X.

Erste Pariser Versuche und Enttäuschungen.

[337] Erste Anknüpfungen. – Anders, Lehrs und Kietz. – Komposition französischer Romanzen. – ›Liebesverbot‹ am Renaissancetheater. – Scribe und Berlioz. – Große Oper und Théâtre des Italiens; Conservatoire: IX. Symphonie. – Eine Faust-Ouvertüre. – Laube, Heine, Pecht. – Umzug in die Rue du Helder. – Bankerott des Renaissancetheaters.


›Man hat mich versichert, ich habe Talent: – habe ich mir denn nun etwa Tunis ausgewählt, um es geltend zu machen? Nein, ich bin nach Paris gegangen, an den Hauptplatz der Welt, wo die Kunst aller Nationen in einen Brennpunkt zusammenströmt, wo die Künstler aller Nationen Anerkennung finden. Hier werde ich nächstens erfahren, ob man mich betrogen hat, als man mir Talent zusprach, oder ob ich wirklich welches besitze‹.

Richard Wagner (Ein Ende in Paris.)


Richard Wagner in Paris sein Glück und seine Zukunft suchend, welch seltsames Bild, welch rätselhafter Schicksalsweg! Es gibt einen Vorgang, der sich mit seinen Erfahrungen während seiner enttäuschungsreichen dreijährigen ersten Pariser Periode vergleichen läßt: Luthers Aufenthalt in Rom. Hier wie dort wird die Zerstörung des guten Glaubens eines deutschen Idealisten zum Ausgangspunkt einer reformatorischen Tat. Er hatte einen nicht minder aufrichtigen Glauben an den ›Hauptplatz der Welt‹ mit sich gebracht ›wo die Kunst aller Nationen in einen Brennpunkt zusammenströmt‹, als einst der arme Augustinermönch an den weltlichen Mittelpunkt der Kirche, an die Heiligkeit von St. Peters Sitz und Stuhl. Er war darauf gefaßt, in ehrliche Ringen und Ausdauern manche Zurücksetzung, manche bittere Entbehrung auf sich zu nehmen; aber es war kein unbestimmter Ehrgeiz, der ihn aufs Geratewohl in die üppige Sphäre der Pariser großen Oper trieb, sondern die in ihm lebende Vorstellung einer kunstgeschichtlichen Bedeutung dieser prunkenden Erscheinung, in welcher sie sich mit seinem innersten Ideal zu berühren schien. Dem örtlichen Ausgangspunkt dieser ›großen Oper‹ vermeinte er zugleich auch den Anspruch auf eine gerechte, ausschlaggebende Entscheidung über Wert und Unwert einer künstlerischen Leistung zugestehen zu müssen. Indem seine Erfahrungen [338] ihm diese Überzeugung zertrümmerten, veränderten sie sein bisheriges Urteil nach mehr als einer Richtung. ›Ich betrat eine neue Bahn, die der Revolution gegen die künstlerische Öffentlichkeit der Gegenwart, mit deren Zuständen ich mich bisher zu befreunden gesucht hatte, als ich in Paris deren glänzendste Spitze aufsuchte‹. Mit anderen Worten: die schmerzlichsten Enttäuschungen konnten ihm nicht erspart bleiben, damit der Reformator in ihm seine Laufbahn beginne.

Den äußeren Verlauf dieser Erfahrungen faßt Gasperini in seiner Schilderung dieser Epoche drastisch in einige Hauptzüge zusammen: ›Auf die Empfehlung Meyerbeers tun sich ihm alle Türen auf: der Direktor der »großen Oper«1 öffnet ihm die Arme, Schlesinger bietet ihm tausend Dienste an, Habeneck behandelt ihn als seinesgleichen; kurz, einen Monat hindurch kehrt Wagner allabendlich, entzückt von Paris und den Parisern, erstaunt über die ihm bereitete Aufnahme, gerührt von den Zuvorkommenheiten, mit denen man ihn überhäuft, in seine enge Behausung in der Tonnelleriestraße zurück. Er glaubt sich nahe am Ziele, es scheint ihm schon erreicht. Der nächste Monat kühlt seine Begeisterung ab. Er glaubt zu bemerken, daß der Direktor, sobald er ihm von seiner Oper spricht, seine schmeichelhaften Wendungen in reservierterer Form vorbringt; wenn er eine Audition an einem bestimmten Tage verlangt, sichtlich zurückweicht und seine Liebenswürdigkeit verdoppelt, um ein bestimmtes Versprechen zu vermeiden. Mit deutscher Pünktlichkeit stellt er sich zu verabredeten Zusammentreffen ein, bei denen die Personen, die ihn eingeladen haben, zu erscheinen vergessen; überall begegnet er Leuten, die ihre höflichen Versicherungen in dem Maße verstärken, als sie in Wahrheit sich mehr und mehr ihm zu entziehen wissen. Eines schönen Tages gelangt er zum Bewußtsein, daß er auf unrechtem Wege und all diese Zuvorkommenheit ein falsches Spiel sei. Bald bleibt kein Zweifel mehr übrig; er ist einsamer, verlassener denn je, weiter entfernt von dem vorgespiegelten Glücke, als am ersten Tage seiner Ankunft in Paris‹.

Auf solchen und ähnlichen Erfahrungen scheint seine eigene spätere Äußerung zu beruhen: ›man hat gefunden, daß es einem Franzosen häufig schwer fällt, sich von selbst eines gegebenen Versprechens zu erinnern: wütend aber wird er, wenn er von uns daran erinnert wird‹. Was ihr zur mildernden Ergänzung dienen kann, möge man in der unübertrefflich seinen Beobachtung des Schweizers Rousseau über den Charakter der französischen Liebenswürdigkeit nachlesen.2 Im einzelnen freilich stellt sich, was in obiger typischen [339] Darlegung in wenige große Züge zusammengedrängt erscheint, allerdings wohl recht abweichend dar. Vor allem hat die briefliche Empfehlung des großen Opernbeherrschers ihre geschilderte Zauberkraft keineswegs in so überraschender Weise ausgeübt. Meist versagte sie ganz; es blieb von Hause aus bei einem kalt-höflichen Empfang; so daß vielmehr aus dem Scherzwort eines der Pariser Freunde Wagners die alte Sage von doppelten Briefen Meyerbeers entstehen konnte: während dieser nämlich in dem mitgegebenen Empfehlungsschreiben den jungen deutschen Musiker als hervorragend begabt bezeichnet, habe er ihn in einem anderen, früher eingetroffenen, im voraus als unfähigen Menschen signalisiert, den er nicht anders als durch die ihm abgerungene Empfehlung los werden könne! Bald nach ihm selbst traf der mächtige Maestro für kurze Zeit persönlich auf dem Schauplatz ein und schien, was den Zwecken seines Schützlings irgend dienlich sein konnte, mit aller Sorgfalt einzuleiten Dringend empfahl er ihn an Anténor Joly, den Direktor des Theaters de la Renaissance; auch mit anderen Größen der Pariser Kunstwelt machte er ihn bekannt. Mehr war für den Augenblick nicht zu erreichen und namentlich an die ›große Oper‹ konnte vorläufig nicht gedacht werden.

Ein undatiertes Briefchen an Avenarius aus diesen bewegten Tagen der Anwesenheit Meyerbeers versetzt uns – als Momentbild – mitten in ihren heftigsten Drang. Begreiflicherweise war dem jungen Meister seit seiner Ankunft von seiten des Schwagers die freundlichste Teilnahme entgegengebracht, so verwundert dieser auch – nach den Begriffen eines einfachen soliden Geschäftsmannes – über das Ungewohnte der ganzen abenteuerlichen Pariser Expedition sein mußte, deren fast beängstigter Zeuge er geworden war. Auch dieses Zettelchen handelt von einer ihm zugedachten Aufmerksamkeit; er hatte Wagner für den Abend zum gemeinschaftlichen Besuch der italienischen Oper aufgefordert. Aber dieser war bereits früh um 10 Uhr ausgegangen und fand die Einladung erst vor, als er – ohne inzwischen viel zu sich genommen zu haben – bei sinkender Dämmerung um halb fünf Uhr abends ›müde und abgehetzt, wie fast nie zuvor‹ in seine Wohnung heimkehrte, nachdem er sich, bei der Garcia, bei Joly ›bei Dumersan, Meyerbeer usw. herumgeschlagen‹. Er dankt daher herzlich für das Anerbieten, muß es sich aber wohl für ein anderes Mal aufsparen. ›Ich habe übrigens‹, so [340] schließen die hingeworfenen Zeilen, ›heute in der Garcia ein sehr liebenswürdiges und zuvorkommendes Geschöpf kennen gelernt, die sich mir angeboten hat in allem, was ich von ihr verlange, behilflich zu sein, – somit, hoffe ich, wird sie mir wohl auch dann und wann Billete zur Oper zu verschaffen wissen etc. etc. – Ich bin müde wie ein Hund! Viel Vergnügen, auch – ohne mich, wünsche ich herzlich. In großer Eile und Zerschlagenheit Ihr ergebener Richard Wagner‹. Ein anderes vergilbtes Blättchen, mit fast schon verblichener Tinte, zeichnet sich durch seine drollige Fassung, die ihm zu allen Zeiten seines Lebens so eigene tolle Mischung von Scherz und Pathos aus. ›Wertester Freund‹, so lautet das kleine Dokument eines, wie es scheint, hoffnungsvollen Augenblickes, ›meine Frau ersucht Sie ganz, ganz ergebenst, durch Überbringer dieses ihr gefälligst 10000 Franken zuzusenden; – sollte das in der Schnelligkeit nicht gleich möglich sein, so bittet sie wenigstens für 12 Stunden um Ihre gütige Kaffeemühle, die Sie morgen wieder zurückerhalten sollen. – Ich bin heute zum Diner bei Dumersan eingeladen. – Bis in den Tod Ihr Richard Wagner‹.

Ziemlich bald nach seiner Ankunft scheint indeß der junge Meister in äußerster Bedrängnis dazu genötigt gewesen zu sein, den Schwager nicht bloß im übermütigen Scherz, sondern im vollen Ernst um ein Darlehn anzugehen; die kleine Summe betrug 350 Francs und wir werden ihr weiterhin noch begegnen Inzwischen war er durch ihn mit einzelnen Landsleuten in Berührung gekommen, die in der deutschen Buchhandlung verkehrten. Unter ihnen ist vor Allen ein ganz eigentümlicher Sonderling hervorzuheben, der ›als politischer Flüchtling nach Paris geraten, eine kleine Stelle an der Bibliothek bekleidete und sich Anders nannte, dessen wahren Namen wir aber nie erfuhren‹.3 Die große Pariser Nationalbibliothek lag in derselben Straße mit der kleinen ›deutschen Buchhandlung‹, in letzterer hatte sich Anders, als Bibliothekar und als Landsmann, häufig eingestellt und so Avenarius Bekanntschaft gemacht. Dieser merkwürdige Anonymus, oder Pseudonymus, in seiner verschleierten, gleichmäßig resignierten Existenz, aus Bonn am Rhein gebürtig, aber ohne ein irgendwie greifbares Vorleben mit ausgesprochenen Jugenderinnerungen, dabei ein echter deutscher Gelehrter vom Scheitel bis zur Sohle, ist Wagner während seines ganzen Pariser Aufenthaltes und weit darüber hinaus, treu zugetan geblieben und hat ihm, wiewohl er nicht über weitreichende Verbindungen verfügte, soweit es in seinen bescheidenen Kräften lag, stets mit Rat und Tat zur Seite gestanden. Wie Einer, der für sich selbst auf Alles verzichtet hat und nun das ihm versagt Gebliebene um so lebhafter von einem neugewonnenen jungen Freunde erwartet. Für ihn war die Begegnung [341] mit Wagner in seiner verkümmerten abgeschlossenen Junggesellenexistenz ein wahrer Sonnenblick. Wagner selbst charakterisiert ihn gelegentlich in einem Briefe nach Deutschland seinem Berufe nach als ›Mitarbeiter der Gazette musicale, Employé auf der Pariser Bibliothek und äußerst gründlichen Musikbibliographen‹,4 ein anderes Mal als ›Bibliothekar und gelehrtesten Musikphilologen und Historiker von der Welt‹,5 dessen begeisterte Vorliebe für Beethoven ihn seit lange ›die ausführlichsten und peinlichst genauesten Daten über seinen Bonner Landsmann und dessen Werke habe sammeln lassen‹.6 Noch im Jahre 1861 gedenkt seiner der Musikschriftsteller E. Schelle als des ›verdienten Konservators Herrn Anders an der Bibliothèque Impériale zu Paris‹, der ihm bei seinen Vorarbeiten zu einer Geschichte der Oper mit ›nicht genug zu rühmender Liberalität‹ das reichlichste Material für seine Forschungen zur Verfügung gestellt habe.7 Nun war aber Anders in seiner einfachen Garconbehausung (in dem Hotel garni eines Mr. Romeot, 59 Rue de Seine, St. Germain) durch enge Freundschaft mit dem ebendaselbst lebenden Philologen F. Samuel Lehrs verbunden, einem begeisterten Kenner des griechischen Altertums und feingebildeten philosophischen Kopf. Auch diesen führte er Wagner zu und alsbald war ein dreifacher Freundschaftsbund geschlossen, dessen Mittelpunkt das Geburtshaus Molières in der Tonnelleriestraße wurde, das dürftige Stübchen au quatrième, in welchem nunmehr, wenn es die Not des Augenblickes nur irgend zuließ, der Humor und die Ausgelassenheit ihren Sitz aufschlugen, Witz und Laune aus unversieglicher Quelle sprudelten. Die treue Freundschaft dieser Männer, die als die frühesten ›Wagnerianer‹ im Glauben an seinen Genius und seine Bestimmung sich bei ihm zusammenfanden, ist dem Meister unauslöschlich eingeprägt geblieben. Noch aus seinen Dresdener Briefen an die in der Fremde Zurückgelassenen klingt es uns deutlich entgegen, wie sehr sie mit ihren naiven und unmittelbaren Teilnahmsbezeigungen ihm ans Herz gewachsen waren. ›Des Abends sitzen wir allein, allein, und niemand tritt ein, wie sonst: ach, wie können doch die trübsten Lagen des Lebens so süße Erinnerungen hinterlassen!‹ Und wieder, in einem erhaltenen Brieffragment an Lehrs: ›Hier bin ich nicht vollständig, – wie Teufel soll ich ausgelassen und heiter sein, wenn hundert Meilen zwischen uns liegen?‹

Und dabei war der treffliche Lehrs, der eminent gelehrte Herausgeber der Homerscholien und des Hesiod in der Didotschen Ausgabe, des Oppianus, Nikander usw., durch tausend Plagen und Entbehrungen seines arbeitsvollen Pariser Daseins zu hoffnungslosem Dahinsiechen verurteilt. Über seine [342] äußeren Lebensverhältnisse haben wir nur so viel in Erfahrung bringen können, daß er, i. J. 1806 zu Königsberg geboren, sich der fördernden Unterstützung eines behaglichen Wohlstandes, dessen seine Familie sich noch während seiner ersten Kindheit erfreute, gerade während seiner Schul- und Universitätszeit durch rasches Abnehmen desselben beraubt und für sein Fortkommen ganz auf die eigene Kraft angewiesen sah.8 Nach Paris scheinen ihn die reichen handschriftlichen Schätze der dortigen Bibliothek gelockt zu haben, die er zunächst im Interesse seines älteren Bruders, des zu größerer Berühmtheit gelangten Königsberger Professors, kollationierte. Um die gleiche Zeit, als Wagner sich von Berlin nach Königsberg wandte, hatte er – einunddreißig Jahre alt – diesen Ort verlassen und sich an die Ufer der Seine begeben; sein erster, von dort aus an den Bruder gerichteter Brief ist vom 10. Februar 1837 datiert. Er berichtet ihm darin über einige dortige deutsche Schriftsteller und Gelehrte und die zum Teil sehr vorteilhaften Bedingungen ihrer Existenz, weiterhin (18. Sept. 1837) über seine Beziehungen zu Didot: ›zu jeder Tageszeit findet man ihn, den Älteren (der Jüngere ist Nebenperson und von ihm wenig die Rede) umlagert von Autoren, Korrektoren, Setzern, Druckern, Schriftgießern usw., so daß man gewöhnlich lange warten muß, ehe man an ihn kommen kann‹. So elend es ihm erging und so sehr seine Arbeitskraft von dem reichen Didotschen Hause bloß ausgenutzt wurde, blieb er dennoch von Paris eingenommen: ›es gibt für mich in der Welt keinen Ort, außer Paris, wo ich leben könnte‹ heißt es noch in seinem letzten Brief (7. Febr. 1843). ›Bei all den tausend und abertausend Bogen, die über Paris geschrieben und gedruckt sind, weiß man nichts davon, ohne es gesehen zu haben. Hier kann man nicht klagen (wie in Wien), daß die Ideen ausgehen: jeden Augenblick flammen neue auf, oft schnurrig genug, aber man läßt sie ruhig brennen; da kommt kein gravitätisch-moralischer Lichtputzer, der sie auslöscht‹. Und für den Philologen sei es gerade der rechte Ort: ›jeder Duc, jeder Marquis, jeder Pair, jeder Deputé usw. meint, eine vollständige Sammlung der alten Autoren in seiner Bibliothek haben zu müssen;9 natürlich muß dies jedesmal die neueste sein. Da findet man denn an den Quais für einen Spottpreis Sammlungen, die zwei bis drei Jahre alt, folglich aus der Mode sind, großes, kleines, mittles [343] Format, stets schön gedruckt und auf schönem Papier‹. Während seines, nicht ganz siebenjährigen, Aufenthaltes in Paris besorgte er, im beständigen Kampf mit den Beschwerden des äußeren Lebens und den körperlichen Leiden einer empfindlich organisierten Natur, für F. A. Didot die 1841 erschienene Ausgabe der griechischen Epiker10; die durch seinen Tod unterbrochene, fast druckfertig hinterlassene der Didaktiker11 vollendete der Bruder, welcher auch die Vorrede dazu schrieb. ›Wenn ich so bedenke, wie ich zusah und zusehen mußte, wie dieser arme brave Freund so vor meinen Augen langsam von dem Schicksal, das alles Edle und Anspruchslose verfolgt, hingemordet wurde!‹ ruft Wagner noch in der Erinnerung daran aus. ›Er hatte zu arbeiten, zu laufen und sich zu ärgern; konnte er sich durchaus ruhig halten, einem angenehmen Müßiggang sich hingeben, so war er leicht zu heilen‹.12 Ähnlich klingt es uns aus den Lehrsschen Briefen an seinen Bruder entgegen.13 ›Hätte ich Zeit, d. h. hätte ich Geld, um einen Teil meiner Zeit zu einer Arbeit nutzen zu können, die vor der Hand nichts einbringt‹ usw.;14 ›mir geht's gegenwärtig ziemlich erbärmlich‹;15 ›viel lästige Arbeit etc., aber ich wollte das Alles schon klein kriegen, schenkte mir nur der Himmel meine Gesundheit wieder‹.16 Merkwürdigerweise machte dieser mehrgenannte Bruder, der Königsberger Philologe, in seiner ersten Lebenshälfte ebenfalls den Eindruck eines siechen, hinfälligen, vor der Zeit gealterten Mannes, bei dem man nur auf eine kurze Lebensdauer rechnen konnte, bis ihm i. J. 1845 seine Ernennung zum ordentlichen Professor aus einer ›kaum noch erträglichen Lage‹ die ›Erlösung‹ brachte, welche dem – unstreitig weit bedeutender veranlagten – jüngeren Bruder verwehrt geblieben war!17 Es ist noch heute ergreifend, den jungen Meister, nachdem er erst kürzlich in Dresden den Triumph seines ›Rienzi‹ erlebt, über den Verlust dieses Trefflichen klagen zu hören. ›Ganze acht Tage nach Empfang dieser Nachricht‹, sagt er, ›war mein Kopf, mein ganzes Wesen, dumpf und ausdruckslos; es lag wie ein Unglück über mir, so daß ich kaum die Stirn zu erheben vermochte!‹ Wir hören anläßlich seines allzufrühzeitigen Endes [344] (13. April 1843) auch noch von anderer Seite über Lehrs so manches wohlwollende und anerkennende Wort: die Personen seines nächsten Umganges hätten ihn, nach einmal gemachter Bekanntschaft, ›mit standhafter Liebe umfaßt‹; selbst in seinem bescheidenen Hotel sei er nicht als Fremder, sondern als ancien ami de la maison angesehen worden. Wir erfahren auch, daß sich unter seinen hinterlassenen Papieren ›beispiellos regelmäßig geführte Tagebücher‹ mit Einzeichnung seiner Erlebnisse vorgefunden, worin er seiner Freunde ›mit fast enthusiastischen Lobsprüchen gedacht habe‹.18 Wie oft mag darin Wagners Name vorgekommen, wieviel unschätzbare kleine Vorfälle, intime Züge, mit den Augen bewährter Freundschaft gesehen und festgehalten, würden uns darin entgegengetreten sein und das Bild seines Pariser Ringens vervollständigt, so manche Lücken unserer Kenntnis ausgefüllt haben, – wären nicht jene Blätter durch eine bedauerliche Vernachlässigung spurlos abhanden gekommen!19 Wir würden alsdann Gelegenheit haben, den Namen Lehrs mit so mancher der folgenden Begebenheiten, wenn auch nur in dem Sinne einer teilnehmenden Ermutigung, verflochten zu sehen, so manches aus anderen Quellen Berichtete würde dadurch in einer neuen Beleuchtung erscheinen, – wogegen wir uns nun daran genügen lassen müssen, dem Getreuen an gegenwärtiger Stelle ein Denkmal errichtet zu haben. Aber auch Wagner hat ihn in seinen Lebenserinnerungen in bedeutsamer Weise verewigt. Er ist jener ›deutsche Philologe‹, welcher in der Novelle ›ein Ende in Paris‹ dem Sarge des armen deutschen Musikers das letzte Geleit auf den Kirchhof des Montmartre gibt,20 und aus dessen Händen der Meister nachmals das Gedicht vom Sängerkriege und damit die Anregung erhielt, diesen Gegenstand mit der ›Tannhäuser‹-Sage zu kombinieren.21

Von diesen, unserer Erzählung vorausgreifenden, Betrachtungen kehren wir für jetzt in den Spätherbst 1839 zurück, um noch eines Freundes zu gedenken, der sich – es ist nicht genau zu bestimmen zu welchem Zeitpunkt – als Dritter den beiden bereits gewonnenen hinzugesellte. Es war dies der Maler Ernst Kietz aus Dresden, ebenso blutarm, wie die drei Anderen, etwa ein halbes Jahr früher als Wagner zu seiner Ausbildung nach Paris gekommen und in das berühmteste Atelier, dasjenige des heute fast vergessenen Paul Delaroche (auf dem Montmartre, in einem kleinen Hause der Rue Latour des dames) eingetreten, um hier seine Studien als Maler zu absolvieren, nachdem er bisher, auf der Dresdener Akademie, unter Mattei, [345] Rösler und Rietschel eigentlich nur Zeichner gewesen. Er hatte sich dort in den dreißiger Jahren, so erzählt ein älterer Bekannter, vorzüglich mit Porträtsen crayons beschäftigt, die nicht allein sehr naturgetreu, sondern mit Geist und Lebendigkeit dargestellt waren, in der Mauier des französischen Zeichners Grevedon, dessen lithographisch vervielfältigte Köpfe eben sehr in Aufnahme standen.22 Sein Studiengenosse Friedrich Pecht, dem wir in unserer Erzählung bald persönlich begegnen werden, nennt ihn einen ›talentvollen Porträtmaler‹ und beruft sich dafür auf das sprechend ähnliche Porträt Wagners (im geblümten Schlafrock), welches er noch in demselben Winter zeichnete und das nachher weltbekannt geworden ist. ›Er war mit mir Schüler Delaroches und ergötzte uns besonders dadurch, daß er bei allen französischen Zeitwörtern hartnäckig nur den Infinitiv in Gebrauch nahm‹. Nach Kietz' eigenen Erinnerungen sei seine Pariser Begegnung mit Wagner nicht die erste gewesen, er sei bereits in den 30er Jahren in Leipzig in einer Familie Lippold mit ihm zusammengetroffen Wagner habe daselbst gelegentlich einer Familienfestlichkeit eine eigene Komposition dirigiert; der junge Komponist habe ihm sehr imponiert, doch wären sie damals nicht miteinander bekannt geworden. Nun habe ihm aber eines Tages in Paris Avenarius einen Brief gezeigt, worin ihm sein Schwager seine bevorstehende Ankunft ankündigte. Er sei von dieser Aussicht keineswegs erbaut gewesen, denn beide Familien, Brockhaus und Avenarius, hätten kein Zutrauen in Wagners hervorragende Fähigkeiten gesetzt. So sei denn an Kietz die Bitte ergangen sich seiner anzunehmen, was dieser gern zu tun bereit war, ›teils aus Interesse von seiner Leipziger Begegnung her, teils weil ihm Wagner leid tat, da er wußte, wie ungelegen er den Verwandten kam‹. Fernere Beziehungen ergaben sich aus tausend gemeinsamen Dresdener Erinnerungen und aus Kietz' enger Befreundung mit dem (der Familie Wagners schon von Geyers Zeiten her nahestehenden) Dresdener Schauspieler Ferd. Heine23 Sein gutmütiges, äußerst naives und drolliges Wesen machte ihn dem jungen Meister lieb und sogleich wurde er dem abendlichen Kreise eingereiht. ›Er ist ein liebenswürdiges Talent und ein prächtiges Gemüt‹, teilt er sich einige Zeit darauf an den oben genannten Heine mit, und wiederum: ›es ist ein vortrefflicher Mensch und mir sehr wert; ihm wird's gewiß immer gut gehen, denn alle Menschen müssen ihm gut sein‹.24 Kietz, Anders und Lehrs, alle drei in ihrem Charakter und Wesen von Grund aus abweichend und nur in der [346] einen Beziehung ihrer unbedingten Zugehörigkeit zu Wagner übereinstimmend, bildeten nunmehr das eigentliche ›Dreiblatt‹ seiner nächsten Freunde; dem sich dann in der Folge noch einzelne andere Persönlichkeiten vorübergehend anschlossen. Bei diesen Zusammenkünften in Wagners Wohnung war seine Gattin Minna durchaus keine Nebenperson. Mit den anziehenden Reizen ihrer auffallenden Schönheit ausgestattet und zugleich als sorgende Hausfrau, die aus Wenigem viel zu machen verstand, ja vielleicht als das einzige weibliche Wesen, welches diese einsam und zurückgezogen lebenden Männer in dem weiten Paris mit seiner widrigen Grisettenwirtschaft zu sehen bekamen, nahm sie von ihrem, dem ringenden Künstler gewidmeten Interesse einen guten Teil mit in Anspruch Wenn Jene schon aus Teilnahme für Wagner gern alles taten, was in ihren schwachen Kräften stand, so erregte es doppelt ihr Mitgefühl, sie mit ihm entbehren und leiden zu sehen. ›Sie war so wunderhübsch, daß sie allein schon ausgereicht hätte, das Ehepaar interessant zu machen‹, sagt Pecht von ihr, und noch nach zehnjähriger Trennung besang sie Anders in einem besonderen Gedicht (dessen komische Anfangszeilen ihr Wagner damals von Paris nach Zürich mitteilt25) und stieß jedesmal bei Tisch mit dem Glase Wein auf ihre Gesundheit an.

Werfen wir an dieser Stelle nun endlich einen zusammenhängenden Blick auf den Verlauf des heftigen Ringkampfes, den er in seinem ersten Pariser Winter zu bestehen hatte. Den zur Hälfte fertigen ›Rienzi‹ mußte er zunächst ganz bei Seite tun, und für den Anfang sich lediglich um ein erstes Bekanntwerden in dieser verwirrenden Mannigfaltigkeit der Erscheinungen abmühen. Von der ›geradezu unglaublichen Tätigkeit und Weltgewandtheit‹, welche er entwickelt habe, um sich auf diesem Terrain Eingang zu verschaffen, wird uns durch einen teilnehmenden Zuschauer derselben26 ein recht lebhaftes Bild entworfen. ›Man muß wissen, was das heißt, in Paris, wo Talente aus allen Ländern zusammenströmen, in diesem verzweifelten Ringen oft hochbegabter Menschen, emporzukommen oder sich auch nur die allergewöhnlichste Existenz zu begründen; in einem Lande, das dem Fremden wenig mehr als höflich kalte Abneigung entgegenbringt, wo bei dem ewigen Zuströmen neuer Erscheinungen Jeder nur rücksichtslos seinen Vorteil verfolgt. Unglücklicherweise entbehrte Wagner gerade derjenigen Eigenschaften, durch die man sich als Musiker in Paris allein Platz machen kann: er spielte nur höchst unvollkommen Klavier, konnte also seine Kompositionen niemand verständlich machen; dazu sprach er das Französische schlecht, ermangelte also der beiden bedeutendsten Werkzeuge, um sich Eingang zu verschaffen.27 Überdies brauchte er beständig [347] Geld, anstatt es, wie Meyerbeer, im Überfluß verschwenden zu können. Ich kann es mir darum heute noch lediglich durch die geheimnisvolle Magie seines Wesens, seine sprühende Lebendigkeit und die gewinnende Erscheinung, sowie durch seine ungeheure Willenskraft erklären, wenn er doch so viel erreichte, daß ihn die Leute nur wenigstens anhörten‹. Um sich durch Sänger der Pariser Salonwelt empfehlen zu lassen, komponierte er gleich in der ersten Zeit eine eigens für ihn angefertigte französische Übersetzung von Heines ›beiden Grenadieren‹, sowie mehrere französische Romanzen: ›Mignonne‹ von Ronsard, ›Dors mon enfant‹ und ›Attente‹ von Viktor Hugo.28 Trotz entgegengesetzter Absicht erschienen sie zu ungewohnt und zu schwer, um wirklich gesungen zu werden, und vermochten mit den Chansons der eben beliebten Modekomponistin der Pariser Salons, der geschickten Dilettantin Dem. Loisa Puget, nicht zu konkurrieren.

Auf Meyerbeers Empfehlung war er sogleich im Herbst 1839 mit dem Direktor des Renaissancetheaters in Verbindung getreten. Von letzterem behauptete der Pariser Witz: kein Theater führe seinen Namen mit größerem Recht; denn es sterbe regelmäßig dreimal im Jahre und werde ebenso oft wiedergeboren. Anténor Joly erwies sich dabei als unermüdlicher Geburtshelfer; er wußte auch Bankerotte wohl zu überstehen, und so oft eine unerwartete Katastrophe ihn zwang, die kaum geöffneten Pforten seines eleganten Hauses wieder zu schließen, rief er betrübt, aber nicht mutlos. ›mon théatre est mort, vive mon théâtre!‹ Wohl mußte es dem vermittelnden Maestro bewußt sein, auf einen wie unsicheren Boden er mit dieser Empfehlung seinen vertrauensvollen Schützling gestellt habe! Hier war soeben das Erstlingswerk des nachmaligen Komponisten von ›Martha‹ und ›Stradella‹ in Szene gegangen: ›der Schiffbruch der Medusa‹, gemeinschaftlich komponiert von Flotow [348] und Pilati. Das war das rechte Genre für dieses Theater; wollte Wagner hier reüssieren, so war ihm das Feld, dem er sich anzubequemen hatte, sehr bestimmt angewiesen. Die Partitur seines ›Liebesverbotes‹ erschien dafür sehr geeignet: auch das ›etwas frivole Sujet‹ empfahl sich recht gut für die Anforderungen des Pariser Publikums. Er war dem Direktor so dringend empfohlen, daß dieser nicht umhin konnte, ihm die besten Versprechungen zu machen Einer der fruchtbarsten Theaterdichter der Seinestadt, der bereits mehrfach von uns erwähnte Dramaturg des Variétés-Theaters, Dumersan (S. 340/41), übernahm die Bearbeitung des Textes für das Französische. Wohl hatte diese Rückkehr zu seinem älteren Werke für den in seiner Entwickelung weit darüber hinaus Vorgerückten innerlich etwas Demütigendes, um so mehr als er nach außen hin zu dessen Aufrechterhaltung gezwungen war. Jede persönliche Empfindung dieser Art mußte aber vor der Notwendigkeit eines Anfanges, eines ersten Pariser Erfolges verstummen; von seiner Gewinnung hing jetzt Alles ab! Leider blieb ihm von Anbeginn die Erfahrung nicht erspart, daß, was für ihn der Gegenstand heißesten Verlangens und peinlichster Nötigung war, von den dabei in Betracht kommenden Personen mit fast grausamer Gleichgültigkeit auf die quälendste Weise rücksichtslos verzögert wurde. Sein einflußreicher Gönner Meyerbeer war nach kurzem Verweilen wieder abgereist und hatte ihn sich selbst überlassen: nach seinen eigenen Versicherungen konnten aber briefliche Bemühungen aus der Ferne von keinem Erfolge sein, wo höchstens ein unausgesetztes persönliches Eingreifen von Wirkung gewesen wäre. Zwei Monate lang ließ ihn Mr. Dumersan, trotz wiederholter Mahnungen, auf das Ergebnis seiner Arbeit warten. Zwei ganze entbehrungsvolle Monate, die allein genügt haben würden, den Mittellosen in die bitterste Verlegenheit zu versetzen: Es existiert aus dieser trübsalvollen Periode das Manuskript einer vollständigen französischen Prosa-Übertragung des ›Liebesverbotes‹ von Wagners eigener Hand, mit fremden Korrekturen (›La novice de Palerme, Opéra en deux actes,‹ ein Folioheft von 59 Seiten). Der Zusammenhang ihrer Entstehung ist nicht aufgehellt: entweder hat der junge Meister, ungeduldig geworden, trotz seines mangelhaften Französisch, die unvermeidliche Arbeit selber ausgeführt; oder es hat sich dabei auch nur um eine Vorlage für Mr. Dumersans endgültige Version gehandelt. Nur eine genaue Prüfung der Handschrift könnte darauf einiges Licht werfen; sie ist aber ebenfalls, auf dem Wege des modernen Autographenschachers (Joh. 19, 23), wie so viele wertvolle Dokumente aus des Meisters erster Periode, in unbekannten Privatbesitz geraten.

Zu den mannigfachen persönlichen Begegnungen seines ersten Pariser Jahres gehört ein Besuch bei Eugène Scribe, dem er sich bisher nur aus der Ferne (S. 272, 277, 282) brieflich bekannt zu machen gesucht. Vielleicht, daß er gar die zuletzt ihm übersandte Partitur seines ›Liebesverbotes‹ von ihm [349] abholte, oder sich von ihm Auskunft über deren Verbleib erteilen ließ? Von diesem Typus eines Pariser Theaterdichters und seiner Vielgeschäftigkeit entwirft er uns ein Bild von vollendeter satirischer Anschaulichkeit. ›Des Morgens um zehn Uhr erblickt ihr ihn in einem höchst behaglichen, seidenen Schlafrocke bei einer Tasse Schokolade. Er bedarf allerdings dieser kleinen Erquickung; denn soeben stand er vom Arbeitstische auf, wo er bereits seit zwei Stunden seinen Hippogryphen durch verwegene Ritte in jenes romantische Wunderland, welches euch aus des großen Dichters Werken entgegenlacht, heftig strapaziert hat. Glaubt ihr aber, daß er bei der Schokolade eben wirklich ausruhe? Seht euch doch um, und ihr gewahrt in allen Ecken des eleganten Zimmers, auf allen Stühlen, Sesseln und Divans Pariser Schriftsteller und Komponisten. Mit jedem dieser Herren ist er in einem wichtigen Geschäfte, welches bei anderen Leuten nicht die geringste Unterbrechung vertragen würde; mit jedem von ihnen brütet er soeben den Plan zu einem Drama, einer Oper, einem Lustspiel oder einem Vaudeville aus; mit jedem erfindet er soeben eine nagelneue Intrigue. Mit diesem knüpft er einen unauflöslichen Knoten; mit jenem ist er im Begriff, die künstlichste Konfusion zu entwirren; mit dem einen berechnet er den Effekt der haarsträubendsten Situation einer neuen Oper, mit dem anderen ist er seit einer Sekunde über eine Doppelheirat einig geworden. Dabei ist er zugleich damit beschäftigt, eine Unzahl von reizend stilisierten Billeten an diese oder jene Klienten zu schreiben, diesen oder jenen mündlich abzufertigen und fünfhundert Franken für einen jungen Hund zu bezahlen. Während dem allen sammelt er aber auch noch Stoff für seine nächsten Stücke, studiert mit einem flüchtigen Lächeln die Charaktere der eben angemeldeten und abgefertigten Fremden, ordnet sie in einen Rahmen und macht in fünfzehn Minuten ein Stück, von dem noch niemand etwas weiß. Auch ich glaube ihm eines Tages auf diese Art zum Stoffe geworden zu sein, und es soll mich sehr wundern, wenn wir nicht nächstens ein Stück sehen werden, in welchem meine traurige Verwunderung über den kostspieligen Kauf eines jungen Hundes der Gegenstand einer wichtigen Situation sein wird‹.

Seine Bekanntschaften mit Habeneck, Halévy, Berlioz usw. führten zu keiner weiteren Annäherung: ›in Paris hat kein Künstler Zeit, sich mit einem anderen zu befreunden; jeder ist in Hatz und Eile um seiner selbst willen‹. Unter ihnen hatte für ihn die geniale Sonderlingsnatur eines Hector Berlioz, trotz seines abstoßenden Wesens, unbedenklich die größte Anziehungskraft. ›Er unterscheidet sich himmelweit von seinen Pariser Kollegen; denn er macht seine Musik nicht fürs Geld. Für die reine Kunst kann er aber auch nicht schreiben, ihm entgeht aller Schönheitssinn, und mit wenigen Ausnahmen ist seine Musik Grimasse‹. So fand ihn denn Wagner in seiner Richtung völlig isoliert; an seiner Seite nichts wie eine Schar Anbeter, die, flach und ohne das geringste Urteil, in ihm den Schöpfer eines nagelneuen Musiksystemes [350] begrüßten und ihm den Kopf vollends verdreht machten,29 – alles übrige wich ihm aus wie einem Wahnsinnigen. ›Mit großem Bedauern erfüllte mich die Anhörung seiner Symphonie Romeo und Julia‹, schreibt Wagner von Paris aus noch unter dem Eindruck ihrer ersten Aufführung im November 1839, Neben den genialsten Erfindungen häuft sich in diesem Werke eine solche Masse von Ungeschmack, daß ich mich nicht erwehren konnte zu wünschen, Berlioz hätte vor der Aufführung diese Komposition einem Manne wie Cherubini vorgelegt, der gewiß, ohne dem originellen Werke den geringsten Schaden zuzufügen, es von einer starken Zahl entstellender Unschönheiten zu entladen verstanden haben würde. Bei seiner übermäßigen Empfindlichkeit würde aber selbst sein vertrautester Freund es nicht wagen ›einen ähnlichen Vorschlag zu tun‹. Wagners damaliges Urteil über Berlioz hat sich im wesentlichen nicht geändert, sondern mit der Zeit in derselben Richtung ausgebildet und befestigt; gleichwohl schätzte er ihn wegen seines selbstlosen Strebens und beklagte die drückende Armut, mit deren Bitternissen er zu ringen hatte. Das Geldgeschenk von zwanzigtausend Francs, mit welchem der wunderbar geizige Paganini dem Autor der phantastischen Symphonie nach Anhörung dieses Tonstückes seine begeisterte Huldigung darbrachte, bezeichnete er in einem seiner Pariser Aufsätze mitfühlend als den ›Werbesold der Hölle‹; es habe dem dadurch Ausgezeichneten nun auch den Rest von Teilnahme entzogen, der im Mitleid enthalten sei, und an dessen Stelle den Neid heraufbeschworen! Einer ungleich allgemeineren Anerkennung, als sie dem Musiker Berlioz zuteil ward, wußte sich der Schriftsteller Berlioz als einflußreicher, gefürchteter Kritiker am Journal des Débats zu erzwingen: für [351] die Franzosen ist und bleibt der écrivain immerhin eine beachtenswerte Persönlichkeit. Eine seltsame Erfahrung, welche der junge Meister auf dem eigentümlichen Pariser Boden buchstäblich an sich selbst wiederholt sehen sollte, nachdem ihm jeder Versuch vereitelt war, als schaffender Musiker vor die Öffentlichkeit zu treten!

Die nachhaltigsten Enttäuschungen aber erfuhren seine mitgebrachten künstlerischen Überzeugungen und Voraussetzungen durch die eigene Anschauung eben jener glänzenden Kunstinstitute, von denen er sich in der Entfernung ein so vielversprechendes Bild gemacht. Wohl schimmerte ihm diese ›große Oper‹, das bisherige Ziel seiner Wünsche, noch durch längere Zeit mit ihrer berückenden Pracht verlockend in sein äußeres Elend hinein. Er sah dort die ersehnten reichen, kostbaren Mittel, aber vergeudet und weggeworfen an eine armselige und unechte Kunst, beherrscht durch das eitle Virtuosentum eines geistlos manierierten Gesanges. Die wirklichen Leistungen dieses äußerlich so prunkenden Institutes ließen ihn durch den Mangel alles Genies gänzlich kalt. Alles fand er ›gewöhnlich und mittelgut‹, und an der ganzen Académie royale de musique war ihm das bemerkenswerteste die Sorgfalt der Regie und der Glanz der Dekorationen. ›Wer Halévys Jüdin zuvor nur hier und da in Deutschland gesehen‹, heißt es in diesem Sinne in den Pariser Amüsements, ›hat gewiß nicht begreifen können, wie sie es angefangen, die Pariser zu amüsieren? Das Rätsel löst sich, wenn man die Pariser Gardine sich heben sieht. Da, wo wir in Deutschland uns nur an den kräftigen Zügen der Komposition begeisterten, hat der Pariser ganz andere Dinge zu tun. Für wie lange Zeit hat der Dekorationskünstler und Maschinist nicht die Aufmerksamkeit und Neugierde des Publikums der großen Oper zu spannen und zu beschäftigen gewußt! In Wahrheit, wer jene Dekorationen sieht, bedarf langer, anhaltender Forschungen, um die tausend Partikularitäten der szenischen Ausstattung zu ergründen. Wer ist imstande, in einem flüchtigen Überblick die seltsamen üppigen Kostüme zu verstehen? Wer begreift sogleich die mystische Bedeutung des Ballets?‹ usw. Dieser äußere Reichtum ließ denn wirklich zuweilen ›eine wollüstig schmeichlerische Wärme in ihm aufsteigen, die ihn zu dem Wunsche, der Hoffnung, ja der Gewißheit erhitzte, hier noch triumphieren zu können‹. Dieser Glanz der Mittel, von einer begeisternden Absicht verwendet, schien ihm der Höhepunkt aller Kunst zu sein. Wandte er sich aber von diesen Gedanken zu der dargebotenen Vorstellung, so entstanden in ihm Betrachtungen anderer Art, wie sie z. B. in der Vergleichung der Pariser und der (allerdings durch W. Fischer einstudierten!) Dresdener Chöre30 zum Ausdruck gelangen. Und die übrigen Theater der Hauptstadt, die sich für ihre zivilisatorischen Aufgaben doch staatlicher Subventionen erfreuten, das Théâtre[352] italien, dieOpéra comique, das Odeon und wie sie sonst heißen mochten? Lebte in ihm noch ein Rest seiner früheren ›leichtfertigen‹ Ansichten über die Mittel der Musik, so gaben ihm die Italiener, diese gepriesenen Gesangshelden, Rubini an der Spitze, den letzten Stoß, und degoûtierten ihn vollends gegen ihre Musik. Das Publikum, vor dem sie sangen, trug das Seinige zu dieser Wirkung bei. Die kritischen Geißelhiebe, die er in Anlaß einer Vorstellung von Mozarts ›Don Juan‹ durch stimm- und leblose Helden und Heldinnen der ›italienischen Oper‹, den Rubini und Tamburini, der Persiani und anderen von dem Publikum auf Händen getragenen Größen in manchem Pariser Aufsatz erteilt, zeugen von der geringen Befriedigung, die er hier gewann. Von den übrigen wäre die ›komische Oper‹ noch weit eher imstande gewesen, ihn zu befriedigen: ›sie besitzt die besten Talente, und ihre Vorstellungen geben ein Ganzes, Eigentümliches, welches wir in Deutschland nicht kennen‹, äußert er sich darüber. Selbst noch in ›Oper und Drama‹ (1851) weist er dem ›unterhaltenden, oft liebenswürdigen und geistvollen Genre‹, das auf diesem Theater heimisch sei, einen verhältnismäßig beachtenswerten Platz an. Aber schon hat er das, diesem Institute gespendete Lob nach anderer Richtung hin einzuschränken, und es bitter zu beklagen, daß es sich bereits seit Jahren durch eine Misère von taktlosen Seichtigkeiten dahinziehe, wie ein im Beginn seines Laufes kräftiger Strom, der sich zuletzt in Sand und Schlamm verliert. Was zur Zeit dafür geschrieben werde, gehöre zu dem Schlechtesten, was je in Zeiten der Entartung der Kunst produziert worden sei. ›Wohin ist die Grazie Méhuls, Isouards, Boieldieus und des jungen Auber vor den niederträchtigen Quadrillenrhythmen geblieben, die heutzutage dieses Theater durchrasseln?‹31

Und doch würde man irren, wollte man annehmen, daß nicht in seiner damaligen Lage und Stimmung in dem jungen Künstler selber sich etwas gegen die volle Klarheit einer plötzlichen Erkenntnis der Nichtigkeit dieser Kunstwelt gesträubt hätte! Was dieses Etwas war, sagt er uns selbst im [353] Anschluß an das Bekenntnis, angesichts der glänzenden Aufführungen der großen Oper zu einer ›wollüstig schmeichelnden‹ Siegesgewißheit erhitzt worden zu sein: ›diese gutwillige, gern bis zur leichtfertigen Hingerissenheit sich steigernde Erregtheit, nährte sich, mir unbewußt, aus dem Gefühl meiner äußeren Lage, die ich als eine ganz trostlose erkennen mußte, wenn ich mir plötzlich eingestand, daß all dieses Kunstwesen, das die Welt ausmachte, in der ich vorwärts kommen sollte, mich zu tiefster Verachtung anwiderte. Die äußere Not zwang mich, dieses Geständnis fern von mir zu halten; ich vermochte dies mit der gutmütig bereitwilligen Laune eines Menschen und Künstlers, den ein unwillkürlich drängendes Liebesbedürfnis in jeder lächelnden Erscheinung den Gegenstand seiner Neigung zu erkennen glauben läßt‹. In diesem Sinne entsann er sich einer ›sehr bereitwilligen Stimmung, sich an allen Erscheinungen jener Kunstwelt zu erwärmen, die irgendwie seinem Ziele verwandt sich darstellten‹. Das Seichte und Inhaltlose verdeckte sich ihm durch einen nie wahrgenommenen Glanz der sinnlichen Erscheinung, über deren wahres Wesen er sich, durch eine fast künstliche Erregtheit, in fortgesetzter Täuschung zu erhalten bemüht war.

Der einzige Ort der üppigen, prunkenden Kunstmetropole mit ihren zahllosen Genußverheißungen, aus dem er einen wirklichen Gewinn davontrug, war das alte, fast verfallene Haus in der Rue Bergère, dasConservatoire de musique, dessen unscheinbare Konzertaffichen sich unter den sonstigen Theaterzetteln und Konzertankündigungen fast verloren, dessen Saal vielleicht der an Vergoldung und Zierrat ärmste Raum war, der in Paris zu Konzerten benutzt wurde. In wie anderem Gewande prahlten die Concerts Vivienne und Musard! Und doch war es hier, wo er von einer Probe der drei ersten Sätze der neunten Symphonie einen Eindruck gewann, wie er ihn daheim im Vaterlande, z. B. in den Leipziger Gewandhauskonzerten, nie empfangen, und der ihm für zeitlebens unauslöschlich eingeprägt blieb. ›Hier fiel es mir wie Schuppen von den Augen, was auf den Vortrag ankäme!‹ ruft er, und berichtet dann von dem eisernen Fleiß und der ausdauernden Beharrlichkeit, die Habeneck auf das Studium dieser Symphonie verwandte. Nachdem er sie während eines ganzen Winters probieren lassen, hatte er nur den Eindruck der Unverständlichkeit und Unwirksamkeit dieser Musik erhalten; dieser Eindruck bestimmte ihn aber, die Symphonie ein zweites und drittes Jahr zu studieren und nicht eher zu weichen, als bis das Verständnis des Werkes jedem der Mitwirkenden aufgegangen war, Allerdings war Habeneck aber auch ein Musiker von altem Schrot: er war der Meister und alles gehorchte ihm, fügt Wagner hinzu. Einem solchen Manne war es gelungen, an dem Ursitz der ›frechen Mode‹ der Bahnbrecher für die Verkündigung des Evangeliums der Beethovenschen Symphonie zu werden und damit die edelste Eroberung des deutschen Geistes zu beginnen. Selbst ein Fétis war mit dem ganzen [354] Nachdruck seines Namens gegen ihn eingetreten und hatte sich an Beethovens Genius durch harte Ausdrücke, wie den Vorwurf der Effekthascherei, der Unnatur und Tollheit, versündigt. Und noch jetzt begegnete es, daß die von ihm mit so seltenem Eifer einstudierte Symphonie, nachdem sie recht eigentlich als Ereignis die Pariser elegante Welt in ein Konzert gelockt, diese mit ihrem wirklichen Beginn in klägliche, Flucht schlug. War durch solche Bemühungen Beethoven in Paris immerhin bereits selber ›Mode‹ geworden und fand kein Konzert mehr statt, ohne wenigstens seinen Namen auf dem Programm zu führen, so hatte es doch bei diesem wohl meist sein Bewenden; denn seine damalige Betrachtung über die Leistungen des Conservatoires beschließt Wagner mit den Worten: ›Diese Konzerte stehen völlig allein da, nichts knüpft sich an sie an‹.32

Wir schalten hier den Bericht über eine Erfahrung ein, die sich dem Meister so ins Gedächtnis eingeprägt, daß er sie, genau zwanzig Jahre später, in Luzern dem besuchsweise bei ihm weilenden jungen Freunde Felix Dräseke mitteilen konnte. Bei seinem ersten Pariser Aufenthalt hätten ihn die berühmten Konservatoriumskonzerte auf das höchste interessiert. Einmal sei er zu einer der Proben zu spät gekommen und hätte in einem Raume, der durch eine ziemlich hohe, aber nicht die Decke des Saales erreichende Schallwand vom Orchester getrennt gewesen sei, warten müssen. Die Wirkung des an dieser Schallwand hinaufgeleiteten Orchesterklanges hätte ihn im höchsten Grade überrascht, da der Ton, von allen hervortretenden mechanischen Einzelwirkungen gereinigt, als gewissermaßen kompakte und verklärte Einheit an sein Ohr gedrungen sei; dies hätte ihn auf den Gedanken gebracht, allen Orchesteraufführungen eine ähnliche Wirkung zu sichern. ›In seinem, schon damals geplanten, eigenen Theater hoffte er zuerst dieser Neuerung Eingang schaffen zu können‹.33 Wenn sich die ›im Dräsekeschen Referat mindestens zweideutig gebrauchte Wendung schon damals‹ auf die Pariser Periode beziehen sollte (denn inbezug auf die spätere Luzerner Zeit brächte sie nicht etwas wesentlich Neues), so wäre es allerdings erstaunlich wahrzunehmen, wie der halb verhungernde, mit Not und Sorge aufs bitterste ringende, junge Künstler, von dem Drang seines reformatorischen Genius getrieben, ›schon damals‹ an die Errichtung eines Theaters nach seinen Prinzipien gedacht haben sollte! Indes führt uns faktisch die erste Spur des Bayreuther Gedankens noch weiter zurück, als nach Paris; wir haben sie bereits (S. 288/89) in der Rigaer Periode andeutend wahrgenommen.

Wir sprachen soeben von Wagners eigenhändiger Übertragung des ›Liebesverbotes‹ in das Französische, – einer so wenig erhebenden Arbeit! Aber wir sind bei Erwähnung dieses Schriftstückes, das uns nie zu Gesichte gekommen, [355] noch eine wichtige Tatsache dem Leser schuldig geblieben, und holen das Unterlassene an dieser Stelle nach. Auf der Rückseite des letzten Blattes und auf dem leeren Raume des Titelblattes soll sich ein ergreifender Rückblick auf die schmerzlichen Leiden dieses Winters befinden, in Gestalt eines Briefentwurfes an Meyerbeer. Diese Leidenszeit sei so arg gewesen, daß sie ›dereinst gewiß von den ersten Poeten in 24 bis 48 Gesängen würde besungen werden‹. Also ein Zuruf aus der Ferne an den in Berlin weilenden, aber in Paris allmächtigen Generalmusikdirektor; eine flehentliche Bitte um seine Intervention, mit der er sich bewußt sein durfte, sich – in seiner Lage! – nichts zu vergeben. Dieser Brief muß aus dem Dezember 1839 herrühren. Die wenigen, aus dem bloßen Konzept an die Öffentlichkeit gedrungenen Proben verraten uns die herzliche Beredtheit, mit welcher der junge Künstler sein schwer leidendes Innere aufdeckt, – nicht ohne Einmischung humorvoller Züge der Selbstironie, wie zur Dämpfung seiner ›vielleicht beängstigenden Hilferufe‹. Kaum habe er sich noch in Paris gefühlt, sondern nur noch in seiner schönen Tonnelleriestraße vegetiert. ›Sie können es sich wohl denken, wie ein sensibles Subjekt, wie ich, sich (unter solchen Verhältnissen) gebärdete, wie es nach Luft schnappte und sehr traurig wurde!‹... Von einem Erfolg dieses Zurufes ist uns nichts bekannt geworden.

In diese drangsalreiche Zeit fällt die bereits zuvor, nach ihrer rein objektiv ästhetischen Seite hin erwähnte Anhörung der drei ersten Sätze der nennten Symphonie im Conservatoire in einer Probe unter Habenecks Leitung. Sie hatte für den ringenden Künstler aber außer der dort hervorgehobenen noch eine entscheidende innere, gleichsam persönliche Bedeutung. Durch äußere Not schon zur Bitterkeit gegen weitere Pariser Unternehmungen gestimmt, bemächtigte sich seiner unter diesem Eindruck eine tiefe und heftige Erschütterung: sie machte sich in heißen Tränen Luft. Über Jahre der entfremdendsten Verirrungen hinweg setzten ihn diese Klänge, in ihrer ganz unvergleichlichen Ausführung, in eine wunderbare Berührung mit jenen fern entrückten Jünglingszeiten, deren heilige Begeisterung ihn beim einsam nächtlichen Studium dieser Partitur dem Genius Beethovens innig nahe geführt hatte. Er trat hinaus in die dunkelnde Rue Bergère, und die rauhe Novemberluft fröstelte ihn an: aber im tiefen Inneren wogte und klang es ihm nach von unbeugsamem Heldentrotz und elegischer Klage um ein verlorenes Paradies. Wie mit magischer Kraft befruchtend und läuternd wirkte dieses Erlebnis auf sein ferneres künstlerisches Streben ein. Es gab zunächst den Anlaß zur Entstehung eines Orchesterstückes, durch dessen schnellen Entwurf und ebenso rasche Ausführung er sich – aus tief unbefriedigtem Inneren – gegen die widerliche Rückwirkung einer äußerlichen, auf den Erwerb gerichteteten künstlerischen Tätigkeit stemmte. Dieses merkwürdige Werk, das weitaus bedeutendste, bis dahin von ihm konzipierte, bezeichnet den entscheidenden Wendepunkt in seinem künstlerischen [356] Schaffen.34 Er nannte es eine ›Ouvertüre zu Goethes Faust‹, – eigentlich sollte es den ersten Satz einer großen Faust-Symphonie bilden, die leider unvollendet blieb. Das Blatt, auf dessen einer Seite der erste Entwurf dazu verzeichnet ist, zeigt auf der anderen das Bruchstück einer französischen Chansonette, als beredte Illustration seines Pariser Existenzkampfes!35 Während seiner Arbeit daran wurde er, in der unerfreulichen, kalten und zugigen Hotelgarni-Stube, die er mit seiner Frau und dem großen Neufundländer teilte, zum Überfluß noch – neben Mangel und Not – von quälenden Zahnschmerzen geplagt. Doch verließ ihn trotz alledem nicht der Humor. Dies beweist ein reizender kleiner Vorfall. Mitten in der Komposition der Faust-Ouvertüre überraschte ihn eines Tages Berlioz mit seinem Besuche. Als er in Wagners Zimmer trat, wollte es der Zufall, daß sich dieser seines Traité d'instrumentation bediente, um seine Hand beim Schreiben zu unterstützen. Er erhob sich sogleich zur Begrüßung des Gastes: mit der ihm eigenen unvergleichlichen Geistesgegenwart, die Alles in eine Verbindlichkeit umzuwandeln wußte, wies er auf den Traité auf seinem Arbeitstisch, und Berlioz umarmte ihn, sichtlich gerührt!36

Mitten unter allen unerhörten Demütigungen und aufreibenden Nöten hatte der junge Meister ein linderndes Heilmittel, ein Geheimnis, von dem Niemand wußte außer ihm selber Seine tief leidenschaftliche, leicht entzündbare Künstlernatur empfand den Stachel jeder Pein doppelt schmerzhaft; sie bot ihm aber auch das Linderungsmittel, um sie zu ertragen. Das Geheimnis war: er, der Unbeugsame, Stählerne, konnte weinen: die heißen Tränenströme seiner Kindheit haben ihm in den bedrängtesten Lebensepochen seines Mannesalters ihre Erleichterung nicht versagt.37 Trat er dann nach außen, so war er ein Anderer: die Elastizität, die Herausforderung und Überlegenheit, der heitere Übermut selber, der neugeschmiedete Nothung im Bade gehärtet. So allein [357] kannten ihn seine Freunde. Nie vollends ließ er den Gegner die Anwandlung einer Schwäche spüren: ›ich will verflucht sein, wenn je ein Feind mich klagen hörte: ihm gegenüber müssen wir frech und hart sein wie Stein‹, schreibt er zwölf Jahre später an Uhlig. Lachen und Weinen kennzeichnet der Philosoph als die charakteristischen Äußerungen, die den Menschen vom Tier unterscheiden. Vielleicht eben darum sind sie vorzüglich dem Genius eigen, dem rechnenden Alltagsmenschen nur eine Erinnerung an eine weit zurückliegende Kinderzeit. Wir werden dadurch lebhaft an die tiefen Ausführungen Schopenhauers über diesen Gegen stand erinnert, wonach man nie unmittelbar über den empfundenen Schmerz weine, selbst wenn er körperlich sei, sondern immer nur über dessen Wiederholung in der Reflexion: das Weinen sei demnach Mitleid mit sich selbst, oder das ›auf seinen Ausgangspunkt zurückgeworfene Mitleid‹; es sei daher ›durch Fähigkeit zur Liebe und zum Mitleid und durch Phantasie bedingt‹.38 Wagners ›deutscher Musiker in Paris‹ fühlt im voraus, eine Herzgeschwulst werde seinem Leben ein Ende machen;39 dem schwer bedrängten Dichter der Novelle half seine Fähigkeit, sich selbst außer sich zu sehen, sein eigenes Leiden sich unwillkürlich anschauend zu objektivieren und in jenem wohltätigen Naturkrampf des ›Mitleidens mit sich selbst‹ die Beängstigungen des gepreßten Herzens zu lösen.

Seine Faust-Ouvertüre ist eine solche ideale Objektivation seines leidenden Innern. Der Punkt, von dem aus Wagner seinen ›Faust‹ erfaßt, ist durch die, der Partitur als Motto vorausgeschickten Goetheschen Verse bezeichnet: ›Der Gott, der mir im Busen wohnt, kann tief mein Innerstes erregen; der über allen meinen Kräften thront, er kann nach außen nichts bewegen: und so ist mir das Dasein eine Last, der Tod erwünscht, das Leben mir verhaßt‹. Und so erscheint uns auch Richard Wagners Faust als der des Lebens überdrüssige und doch aus dem Zwange des Genius den Kampf stets von neuem aufnehmende Held: von dem ersten Takte an, wo seine Gestalt sich vor unseren Augen wie zum anbrechenden Tage in ihrer vollen Größe emporrichtet und ihr schmerzlicher Blick rings um sich her nur graue Ode, trostlose Leere wahrnimmt, während sich bereits die Plagen des Daseins in einem hastig andrängenden Motiv verkörpern; bis zum sanften Aufsteigen des Ideals in der inbrünstig verlangenden Seele; bis zum erneuten wilden Kampf gegen diese Plagen, in welchem er sich mit der Glorie eines gewappneten Erzengels in strahlender Rüstung blutend, doch siegreich über dem nun zu seinen Füßen sich windenden giftigen Gewürm erhebt; bis zu der endlich eintretenden Ruhe, bei der man sich frägt: ist des Kämpfers Auge gebrochen, oder zieht sich nur der Schleier der Nacht über den Abschluß eines Tages aus seinem Leben [358] zusammen? Der Aufforderung Liszts, den Mittelsatz durch Einführung eines neuen Motives zu erweitern, konnte er bei einer späteren Durcharbeitung (Januar 1855) nicht entsprechen. ›Von Gretchen kann natürlich nicht die Rede sein, vielmehr immer nur von Faust selbst: ein unbegreiflich holdes Sehnen trieb mich durch Wald und Wiesen hin usw.. Damals wollte ich eine ganze Faust-Symphonie schreiben: der erste (fertige) Teil war der »einsame Faust« in seinem Sehnen, Verzweifeln und Verfluchen: das »Weibliche« schwebt ihm nur als Gebild seiner Sehnsucht, nicht aber in seiner göttlichen Wirklichkeit vor: und dies ungenügende Bild seiner Sehnsucht ist es eben, was er verzweiflungsvoll zerschlägt. Erst der zweite Satz sollte Gretchen – das Weib – vorführen‹.40

Zu einer öffentlichen, oder selbst nur privaten Aufführung, wozu sich die Conservatoire-Konzerte mit ihren Proben so vorzüglich geeignet haben würden, ist dieses Fragment einer Faustmusik zu jener Zeit nicht gelangt; sei es nun, daß der junge Künstler selbst dazu nicht geneigt war, weil er sein Werk erst als Ganzes produzieren wollte, oder daß es für sein Interesse unratsam erachtet worden sei, gerade mit diesem Werk zum ersten Mal vor ein Pariser Publikum zu treten. Allerdings wurde um die Mitte Januar 1840 in einer Orchesterprobe des Conservatoire eine seiner Ouvertüren ausgeführt und von seiten der Anwesenden mit lebhaften Beifallsbezeigungen aufgenommen.41 Daß dies aber die Faustouvertüre gewesen sei, ist die durchaus unbegründete Annahme eines französischen Biographen42 und hat nicht den mindesten Anhaltspunkt für sich, da sich der junge Meister vielmehr bei jeder seiner damaligen Berührungen mit der Pariser Kunstwelt, wollte er auf irgend ein Verständnis rechnen, auf den längst überwundenen Standpunkt seiner Magdeburger oder Königsberger Periode zurückgedrängt fand. Demgemäß war seine Wahl auf die bereits in Magdeburg und Riga wiederholentlich zur Aufführung gelangte ›Columbus‹-Ouvertüre gefallen, zu welcher ihm auch die ausgeschriebenen Stimmen noch von ihren früheren Vorführungen her zur Verfügung standen.43

[359] Eine unverhoffte Überraschung ward ihm zu Teil, als er eines schönen Tages im Januar 1840 vernahm, sein alter Freund Laube sei eingetroffen und habe somit endlich doch seinen Pariser Reiseplan, wenngleich nicht mehr in Saint-Simonistischen Angelegenheiten (S. 171), verwirklicht. Er hatte sich inzwischen, in demselben Jahre wie Wagner, ja fast um dieselbe Zeit, aber unter sehr andersartigen Umständen, glücklich vermählt, mit eben jener, von uns bereits erwähnten ›geistvoll liebenswürdigen‹ Witwe, Iduna Budäus, die auch seine Gefangenschaft mit ihm geteilt. Sein hartes Schicksal, so wenig es sich auch mit dem inzwischen von Wagner Erduldeten vergleichen läßt, im Verein mit dem, durch das Vermögen seiner Frau ihm zugeführten materiellen Wohlstande, hatte allerdings mancherlei Wendungen in ihm bewirkt. Wie sein ehemaliger Gesinnungsgenosse Gutzkow sagt: ›Übergänge zu allerhand aristokratischem, fürstpücklerischem Wesen, Buhlen mit Personen und Zuständen, Sichakkomodieren an »Begriffliches«, wozu sogar das Metternichsche Kaiserreich gehören sollte‹ usw.44 Und auch Wagner vermochte sich – trotz mancher ihm durch Laube bewiesenen Freundschaftsbezeigungen während dieser und der nächsten drangvollen Zeit – einer ähnlichen Wahrnehmung nicht ganz zu verschließen. Sie entlockt ihm späterhin einmal (gegen Lehrs) die unmutige Wendung: ›Hofräte und Esel – Laube ist so einer geworden‹.45 Zu seiner Erholung und Nervenstärkung nach überstandener Hast hatte der vormalige Stürmer und Dränger inzwischen ganz Frankreich und Algier bereist, um sich den Stoff zu gewissen belletristischen Arbeiten zu sammeln, die er nun den Winter über in Paris fertig zu schreiben gedachte.46 Zu dem Ende hatte er sich auf dem Boulevard des Italiens eine Wohnung gemietet, – für einen deutschen Schriftsteller immerhin ein außergewöhnlicher Luxus! ›Abenteuerliche Schicksale, die ihn bis nach Rußland hinauswarfen, hatten Wagner auf einige Zeit meinem Blicke entrückt, und ich war nicht wenig erstaunt, ihn im Winter 1839 zu Paris plötzlich in mein Zimmer treten zu sehen‹, so berichtet Laube über diese Begegnung.47 ›Sein unerschöpflich produktives Wesen, von einem lebhaften Geiste ununterbrochen bewegt und getrieben, hatte mich stets interessiert, und ich hatte stets gehofft, aus einer solchen, mit unserer heutigen Bildung erfüllten Persönlichkeit müsse eine tüchtige moderne Musik sich entwickeln‹. An dieser Angabe ist – wie es scheint – nur die Zeitbestimmung nicht ganz genau.48 In seinen mehrfach interessanten Lebenserinnerungen[360] erzählt der bekannte Maler und Kunstschriftsteller Friedrich Pecht, damals bei Delaroche in Paris studierend, von seinem ersten, durch Laube vermittelten, Zusammentreffen mit Wagner in der Gemäldegalerie des Louvre, wohin er die Leipziger Freunde geführt hatte, um sie als Kenner auf die Hauptgemälde aufmerksam zu machen. Als wir uns, heißt es in dieser Erzählung, im Salon carré trafen, sagte mir Laube gleich: ›Sie werden heute Landsleute kennen lernen, einen jüngeren Bruder unserer ja auch Ihnen befreundeten Cousine Friedrich Brockhaus,49 der Kapellmeister in Riga war und mit seiner Frau eben (?) hier angekommen ist. Ich habe ihn eingeladen, sich uns anzuschließen, um auch Ihre Bekanntschaft zu machen, da Sie ja beide hier Ihr Glück versuchen wollen, denn er möchte hier gern eine Oper zur Aufführung bringen‹. Es dauerte nicht lange, so kam ein jugendlich schönes Paar auf Laube zu, und der so auffallend vornehm aussehende, ja vornehm aussehende, dabei hübsche und anziehende junge Mann wurde mir als ›Herr Richard Wagner‹ vorgestellt. Seine Züge zeigten damals noch keine Spur von der herben Strenge, die ihnen vierzigjährige Kämpfe später aufgeprägt, im Gegenteil etwas Weiches, bei aller sofort auffallenden geistvollen Lebendigkeit. ›Offenbar zerstreut und mit seinen Gedanken bei ganz anderen Dingen weilend, als bei Rubens und Paul Veronese, die ich den Freunden mit allem Enthusiasmus eines glühenden Bewunderers vorführte, gefiel mir Wagner sehr wohl, machte mir aber doch keinen eigentlich bedeutenden Eindruck: dazu erschien er mir entschieden zu hübsch und zu zierlich. Es lag ein gewisser seiner Schimmer auf seiner ganzen Erscheinung. Freilich zugleich etwas Unnahbares, was einen feineren Beobachter hätte aufmerksam machen können, was man aber an deutschen Genies damals noch viel weniger gewohnt war, als jetzt‹. Auch seine von Minna empfangenen ersten Eindrücke teilt Pecht bei derselben Gelegenheit mit: man habe der bildhübschen Frau weder die ehemalige Schauspielerin, noch überhaupt nur die Künstlerin angesehen, sondern die herzensgute, aber doch innerlich schwunglose und nüchterne Natur, die mit ganzer Seele an dem Gatten hing, gebeugten Hauptes ihm überallhin folgte, aber im Grunde keine Ahnung von seiner Bedeutung hatte, und mit ihrem, vor allem auf geregelte bürgerliche Verhältnisse hindrängenden Wesen trotz aller Liebe und Treue zu ihm in einem unversöhnlichen inneren Gegensatz stand. ›Als ich Wagner so kennen lernte, war seine Zerstreuung übrigens nur zu erklärlich, da er ohne alle Mittel in der fremden Stadt angekommen, überdies nicht einmal der Sprache recht mächtig, sich keinen Rat wußte, was er uns bei näherer Bekanntschaft bald nicht mehr verbarg‹.

[361] Zu solcher näheren Bekanntschaft bot sich durch den beiderseitigen häufigen Verkehr mit Laube Gelegenheit. ›Bei aller Barschheit männlich bieder, hilfreich und gefällig, wie Laube es immer war, brachte er uns auch bald mit Heine zusammen. Dies geschah zuerst bei einem gemeinschaftlichen Diner in dem berühmten italienischen Restaurant Brocci in der Rue Lepelletier, gegenüber der großen Oper. Heine brachte seine entzückend schöne Frau mit, die, lustig und naiv wie ein Kind, für uns alle ein wahrer Augentrost war und selbst die schöne Frau Wagner überstrahlte. Laube war ganz der Mann, um den beim ersten Zusammentreffen blasiert und gleichgültig Erscheinenden durch Widerspruch zu reizen; die geistvolle Liebenswürdigkeit Iduna Laubes tat das übrige, um ein Brillantfeuerwerk von witzigen Einfällen aus ihm hervorzulocken, die er bei solchen Gelegenheiten offenbar schon sorgfältig präpariert mitbrachte. Unter diesem Sprühregen taute auch der bis dahin schweigsam gebliebene Wagner auf und betätigte nunmehr jene ihm eigene wunderbare Elastizität, die seltene Fähigkeit, mitten in größter Bedrängnis und gemeiner Not sich die vollkommenste Freiheit, den höchsten Aufschwung des Geistes zu bewahren. Er verstand vortrefflich zu erzählen, hatte das feinste Auge für komische Züge, das schärfste Gehör für die Stimmen der Natur, wie den sichersten Geschmack für alles Schöne auch in der bildenden Kunst. Da er eben die abenteuerlichste Reise, von Riga auf einem kleinen Segelschiffe, durch den Sturm bis nach Norwegen verschlagen, gemacht hatte, so fesselte er uns bald durch Erzählung dieser Abenteuer‹.50 ›Heine, der sonst so sorglose, faltete andächtig die Hände ob dieser Zuversicht eines Deutschen‹, fügt Laube hinzu. Als im Verlauf der Unterhaltung die politischen und literarischen Zustände der Heimat daran kamen und reichlich mit Lauge übergossen wurden, ›fiel es Heine auf einmal ein, daß wir denn doch bei unseren hochverräterischen Gesprächen ein wenig acht geben sollten, wer in unserer Nähe sitze Nunmehr herumhorchend in dem dichtgefüllten Salon, machte ich zu meiner nicht geringen Überraschung die Entdeckung, daß an sämtlichen Tischen deutsch verkehrt wurde, der unsrige aber schon lange ein Gegenstand beständiger Aufmerksamkeit für alle übrigen geworden war. Das vertrieb uns bei Brocci‹.

Auch im ferneren Verlauf dieser ersten Pariser Epoche ist Wagner ab und [362] zu mit Heine in oberflächliche Berührung getreten und hat ihn sogar in seiner Wohnung im Faubourg Poissonière aufgesucht. Dieser stand damals nach Laubes Schilderung ›körperlich wie geistig auf der Höhe seines Lebens, in seiner feisten Wohlbeleibtheit und munteren Geistesstimmung einem Abbé aus dem achtzehnten Jahrhundert gleichend‹. Seine äußeren Lebensverhältnisse waren die denkbar günstigsten, und bildeten zu denen des armen deutschen Musikers einen ausgesprochenen Gegensatz Zwar seine schriftstellerische Tätigkeit, wozu seine regelmäßigen anonymen politischen Korrespondenzen für die Augsburger Allgem. Zeitung gehörten, warf ihm kaum dreitausend Francs im Jahre ab; dafür hatte ihm der mit Millionen gesegnete Hamburger Oheim eine ansehnliche jährliche Rente ausgesetzt und ließ es nicht an regelmäßiger Auszahlung mangeln Verfehlte Börsenspekulationen, durch welche er seine Einnahmen auf die Höhe seiner Ausgaben zu heben beabsichtigte, brachten ihn dennoch so tief in Schulden, daß die 20000 Francs, um welche Campe 1837 das Verlagsrecht für seine Schriften auf elf Jahre erwarb, eben nur zur Deckung der ersteren ausreichten. So entschloß sich denn der ›deutsche Dichter‹ und – was hier schwerer ins Gewicht fällt – Publizist zu dem bedenklichen und verhängnisvollen Schritte, daß er eine namhafte weitere geheime Jahresrente von der französischen Regierung entgegennahm.51 Er bezog sie aus der Kasse des Ministeriums des Äußeren elf Jahre lang, bis zum Sturze des Ministeriums Guizot, und bezeichnete sie als ›das Almosen, welches das französische Volk vielen Tausenden von Fremden spendete, die sich durch ihren Eifer für die Sache der Revolution in der Heimat kompromittiert hatten‹ über Wagner hat er sich später geäußert: ›Wissen Sie, was mir an diesem Talente verdächtig ist? Daß es von Meyerbeer empfohlen wird‹.52 Er wußte nur zu gut, daß Meyerbeer keinen Rivalen, der ihm irgendwie gefährlich hätte werden können, in Paris fördern würde. Außerdem hegte er[363] gegen seinen berühmten Stammesgenossen eine auffallende Abneigung, wie sie bei ihm sonst nur aus Gründen gekränkter persönlicher Eitelkeit vorkommt Gern ließ er in der Unterhaltung seinen Witz gegen ihn spielen, wenn er z. B. in aller Trockenheit die gerüchtweise Behauptung, der Pariser Postsekretär Gouin habe Meyerbeer alle seine Opern komponiert, darauf zu reduzieren versuchte, daß Gouin ›etwa höchstens den vierten Akt der Hugenotten geschrieben habe‹.53

Allerdings weiß Pecht, im Anschluß an die vorausgegangene Schilderung ihres ersten Zusammenseins, noch von weiteren ähnlichen Diners mit Laube und Heine zu berichten, die bald in diesem, bald in jenem Restaurant fortgesetzt worden seien und läßt in jenem Zusammenhang durchblicken, als sei auch Wagner daran beteiligt gewesen; doch will uns dies nicht eben wahrscheinlich vorkommen. Kaum dürfte der junge Meister Lust – und Zeit (!) – gehabt haben, sich weiterhin an solchen, doch recht oberflächlichen Zerstreuungen mit Behagen zu beteiligen. Wenn wir uns allein vergegenwärtigen, was alles er in dieser kurzen Periode durchgemacht und geleistet, welche Sorgen ihn unausgesetzt peinigten, wie viel Vergebliches, Erfolgloses nach allen Richtungen hin unablässig von ihm versucht wurde, um seinen großen Zweck zu erreichen und einstweilen nur sein bloßes Dasein zu fristen, so kann uns diese Zurückhaltung nicht wunder nehmen. Noch immer setzte er seine ganze Hoffnung auf das ›Liebesverbot‹. Nach mehrmonatlichem Harren war er inzwischen in dieser Angelegenheit nicht um einen Schritt vorwärts gekommen. Es gelingt ihm endlich, seinen Übersetzer dazu zu bestimmen, wenigstens die Musik seines Werkes kennen zu lernen. Er spielt ihm einzelnes daraus vor, mit dem Erfolg, daß ihm dieser bereits am nächsten Tage die allerliebstesten Verse von der Welt zustellt. Mr. Dumersan wird nunmehr selbst Feuer und Flamme für die ›neue Oper‹; er versucht es in eigener Person ihre Annahme am Renaissancetheater durchzusetzen; er setzt sich mit seinem Kollegen an diesem Theater, dem Regisseur Salomé, in Verbindung und erlangt durch diesen eine [364] Zusammenkunft mit dem Direktor. Er erhebt in seinem wohlwollenden Eifer die Musik des jeune Allemand in den Himmel, – Anténor zuckt die Achseln und verschanzt sich hinter einen Schwall von Redensarten. Wieder vergeht eine lange Zeit des fruchtlosen Wartens, Joly läßt nichts von sich hören. Eines schönen Tages trifft Dumersans Trauerpost ein: Salome habe ihn zur Erklärung beauftragt, Mr. Joly wolle sich auf die Aufführung überhaupt nicht einlassen. Denn erstens sei der Autor der Oper ein Deutscher, und die jungen französischen Komponisten würden ungehalten sein, wenn sein Theater zu ihrem Nachteil einem Ausländer seine Pforten erschlösse. Zweitens müßten alle von ihm aufzuführenden Stücke eigens und lediglich für die Renaissance geschrieben sein; drittens dürfe er nur französische Originalopern geben, und viertens – wäre die deutsche Musik für sein Theater überhaupt viel zu schwer und gelehrt! Jetzt ist für Wagner der Punkt gekommen, um alles in Bewegung zu setzen. Über alle Hindernisse der Antichambren hinweg, die er uns selbst so ergreifend geschildert, erzwingt er sich eine nochmalige persönliche Unterredung mit dem Direktor. Was kein Vermittler vermocht, erwirkt er nun wie im Fluge: die starren Hindernisse schwinden vor seiner Wärme dahin, wie Gespenster beim Tagesgrauen; es ist, als hätten sie gar nicht im Ernst bestanden. Er erhält die Aufführung zugesagt; eine Audition von ausgewählten Gesangsbruchstücken soll vorher stattfinden Drei dafür bestimmte Nummern übersetzt Dumersan mit dem größten Glück; es scheint Wagner unwillkürlich, als nähme sich seine Musik zu dem französischen Text noch besser aus, als zu dem ursprünglichen deutschen. Ist sie doch von der Art, wie sie Franzosen am besten begreifen, und in der nahen Aussicht auf eine ausdrucksvoll lebendige Verkörperung des sprühenden Werkes wird in ihm selber ein erneutes Interesse für die längst in ihm abgetane Arbeit wach!

Jetzt duldet es ihn nicht länger in der abscheulichen Tonnelleriestraße. Er verläßt seine düstere Behausung; er muß sie verlassen, um dem täglichen Verkehr mit der Theaterwelt nicht zu weit entrückt zu sein, und hält seinen Umzug in eine freundliche Wohnung im vierten Stock des Hauses Nr. 25 der auf denBoulevard des Italiens mündenden Rue du Helder, – im Herzen also des eleganten, artistisch-literarischen Viertels der Weltstadt. Es ist inzwischen Frühjahr geworden, der erste Pariser Winter voll harter Leiden und Entsagungen liegt hinter ihm; er atmet auf; alles verspricht den besten Erfolg; die ersehnte Aufführung steht vor der Tür.

Am Tage seines Einzuges in die neue Umgebung – Mitte April – empfängt er die Nachricht vom erklärten Bankerott des Renaissancetheaters. Ein Blitzstrahl aus heiterem Himmel kann nicht mehr überraschen, ein Donnerschlag nicht heftiger betäuben. Das Unglück ist, peinigender als zuvor, mit ihm in die neue Wohnung eingezogen. Seine Hoffnungen sind gescheitert, seine Erwartungen grausam betrogen. Bei vollkommener Erfolglosigkeit aller [365] seiner Bemühungen sieht er sich gezwungen, seine künstlerische Tätigkeit noch tiefer herabzustimmen. Das Varietétheater, an welchem Mr. Dumersan als Dramaturg und Regisseur funktionierte, stellt ihm das Anerbieten, ein gassenhauerisches Vaudeville von Dumanoir: ›La descente de la Courtille‹ in Musik zu setzen.54 Doch selbst hierzu soll es nicht kommen! Die Eifersucht eines musikalischen Geldeinnehmers und Vaudevillemonopolisten hintertreibt die gefährlich dünkende Konkurrenz.55 Sie erspart ihm eine Demütigung, um ihn dafür tausend anderen bloßzustellen. ›Du siehst mich unterliegen‹, läßt er seinen sterbenden ›deutschen Musiker‹ sprechen, ›es genüge zu sagen, daß ich nicht auf dem Schlachtfelde erlegt wurde, sondern daß ich – entsetzlich ist es zu sagen! – in den Antichambren vor Hunger umkam! Es ist etwas Furchtbares, diese Antichambren, und wisse, daß es in Paris deren viele, sehr viele gibt, – mit Bänken sowohl von Sammet als von Holz, geheizt und nicht geheizt, gepflastert und nicht gepflastert! – In diesen Antichambren habe ich ein schönes Jahr meines Lebens verträumt. Ich träumte da viel und wunderbar, tolle, fabelhafte Dinge aus »tausend und einer Nacht«, von Göttern und Kontrabassisten, von brillantenen Tabatièren und ersten Sängerinnen, von Atlasröcken und verliebten Lords, von Choristinnen und Fünffrankenstücken. Dazwischen war es mir oft, als hörte ich den klagenden, geisterhaften Ton einer Hoboe, dieser Ton durchdrang mir alle Nerven und durchschnitt mein Herz Eines Tages, als ich am allerverwirrtesten geträumt, und jener Hoboeton mich am schmerzlichsten durchzuckt hatte, wachte ich plötzlich auf und fand, daß ich wahnsinnig geworden sei. Ich entsinne mich zum wenigsten, daß ich vergaß, dem Theaterdiener meine tiefste Verbeugung zu machen, als ich schwankenden Schrittes das Asyl meiner Träume verließ. Auf der Schwelle des Gebäudes stürzte ich zusammen. Ich war über meinen armen Hund gefallen, der, seiner Gewohnheit nach, auf der Straße antichambrierte, und seinen glücklichen Herrn erwartete, dem es erlaubt war, unter Menschen zu antichambrieren. Dieser Hund, daß ich dir es sage, war mir von großem Nutzen; denn nur ihm und seiner Schönheit hatte ich es zu verdanken, daß mich der Diener der Antichambre dann und wann eines beachtenden Blickes würdigte... Ich weiß nicht, wie lange ich so lag; die Fußstöße, die ich von den Vorübergehenden empfangen [366] haben mochte, hatte ich nicht bemerkt; endlich aber weckten mich die zärtlichsten Küsse – das wärmste Lecken meines Tieres‹ ...

In den grellen Zügen der novellistischen Darstellung liegt viel schreckliche Wahrheit aus Wagners Pariser Erlebnissen in dem traurigen Winter von 1839 zu 1840. Wir finden in ihnen auch den ehrlichen, den Robber wieder; seine Bäder im Bassin des Palais Royal und selbst die ferneren auf ihn bezüglichen Vorgänge, sind getreu der Wirklichkeit nacherzählt.56 Sein unerklärliches Verschwinden war ein Verlust, den sein Herr inmitten aller sonstigen Bekümmernisse seiner Lage lange Zeit nicht verschmerzen konnte. Ein Ende dieser Bekümmernisse war aber nach keiner Richtung hin abzusehen Welche Versuche sollte er noch anstellen, um seine musikalischen Fähigkeiten in der prunkenden Opernweltstadt zu verwerten? Vergeblich hatte er das Selbstopfer gebracht, sich ihren oberflächlichen Forderungen anzupassen; vergeblich sich zu seinem ›Liebesverbote‹ zurück, vergeblich von der Oper zur Salonromanze, von den Salons selbst zum Boulevard- und Vaudevilletheater gewandt! Sein Liebesverbot gab er nun ganz auf: er fühlte, daß er sich ›als Komponisten desselben nicht mehr achten konnte‹. Die Umkehr von dem, in seinen letzten Jahren eingeschlagenen künstlerischen Wege war in der Rigaer Einsamkeit angebahnt; Paris hatte sie vollendet. Dem französischen und italienischen Elemente in der Musik, so innerlich notwendig der Durchgang durch dasselbe in seinem Entwickelungswege begründet gewesen, gab er nun für alle Zeiten den Abschied Pecht bemerkt in seiner bereits angeführten Erinnerungsskizze, Wagners Freunde hätten an ihm beobachtet, wie er im Laufe dieses ein den Jahres ›durch die ungeheuere intellektuelle Anregung, die Paris jedem fähigen Menschen biete, innerlich unaufhörlich gewachsen, ja in einem Jahre ein ganz Anderer geworden sei‹. Daß er ein Anderer geworden, war richtig beobachtet; dagegen muß uns wohl die ›intellektuelle Anregung durch Paris‹, als Ursache dieser Wandelung, wie ein bitterer Sarkasmus erscheinen! Wir berührten zuvor die so belehrende Analogie mit Luthers Aufenthalt in Rom: wäre etwa auch dieser in gleicher Weise durch die ›ungeheuere intellektuelle Anregung‹ der ewigen Stadt zu seinem deutschen Reformationswerke begeistert worden?

Dennoch war die unmittelbare Berührung mit dem Zentrum der europäischen Opernkunstpflege in zwiefacher Hinsicht für ihn von entscheidender Bedeutung geworden. Es war eben hinsichtlich des Kunstgenres, welchem der junge Meister sein Kunstideal bis dahin nächstverwandt gefühlt hatte, eine entscheidende letzte Instanz, über die hinaus es keine höhere gab. Hätte der übermächtige [367] Trieb seines Genius oder Dämoniums ihn nicht über alle äußeren Hindernisse hinweg mit rücksichtsloser Gewalt in den Bereich ihrer täuschenden Erscheinung gerissen, so hätte sie ihm mit Notwendigkeit hinter allem kleinlichen deutschen Theatertreiben noch längere Zeit hindurch als gleißend verlockendes Trugbild vorschweben müssen: dies war nun für immer vernichtet und abgetan. Zur hellen Einsicht in ihren Unwert diente ihm aber andererseits die erbarmungslose Unerbittlichkeit, mit der sie ihm jeden Akkomodationsversuch abschnitt und ihn ganz auf sich selber zurückwies.

Fußnoten

1 Gasperini nennt hier Léon Pillet mit Namen; aber er irrt. Der damalige Direktor der großen Oper war Duponchel; ihm folgt provisorisch Ed. Monnais: dann erst (i. J. 1840) Léon Pillet.


2 Im vierten Buche der ›Confessions‹, bei seinem eigenen Eintritt in die neue Pariser Welt: ›Je fus bientôt désabusé de tout ce grand intérêt qu'on avait paru prendre á moi. Il faut pourtant rendre justice aux Français: ils ne s'épuisent point autant qu'on dit en protestations, et celles qu'ils font sont presque toujours aiaceres; mais ils ont une manière de paraître s'intéresser pour vous qui trompe plus que des paroles: on croirait qu'ils ne vous disent pas tout ce qu'ils veulent faire, pour vous surprendre plus agréablement. Je dirai plus; ils ce sont point faux dans leurs démonstrations; ils ont en effet le sentiment qu'ils vous témoignent: en vous parlant ils sont pleins de vous; ne vous voient-ils plus, ils vous oublient; tout est chez eux l'œuvre du moment.‹


3 Friedrich Pecht, ›Aus Richard Wagners Pariser Zeit‹. Beilage zur Augsb. Allgem. Zeitung vom 22. März 1883.


4 An August Lewald, Paris 1. April 1841.


5 An H. Laube, Paris 13. März 1841.


6 An Lewald 1. April 1841 und an Hofrat Winkler 7. Mai 1841.


7 Dieser der Pariser Bibliothek eigenen ›Liberalität‹, an welcher, mancher unserer heimischen Bibliotheksherren vorteilhafte Studien machen könnte, gedenkt auch Laube in seinen ›Erinnerungen‹ S. 381.


8 Aus einer israelitischen Familie stammend, war er erst in den zwanziger Jahren, ebenso wie seine sämtlichen Geschwister, zum christlichen Glauben übergetreten, nannte sich jedoch – aufrichtiger Weise – nie bei seinem hierbei empfangenen Namen ›Siegfried‹ mit welchem wir ihn aus mangelnder Kenntnis noch in der vorigen Ausgabe dieses Buches eingeführt haben ›sondern bei seinem ursprünglichen Familienrufnamen Samuel.‹


9 ›Neulich hat ein Duc, ein sehr reicher Mann, dessen Namen ich vergessen, der aber auf einigen Büchertiteln steht (es gibt hier viele solche Herren, die für Geld Bücher machen lassen und sich auf den Titel setzen), dieser Duc, Besitzer einer prächtigen Bibliothek, hat in allem Ernste behauptet: celui qui lit ses livres, ne mérite pas d'en avoir!‹ (Paris, 30. März 1838).


10 Nämlich: des Hesiod, Apollonius Rhodius, Tryphiodor, Coluthus, Tzetzes, Musäus. Die Ausgabe erschien unter dem Namen seines Bruders Karl Lehrs; daß die Arbeit daran aber tatsächlich von Samuel Lehrs herrührt, gibt L. Friedländer an, Allgem. deutsche Biographie XVIII, S. 153.


11 Nikander, Oppianus usw., die zusammen mit den Bukolikern 1851 im Didotschen Verlage erschien.


12 Briefe an Uhlig, S. 231 (an welcher Stelle übrigens bedauerlicherweise eine Druckzeile ausgefallen ist).


13 Briefe von Samuel Lehrs an seinen Bruder KarlA1 Lehrs, enthalten in dem dickleibigen Sammelwerk: ›Ausgewählte Briefe von und an Lobeck und Lehrs‹, herausg. von A. Ludwich 2 Bde. (1049 S.), Leipzig 1894.


14 A. a. O. I, S. 241.


15 Ebenda I, S. 310.


16 Ebenda S. 323.


17 Charakteristisch ist es für ihn, daß er Zeit seines Lebens, im vollsten Gegensatz zu Jenem, ein wütender Wagnerhasser gewesen ist, wofür wir im Anhang einige vielsagende Belege zu bringen gedenken!


18 Fr. Dübner an K. Lehrs, in dem genannten Brief-Sammelwerk I. S. 332.


19 Herr Alfred Bovet (S. 304 Anm.) hat sich ein halbes Jahrhundert später, auf die Anregung des Verfassers hin, bei verschiedenen Pariser Aufenthalten allen darauf bezüglichen Spuren nachgehend, vergeblich darum bemüht.


20 Ges. Schr. I, 167: ›Es waren außer mir nur zwei, die seiner Leiche folgten, ein Philolog und ein Maler; ein Anderer ward vom Schnupfen verhindert, noch andere hatten keine Zeit‹.


21 Ges. Schr. IV, S. 332.


22 Derselben ungedruckten Quelle entnehmen wir, daß Kietz damals (1835/36), trotz seiner Jugend, als Zeichner schon ›sehr gesucht‹ gewesen sei. Unter den von ihm gezeichneten Porträts ist mir besonders das sehr gelungene der Schröder-Devrient in Erinnerung. Im übrigen erfahren wir daraus über ihn nur, daß er auf den häufig unternommenen kleinen Ausflügen der akademischen Jugend in die Umgegend Dresdens stets einen sehr angenehmen Gesellschafter abgegeben habe, sowie einige belanglose heitere Anekdoten.


23 S. 61 dieses vorliegenden Bandes.


24 Briefe an Uhlig, Fischer, Heine, S. 362 u. 366.


25 Band II des vorliegenden Werkes, S. 358.


26 Friedrich Pecht, ›Aus Richard Wagners Pariser Zeit‹ (Allgem. Zeitung vom 22. März 1883).


27 Fast wörtlich so heißt es bei Wagner selbst: (›Hierzu zum Bekanntwerden in der Weltstadt) fehlten mir vor allem die persönlichen Eigenschaften: kaum hatte ich das Französische, das mir instinktmäßig zuwider war, für das allergewöhnlichste Bedürfnis erlernt. Nicht im mindesten fühlte ich Neigung, das französische Wesen mir anzueignen; aber ich schmeichelte mir mit der Hoffnung, ihm auf meine Weise beikommen zu können; ich traute der Musik, als Allerweltsprache, die Eigenschaft zu, zwischen mir und dem Pariser Wesen eine Kluft ausfüllen zu können, über deren Vorhandensein mein Gefühl mich nicht täuschen konnte‹ (Ges. Schr. IV, S. 321).


28 Wie tief diese anmutvollen Gelegenheitsdichtungen doch dem Innern des jungen Meisters entströmt sind, zeigen die mannigfachen Berührungen und Verklammerungen, durch welche sie thematisch mit späteren größeren Schöpfungen zusammenhängen. Der das Wiegenlied einleitende charakteristische Rhythmus ist nicht bloß dem volkstümlichen Melismus des Matrosenrufes und Spinnerliedes im ›fliegenden Hol länder‹ aufs innigste verwandt, sondern durch die ihm innewohnende mütterlich heimische Traulichkeit auch mit dem heimat sehnsüchtigen Abschluß der Melodie Sentas: ›Ach wo weilt sie, die dir Gottes Engel einst könnte zeigen?‹ Attente ist in seinem Hauptthema durch den gemeinsamen plastischen Zug des Spähens von der Warte mit ›Tristan‹ verbunden (›Und Kurwenal du, du sähst sie nicht?‹), – die ›beiden Grenadiere‹ gar durch das prägnante Motiv wankender Todeserschöpfung mit ›Parsifal‹ deutlich verknüpft (›Kein Fleh'n, kein Elend seiner Ritter‹).


29 Diese Beobachtung Wagners wird durch die drastische Schilderung St. Hellers näher ausgeführt. ›Schon im Jahre 1838, als ich zuerst nach Paris kam, stand Berlioz ganz apart unter den dortigen Künstlern. Er war verkannt, das ist richtig; aber wie ein Solcher, an dem zu verkennen war: er hatte die »Verkennung« zu einer Würde erhoben; denn die Bewunderung eines großen Kreises ließ sie so grell und unliebsam hervortreten, daß sie ihm täglich neue Freunde gewann. Namentlich waren es die Künstler anderer Fächer, welche sich nicht immer durch die Musik, aber von ihren poetischen Vorwürfen, den pittoresken Programmen angezogen fühlten. Zu diesen muß man viele der besten Dichter und Romanciers zählen: V. Hugo, Lamartine, Dumas, de Vigny, Balzac, die Maler Delacroix und Ary Schefer. Alle diese großen Schriftsteller und gänzlich musiklosen Menschen, welche in ihren Dramen bei schauerlichen Szenen einen Walzer von Strauß im Orchester spielen ließen, um die Rührung oder das Entsetzen zu steigern (es ist wahr, der Walzer wurde langsam, feierlich, mit Sordinen und einigem Tremolo gespielt!) alle diese Leute schwärmten für Berlioz und betätigten ihre Sympathie in Schrift und Wort. Und endlich eine gewisse Anzahl Leute von der vornehmen, der eleganten Welt, die auf wohlfeile Art den Ruf von Freigeistern erlangen wollten. Sie waren nicht kapabel, eine Sonate von Diabelli von einer Beethovenschen zu unterscheiden; aber sie schrieen gegen den sündlichen Reiz der modernen Musik, prophezeiten den Untergang jener lasterhaften, hochaufgeschürzten Melodieen‹ usw. (Verkürzt nach Allg. Musikzeitung 1894, S. 88.)


30 Vgl. S. 280 dieses vorliegenden Bandes (Dresdener Chöre in der ›Jüdin‹)!


31 In betreff dieser späteren, in stetiger Regelmäßigkeit das Repertoire der Opéra comique befruchtenden Erzeugnisse des nationalsten französischen Opernkomponisten – Domino noir, Diamants de la couronne u. a. – läßt sich Wagner (im April 1841) von Paris aus mit schlagenden Witz vernehmen: Auber sei das Opernkomponieren zur Gewohnheit geworden, wie einem Barbier das Einseifen. Oft lasse es aber der große Meister jetzt beim Einseifen, mitunter auch bloß beim Schaumschlagen bewenden; sein schönes, scharfes Messer, so blank es auch sei, fühle man nur noch selten, und setze er es an, so passiere es, daß er dann und wann eine Scharte daran nicht bemerke, und ohne es zu wissen, daher entsetzlich raufe. ›Auf diese Art kommt das Publikum oft mit langem Barte wieder aus der Barbierstube zurück, und es bleibt ihm nichts übrig, als den Seifenschaum abzuwischen, wenn man nicht warten will, bis er, so wohlriechend er ist, von selbst verfliegt, was in der Regel geschieht, noch ehe man nach Laufe kommt‹. Nichtsdestoweniger gewahre man z. B. in den Diamants de la couronne immerhin, daß ein Meister die Oper geschrieben, und eine glänzende Praxis sei nie zu verkennen.


32 Gesammelte Schriften Bd. I S. 23.


33 Allgemeine Musikzeitung 1896, S. 575/76.


34 Vgl. darüber J. v. Santen-Kolff, ›Der Faust-Ouvertüre Werden und Wachsen. Geschichtliches – Biographisches – Ästhetisches. Zum fünfzigjährigen Jubiläum ihrer ersten Aufführung‹ (Bayr. Blätter 1894, S. 240 ff.).


35 Es verblieb in dieser Gestalt bis zum Jahre 1864 unter des Meisters Papieren; um diese Zeit schenkte er es, mit der eigenhändigen Aufschrift ›famoses Blatt‹, an H. v. Bülow, aus dessen Besitz es in Österleins ›Wagner-Museum‹ übergegangen ist.


36 Graf Louis Fourcaud, in den ›Bayr. Festblättern‹ 1884, nach mündlicher Erzählung des Meisters. J. v. Santen-Kolff weist in seinem soeben zitierten Aufsatz darauf hin, daß der Traité erst 1844 erschienen sei; der Leser möge dies nun mit sich selber ausmachen; die Anekdote trägt innerlich zu sehr den Stempel der Echtheit: es muß dann eine andere Arbeit von Berlioz gewesen sein! Mr. Ashton-Ellis meint in der englischen Ausgabe des vorliegenden Werkes, es könne sich um den Band der Gazette musicale gehandelt haben, in welchem vom November 1841 ab die Vorarbeiten zum Traité in einem Aufsatze ›De l'instrumentation‹ zuerst abgedruckt sind, und bezieht den Vorfall auf die Orchestrierung der ›Holländer‹ – (statt der ›Faust‹ –) Ouvertüre.


37 ›Meine Nerven waren um diese Zeit so abgespannt, daß ich oft Viertelstunden lang da saß und weinte‹, sagt er von einer späteren, bei weitem minder bedrängten Zeit bloßer Überbeschäftigung im ›Dienst‹.


38 ›Die Welt als Wille und Vorstellung‹ I, 445/46; II, 677/78.


39 Wir beziehen uns hier auf den weiter unten (S. 394) zu erwähnenden ersten Entwurf der Novelle.


40 ›Erst der zweite Satz sollte nun Gretchen – das Weib – vorführen: schon hatte ich das Thema für sie – es war aber eben ein Thema: das Ganze blieb liegen – ich schrieb meinen fliegenden Holländer‹ (Briefwechsel zwischen Wagner und Liszt I, S. 200). Aus diesen Worten schließt Noufflard ganz willkürlich, das Gretchenthema sei als Sentamotiv (oder Erlösungsthema) in den ›fliegenden Holländer‹ übergegangen; wäre es so gewesen, so hätte es Wagner gerade in diesem Zusammenhange zweifellos bestimmt ausgesprochen! Vgl. Briefe an Uhlig S. 248.


41 So meldet die Revue et Gazette musicale de Paris vom 22. Januar 1840: Une Ouverture d'un jeune compositeur allemand d'un talent très remarquable, M. Wagner, vient d'être répétée par l'orchestre du Conservatoire et a obtenu des applaudissements unanimes. Nous espérons entendre incessament cet ouvrage, et nous en rendrons compte.


42 L. Bernardini, R. Wagner, S. 49. Der gleiche Irrtum ist in zahlreiche andere Darstellungen übergegangen.


43 Dies ist, seit dem Erscheinen der letzten Ausgabe dieses Bandes, durch den Bibliothekar des Conservatoire, Herrn Julien Tiersot, außerdem über jeden Zweifel hinaus urkundlich und nachweislich festgestellt.


44 Gutzkow, Rückblicke S. 173. 176.


45 Brieflich an Lehrs, 12. Juni 1812.


46 Den Roman ›Gräfin Chateaubriand‹ und die ›Französischen Luftschlösser‹.


47 Zeitung für die elegante Welt 1843 No. 6.


48 Laube schreibt sogar aus offenbarem Versehen: im Winter 1838. Um diese Zeit war Wagner in Riga und Laube ebenfalls noch nicht in Paris.


49 Die hier berührte Verwandtschaft Laubes mit Friedrich Brockhaus war durch seine Vermählung mit der, den mannigfach untereinander verschwägerten Leipziger Gelehrten- und Kaufmannskreisen entstammenden Iduna Hänel, gebornen Budäus begründet.


50 Wir schalten hier die Pechtsche Ausführung dieser Erzählung mit ein: ›In seiner, die Worte wie ein Schneegestöber heruntersprudelnden Art berichtete er uns seine Abenteuer auf der Reise hierher, wobei er, in einer kleinen Barke (?) abgefahren, vom Sturm nach Norwegen verschlagen worden war. Nicht min der, wie ihm dort das Pfeifen des Windes in dem gefrorenen (?!) Takelwerk einen so seltsam dämonischen Eindruck gemacht, daß ihm, als einmal noch im Sturm plötzlich ein Schiff vor ihnen aufgetaucht, aber ebenso rasch wieder im Dunkel der Nacht verschwunden sei, alsbald der fliegende Holländer eingefallen wäre und er jetzt in Gedanken immer eine Musik dazu komponiere‹ (Pecht, ›Aus meiner Zeit‹ I, S. 182).


51 Eugen Wolff, Briefe von Heinrich Leine an Heinrich Laube, Breslau, Schottländer 1893, S. 42. Der französische Schriftsteller und ehemalige Diplomat E. Grenier, welchen Heine im intimen Verkehr gern mit dem Spitznamen des kleinen französischen Goethe bezeichnete, mußte ihm einen Teil dieser Korrespondenzen ins Französische übertragen, ›um sie (so erzählt Grenier), wie er mir sagte, der Fürstin Belgiojoso zu zeigen, die ich eines Tages bei dem Rennen auf dem Marsfelde gesehen und welche mir lebhafte Bewunderung eingeflößt hatte. Später, viel später entdeckte ich, für wen ich diese Artikel der »Augsb. Zeitg.« übersetzte: es war nicht für die schönen Augen der Fürstin, für jene großen grausamen Augen, wie Musset sie benannte, sondern es war für diejenigen des Herrn Guizot. Heine erhielt jährlich 6000 Frcs. aus dem geheimen Fonds, und er mußte von Zeit zu Zeit dem Minister zeigen, daß er diesen hohen Lohn verdiene; er ließ mich darum wahrscheinlich die Artikel übersetzen, welche besonders günstig für Frankreich lauteten. Im übrigen hatte ich die Übersetzung umsonst gemacht, denn niemals stellte mich Heine der Fürstin vor‹. (E. Grenier in der ›Revue bleue‹ 1892).


52 Im Gespräch mit dem Musikschriftsteller Th. Hagen (Joachim Fels); vgl. Neue Zeitschrift für Musik 1844, I, No. 32.


53 Einen teils bewundernden, viel mehr aber sarkastischen Aufsatz über Meyerbeer veröffentlichte Heine in seinem Pariser Musikbericht vom 20. April 1841 (Werke, Bd. XI, Französische Zustände S. 340–41). Aber er hatte seiner Erbitterung darin keineswegs genug getan. Noch am 4. Mai 1854 schreibt er in einem Briefe ausführlich über sein Verhältnis zu Meyerbeer: ›Es ist das höchste Bedürfnis für mich, meine Meyerbeeriana der Welt nicht vorzuenthalten und nicht wie ein Hund mit dem Maulkorb zu krepieren. Sterbende haben keine Furcht vor den Mitteln, die dem großen Generalintendanten der Musik zu Gebote stehen‹. Trotzdem hat er sich doch nicht schriftlich, sondern bloß mündlich geäußert, sei es nun doch aus Furcht, oder aus ähnlichen Rücksichten des alles beherrschenden Stammeszusammenhanges, wie er sich in seinem Briefe an Ferdinand Lassalle (11. Febr. 1846) hinsichtlich Mendelssohns kundgibt (›In bezug Felix Mendelssohns füge ich mich gern Ihrem Wunsche, und es soll keine böse Silbe mehr gegen ihn gedruckt werden! Ich habe Malice auf ihn, wegen seines Christelns‹ usw.).


54 La descente de la Courtille – die Rückkehr der Masken am Aschermittwoch aus Courtille, einer Vorstadt, nach Paris.


55 Nach Gasperini wäre diese Musik doch ganz oder teilweise komponiert worden; aber nach einigen Proben hätten die Choristen des Theaters (pas aguerris encore à cette époque avec la musique de la ›Belle Hélène‹) sie für parfaitement inexécutable erklärt. Nur ein Chor: ›Allons à la Courtille‹ sei daraus beibehalten worden und habe ›seine Stunde der Berühmtheit gehabt‹. Das Stuck selbst gab man noch im Jahre 1841, Wagner erwähnt da der Karnevalszeit in Paris; das Wetter sei rauh und garstig gewesen und jeder habe es vorgezogen, die descente de la Courtille im Théâtre des variétés anzusehen, als die Strapaze in natura mitzumachen (›Pariser Amüsements‹).


56 Gewiß auch jener köstliche Zug eines weichen Herzens, das den armen deutschen Musiker ›beständig weinen läßt, wenn man die armen Pferde in den Straßen von Paris peinigte!‹


A1 Eigentlich gar nicht Karl, sondern ›Kaufmann‹ mit Vornamen geheißen, wie ihn auch der Bruder in seinen vertraulichen Briefen regelmäßig anredet!

Quelle:
Glasenapp, Carl Friedrich: Das Leben Richard Wagners in 6 Büchern. Band 1, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1905, S. 337-368.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Lessing, Gotthold Ephraim

Philotas. Ein Trauerspiel

Philotas. Ein Trauerspiel

Der junge Königssohn Philotas gerät während seines ersten militärischen Einsatzes in Gefangenschaft und befürchtet, dass er als Geisel seinen Vater erpressbar machen wird und der Krieg damit verloren wäre. Als er erfährt, dass umgekehrt auch Polytimet, der Sohn des feindlichen Königs Aridäus, gefangen genommen wurde, nimmt Philotas sich das Leben, um einen Austausch zu verhindern und seinem Vater den Kriegsgewinn zu ermöglichen. Lessing veröffentlichte das Trauerspiel um den unreifen Helden 1759 anonym.

32 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon