit Michelangelo sein.) Wir werden dieser Synthese auch bei Mozart inne werden.Man glaube nicht, daß Mozart der einzige war, der die Gefahren des Zwiespalts zwischen dem galanten und nur galanten Stil und dem gelehrten Stil fühlte. Carl Philipp Emanuel Bach, in seiner Selbstbiographie (in Bodes Übersetzung von Burneys »Reisen«, III, 201) beklagt den seit der Zeit seines Vaters eingetretenen Verfall der Musik: »... wer kennt den Zeitpunkt[183] nicht, in welchem mit der Musik sowohl überhaupt als besonders mit der accuratesten und feinsten Ausführung derselben eine neue Periode sich gleichsam anfing, wodurch die Tonkunst zu einer solchen Höhe stieg, wovon ich nach meiner Empfindung befürchte, daß sie gewissermaßen schon viel verloren habe. Ich glaube mit vielen einsichtsvollen Männern, daß das jetzt so beliebte Comische hieran den größten Anteil habe. Ohne Männer anzuführen, welchen man vielleicht vorwerfen könnte, daß sie entweder gar nichts oder nur wenig Comisches gemacht haben, will ich einen der jetzt lebenden größten Meister im Comischen, Signor Galuppi, nennen, welcher mir in meinem Hause zu Berlin vollkommen beipflichtete, und einiger sehr lächerlichen Vorfälle, welche er sogar in einigen Kirchen Italiens erlebt hatte, bei dieser Gelegenheit erwähnte ...« Aber Philipp Emanuel und Baldassare Galuppi konnten den Verfall oder den Dualismus zwischen »Galant« und »Gelehrt«, die Krise der Musik ihrer Zeit nur beklagen oder sich darüber mockieren. Überwunden haben sie nur Haydn und Mozart, jeder auf seine Art.
Van Swieten wird Anlaß, daß Mozart sich gründlich mit Bach beschäftigt. Für das Streichtrio seines Gönners arrangiert er zunächst drei Fugen aus dem »Wohltemperierten Clavier«, eine aus der »Kunst der Fuge« und eine Orgelsonate (Nr. 2) sowie eine Fuge von Wilhelm Friedemann Bach. Vier von ihnen versieht er mit Präludien im langsamen Tempo, während er für die zwei übrigen Sätze aus Bachs Orgelsonaten benutzt. Für Van Swietens vier Spieler – unter denen er wohl selber die Bratsche übernimmt – liegen die autographen Arrangements von fünf Fugen vor aus dem »Wohltemperierten Clavier« II; es waren ursprünglich wohl sechs oder mehr. Und nun beginnt, unter wohlgefälliger Aufmunterung durch Konstanze (es ist der einzige Zug, der für ihre wirkliche Musikalität spricht), für Mozart eine Zeit der Fugenkomposition, deren großartigste Spuren die C-moll-Messe aufweist. Bezeichnend, daß nur ein Bruchteil dieser Fugen zu Ende geführt ist. Für eine Klavier-Violin-Sonate (K. 402) in A beginnt Mozart als Finale eine Fuge zu schreiben, die aus doppeltem Grund unvollendet bleibt: weil sie eben für Konstanze komponiert und eine Fuge ist. Und[184] die vollendeten haben einen archaistischen Beigeschmack. Woran liegt es, daß die an sich meisterhafte Fuge aus K. 394, vom April 1782, nicht konkurrieren kann mit einer Bachschen Fuge, etwa der in c-moll aus dem »Wohltemperierten Clavier I«, der sie nachgebildet scheint? Trotz aller Kunst der Augmentation, Diminution, Engführung des Themas:
Mozart und der Kontrapunkt

Weil das Thema zu »gelehrt«, zu neutral, zu wenig mozartisch ist, indes Bachs Fugen immer bachisch sind und nicht bloß Augmentation, Diminution, Engführung erleben, sondern etwas Persönliches, was nur ihnen allein zustoßen kann. Das gleiche gilt, in fast noch höherem Maße, von der Fuge in der Suite »im Händelschen Stil« K. 399:
Mozart und der Kontrapunkt

Das Merkwürdigste an dieser sehr häkeligen Fuge in a-moll ist ihre Übergangsfunktion: von einer Ouverture in C-dur zu einer Allemande in c-moll.Wir brauchen Mozarts Nöte in der Auseinandersetzung mit Bach oder der Polyphonie hier noch nicht im einzelnen zu verfolgen. Betont muß nur werden, daß es wirkliche Nöte waren, eine wirkliche Krise des Schaffens. Mozart war ein zu großer und feiner Musiker, um diesen Zusammenstoß seiner »galanten« und »gelehrten« Gewohntheit mit einem lebendig polyphonen Stil nicht tief und peinigend zu empfinden. Für Bach bestand der musikalische Dualismus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht. Die kleinste Gavotte, der kürzeste Passepied aus einer seiner Klaviersuiten mag »galant« erscheinen, ist aber in Wahrheit so polyphon empfunden wie einer der Orgelchoräle oder die »Kunst der Fuge«. Glaubt man, Mozart habe die übermenschliche Großartigkeit dieses Werks nicht tief[185] empfunden, als eine Überwältigung, wie sie ihm die ganze zeitgenössische Produktion nicht zu bieten hatte? Wo waren Werke wie Bachs Orgeltrios, in der gesetzlichen Freiheit, der freien Gesetzlichkeit ihrer Stimmführung, in dem Umfang und der Logik ihrer Form? Mozart ist mit diesem Erlebnis niemals ganz fertig geworden, aber es hat immer vollkommenere Werke in seiner Phantasie gezeitigt. Das erste ist ein »Menuetto in Canone« in der Serenade für acht Blasinstrumente K. 388 (Juli 1782), mit dem »Trio al rovescio«: – ein Kunststück, in dem Mozart allerdings noch mehr Joseph Haydn folgt als Johann Sebastian Bach. Und das zweite ist vielleicht die Fuge für zwei Klaviere in c-moll (K. 426), die er später selber eines Arrangements für Streichorchester gewürdigt und mit einem einleitenden Adagio (K. 546) versehen hat. Und die Krone seiner Bemühung um die Fuge findet sich in der Fantasie für eine Orgelwalze in f-moll aus seinem letzten Lebensjahr, oder im Adagio und Allegro für ein dergleichen Instrument (K. 594) ein paar Monate vorher vollendet. Da hat seine Meisterschaft die volle Freiheit auch in der Bewältigung des »strengen Stils« erlangt, um so bewundernswerter, als er das Adagio und Allegro »für den Uhrmacher«, nämlich den Grafen Deym, der das Stück als Trauermusik zum Andenken eines Helden, des Feldmarschalls Laudon, bestellt hatte, nur mit Mühe zu Ende brachte, »weil es eine mir sehr verhaßte Arbeit ist ...«
Nach den Jahren 1783 oder 1784 komponiert Mozart keine Fuge mehr bloß um der Fugenkomposition willen. Man wird ja wohl das Finale des G-dur-Streichquartetts (K. 387) oder der großen C-dur-Sinfonie nicht als Fugen ansehen wollen. Es handelt sich um etwas anderes und Neues, für dessen Schöpfung Mozart durch Haydn durch dessen »dialogische Quartette«, durch dessen Durchführungsteile Hilfe erhalten hatte. Mozart lernt von Haydn, die Polyphonie, den Kontrapunkt scherzhaft zu behandeln, als ein Spiel der Laune und des Witzes – allerdings auch als ein Objekt des größten Ernstes. Haydn hat seit 1780 kein Quartett und keine Sinfonie mehr geschrieben, in der das Finale »fugweis« behandelt wäre, wie vordem öfter; und wenn er, etwa im Streichquartett op. 76, 5, ein Menuett in Kanonform schreibt, so ist das ein sehr grimmiger Humor. Für[186] Mozart bleibt Kontrapunkt fast immer etwas sehr Ernsthaftes. Streitbar ist sein Kontrapunkt vielleicht nur im Menuett der g-moll-Sinfonie, in dem man vier oder fünf Stimmen zu hören glaubt, indes es nur zwei sind:
Mozart und der Kontrapunkt

Mozart sucht den Kontrapunkt, die »Kunst«, am liebsten zu verstecken; sie darf nicht als Künstlichkeit erscheinen. Das liegt in seiner Natur. Wie hatte er dereinst über den Vortrag des Geigers Franzl in Mannheim geschrieben (22. Nov. 1777)? »... er spiellt schwer, aber man kennt nicht daß es schweer ist, man glaubt, man kann es gleich nachmachen; und das ist das wahre ...« So hört man, seit 1783, in seinen Werken »schwierige« Dinge, ohne es zu merken, weil die Schwierigkeit spielend überwunden ist. Und wenn man wissen will, wie Mozart über lediglich »gelehrte« Musik dachte, so lese man sein Urteil über ein Concerto für zwei Flöten des Augsburger Kapellmeisters Friedrich H. Graf (14. Okt. 1777): »... Das Concert ist so. gar nicht gut ins gehöre, nicht natürlich. er marschiert oft in die Töne gar zu – – Plump; und dieß alles ohne die mindeste hexerey. wie es vorbey war, so lobte ich ihn recht sehr; dann er verdient es auch. der arme Mann wird mühe genug gehabt haben. er wird genug studiert haben ...«Hier hat man Mozarts Ästhetik in nuce. Musik darf nicht »schwitzen«, sie muß natürlich sein bei höchster Kunst. Und so kommen Dinge zustande wie in »Così fan tutte«, der buffoneskesten all seiner Buffo-Opern, der As-dur-Kanon im zweiten Finale »– E nel tuo, nel mio bicchiero ...«, den der »gewöhnliche« Hörer gar nicht inne wird, der aber für den Kenner noch eine doppelte Funktion hat: er ist ein lyrischer Ruhepunkt im Wirbel dieses Finales, und – er läßt reine Schönheit aufleuchten, als ein Symbol, daß alles in diesem Drama nur Schein ist, ein süßes und schmerzliches Gefühl von der Irrealität des Vorganges.[187] So kommen ferner Dinge zustande wie der kombinatorische Beginn des Allegros in der Prager Sinfonie, den Mozart sich selber erst durch eine Skizze klargemacht hat. Fast ein Dutzend Motive sind hier kombiniert, aber dem Hörer geht die Natürlichkeit dieser Struktur unmittelbar ein, sie »riecht nicht mehr nach Gelahrtheit«. Nichts dergleichen findet sich bei Haydn, der es liebt, so simpel als möglich zu beginnen, seine Themengruppe so unscheinbar als möglich einzuführen, um dann in einer langen, witzigen, oft auch hitzigen Durchführung zu zeigen, was alles man aus solcher Simplizität machen kann. Er ist ein Musiker der Überraschung. Mozart ist das gar nicht. Bei Haydn ist die Reprise fast immer das Resultat eines dramatischen Prozesses, sie springt aus ihm heraus wie der Blitz aus der Wolke. Bei Mozart leitet die Durchführung fast immer zurück zur Reprise, oder die Reprise ist unvermerkt vorhanden wie im ersten Satz der g-moll-Sinfonie. Wyzéwa und Saint-Foix haben die Kürze von Mozarts Durchführungen beklagt, als ein Erbteil des Vaters (I., 8–9). Als ein Erbteil des Vaters, von dem der Sohn so wenig gelernt hat? Und warum, nach der Bekanntschaft mit Haydn, hat er diese Durchführungen nicht verlängert? Und ist Kürze ein Fehler? Bedarf die Prager Sinfonie, kombinatorisch in sich selber, einer langen Durchführung? Und ist diese Durchführung nicht doch eine Steigerung des Kombinatorischen zu noch größerer Strenge, größerer Verdichtung?
Die Prager Sinfonie enthält im langsamen Satz, noch ein weiteres Beispiel für die wundersame Verschmelzung von »Galant« und »Gelehrt«, die Mozart am Ende seines Lebens erreicht hat. Da tritt, gleich in der Exposition, das Unisonomotiv auf
Mozart und der Kontrapunkt

das sogleich in kanonischem Dialog zwischen Violinen und Bässen weitergeführt wird, mit simpler harmonischer Ausfüllung der übrigen Streicher und Hörner. Aber in der Durchführung wird dieser Kanon nicht nur selber chromatisch streitbarer,[188] auch die »Ausfüllung« wird reicher und erregter, namentlich in der zweiten Violine:
Mozart und der Kontrapunkt

Es gibt dergleichen Dinge bei Mozart hundert und tausend; sie sind Zeugnisse jener »zweiten Naivität«, für die nur ein paar Meister in allen Künsten prädestiniert waren und die eigentlich ein langes Leben voraussetzen – bei Mozart sind sie um so wunderbarer, als er nur sechsunddreißig Jahre alt wurde. Manchmal zeigt er seine Kunst ein wenig offener, indem er, am Ende eines Satzes, dem motivischen Material einen neuen »Contrapunct« hinzufügt – bald launig, wie im Finale des Es-dur-Streichquartetts (K. 428):
Mozart und der Kontrapunkt

– bald mit innigstem Gefühl, wenn er im Andante cantabile des C-dur-Quartetts (K. 465) mit einer Coda abschließt, in der die erste Violine ausspricht, was hinter dem dialogisch-kombinatorischen Spiel des Seitenthemas verborgen schien. Man vergleiche solche Dinge mit der auftrumpfenden Polyphonie des »Meistersinger«-Vorspiels, und man wird fühlen, was gemeint ist.
Quelle:
Einstein, Alfred: Mozart. Sein Charakter, sein Werk. Zürich, Stuttgart 31953, S. 174-189.
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