VII.

[327] Nach dem glorreichen, aber anstrengenden Winterfeldzuge von 1881/82 hatte sich Brahms einen hübschen Frühjahrsplan ausgesonnen. Da er bei seinem Aufenthalt in Hamburg Pollini, dem Direktor des Stadttheaters, versprechen mußte, dort am Karfreitag (7. April) sein »Deutsches Requiem« zu dirigieren, so wollte er die stille Woche in der Vaterstadt, die Feiertage in Berlin zubringen, dann aber Herzogenbergs von Leipzig zu einem Ausfluge nach Thüringen abholen. Vornehmlich war es dabei auf Weimar und Jena abgesehen, die er schon im vorigen Herbste so gerncon amore besichtigt hätte. So hoffte er auch am gefälligsten eine durch sein unfreundliches Betragen verschuldete Verstimmung der Frau Elisabet zu beseitigen, und er malte es sich in seiner Phantasie in verführerischen Farben aus, mit den ihm ergebenen Freunden, an der Seite der reizenden, klugen und unterrichteten Frau einen, den Erinnerungen an Schiller und Goethe geweihten klassischen Frühling zu verleben und mit neuen lyrischen Melodien beladen, zum Wiener Prater zurückzukehren. Aber nur den ersten Teil seines Vorhabens konnte er ausführen, und es wurde ihm sauer genug. Anstatt sich mit dem Hamburger Bachverein acht Tage lang abzuplagen, hätte er lieber mit dem Cäcilienverein musiziert, der von Julius Spengel in den vier Jahren seines Direktorats zu einer zuverlässigen, lenksamen Musterschar herangebildet worden war. Trotzdem gelang es Brahms, dem aus verschiedenen Elementen zusammengesetzten Chor, in welchem die Solisten der Oper mitsangen, nebst verstärktem Theaterorchester sein Werk so gut einzustudieren, daß die Reproduktion zu einer ungeahnten Höhe der Vollendung gedieh; die Soli wurden von Frau Peschka-Leutner und dem Baritonisten Kraus gesungen. Von Frau v. Herzogenberg aber, der er neue Lieder im Manuskript sendete, um sie [327] vollends zu begütigen, langte die Nachricht an, ihr längst eingeladener Osterbesuch (Julius Epstein) habe sich bereits angemeldet, und Brahms fuhr ohne Umweg nach Wien zurück.

Hier war seine erste Sorge, einige neue Liederhefte zusammenzustellen. In den drei Jahren, die seit der Herausgabe der Balladen und Romanzen op. 75 verstrichen waren, hatte sich mancherlei angesammelt. Aber an dies und jenes mußte noch eine letzte Feile angelegt, manches auch erst frisch herzugeschafft werden, um die dreiteilige Anthologie zu vervollständigen. Von der Mehrzahl der auf op. 85 und 86 verteilten Lieder wissen wir, daß sie im Mai 1879 in Pörtschach komponiert worden sind.1 In op. 85 läßt sich nur von Nr. 4 »Ade!« eine genaue Zeit seiner Entstehung nicht nachweisen, doch ist sie keinesfalls vor 1877 zu setzen, da Brahms erst damals mit den Übersetzungen Kappers bekannt wurde. Wahrscheinlich gehört das Lied noch dem reichen Liederfrühling von 1877 an,2 blieb aber in der Knospe stecken und blühte erst als Märzveilchen des Jahres 1882 auf. Das kleine Ding, das sich auf einer leichten Moll-Melodie wiegt, gab dem Komponisten viel zu tun; weniger mit der Begleitung, die den Zweivierteltakt gern in den Sechsachteltakt verschöbe, als einer die Form störenden Freiheit wegen, die sich der Dichter in der dritten Strophe gestattete. Er zieht hier den zweiten in den dritten Vers hinüber, während er in den vorangehenden Strophen immer einen tiefen Einschnitt in der Mitte macht, den Brahms durch eine, der Dominantkadenz (fis vor h-moll) folgende Pause markierte. Bei seiner Gewissenhaftigkeit wird er sicher den Versuch gemacht haben, dem Lied eine anders komponierte Schlußstrophe zu geben, bis er von zwei Übeln das kleinere wählte und die Einheitlichkeit des hier durchaus gebotenen Strophenliedes aufrecht erhielt. Die Pause aber wird von der Singstimme ausgefüllt, welche den holprigen Vers: »wehn zwei weiße Tücher einander zu« durch plötzliche Vertauschung von Hebung und Senkung in daktylische Dipodien umkehrte. Das gestaute Schiff des Liedes schaukelt hin und her, der Sänger weiß kaum, wo er den Atem hernehmen soll, um den Sinn des Gedichtes ans Land zu bringen.

[328] Das Lied wäre im Pulte liegen geblieben, wenn das pianissimo wie in der Ferne ersterbende Ade! nicht gar so süß um Gnade gefleht hätte. Nicht umsonst lebte in seinem H-dur die Hoffnung: Auf Wiedersehn.

Der unvermittelte Wechsel von Dur und Moll kann wohl nicht als spezifisch »slawisch« bezeichnet werden, nicht einmal als charakteristisch für das Volkslied überhaupt. Er findet sich schon bei Schubert, und Brahms wendet ihn öfter an, um irgendeinen Zwiespalt oder ein Schwanken der Stimmung auszudrücken, wie in der »Waldeinsamkeit« desselben Heftes (Nr. 6) und im »Nachtwandler« (op. 86 Nr. 3), zwei ausgesprochenen Kunstliedern. Ganz anders erklingt der Volkston in dem serbischen Mädchenliede (op. 85 Nr. 3). Mit großer Kunst wird der Eindruck unmittelbarer Natürlichkeit erzielt, den Kappers Gedicht so erfrischend wiedergibt. Die Melodie wächst aus dem eintönigen, die Gusla imitierenden Ritornell heraus; neben der Hirtenflöte läßt sich das serbische Nationalinstrument hören, das über eine einzige, von Roßhaaren gedrehte Saite verfügt:


7. Kapitel

und man erinnert sich dabei an die Klage des es-moll-Intermezzos in op. 118. Der Fünfvierteltakt gibt den beiden regelmäßig in allen vierzehn Versen am Ende jedes Taktes wiederkehrenden Viertelnoten ein eigenes Gewicht, der Mangel der Zäsur aber dem Gesange eine Art von starrköpfiger Leidenschaftlichkeit, die, taub gegen alle Vernunftgründe, immer wieder auf ihren Spruch zurückkommt. Und noch eine Vorstellung wird lebendig: dem singenden Mädchen liegt die Weise im Ohre, die den Geliebten einst mit ihr vereinte: eben jenes Ritornell. Der Gesang weicht ihm mit Umschreibungen aus, bis er bei der Zeile: »Fern, ach, weilet der Geliebte!« gemeinsame Sache mit ihm macht. Sie hört es über drei grüne Berge, über drei kühle Wasser herüber und variiert die Melodie nachdenklich mit rhythmischen Dehnungen:


7. Kapitel

[329] als wäre sie ihr endlich nach vielem Umhersinnen eingefallen, – nicht zu ihrer Freude! Der solange künstlich vorenthaltene Sechsvierteltakt ist beim drittletzten Takte des Liedes eingetreten und hat den ursprünglichen Charakter des Ritornells deklariert: Ach, nie wieder wird sie mit dem Geliebten tanzen!

Den Volksliedern von op. 85 sind zwei Kunstliederpaare an die Seite gestellt. Durch die Übereinstimmung ihres Metrums ließ sich Brahms von Heines »Dämmernd liegt der Sommerabend« und »Nacht liegt auf den fremden Wegen« verführen, einen inneren Zusammenhang zwischen beiden herzustellen, der allenfalls im Unterbewußtsein, aber nicht im Geiste des Dichters bestanden haben mag. Im »Buch der Lieder«, und zwar in der »Heimkehr«, folgen allerdings, wie bei Brahms, beide Lieder einander auf dem Fuße, und als drittes schließt sich das ebenfalls von Brahms komponierte »Der Tod, das ist die kühle Nacht« (op. 96 Nr. 1) ihnen an. Aber schon die Ordnung der Reime betont den eigentümlichen Unterschied, der die Stimmungskreise der beiden Lieder voneinander ausschließt. Mehr als ein persönliches Erlebnis mag das Vergnügen an der schönen Melodie die anmutige Konfusion verschuldet haben. Gegen Dessoff verteidigte Brahms sein willkürliches Verfahren mit der Ausrede: »Die beiden Gedichte stehen bei Heine zufällig zusammen, der Mond scheint in beiden, und es ist für einen Musiker doch sehr ärgerlich, wenn er hübsche vier Zeilen nur einmal sagen darf, da er sie doch so anständig und artig verändert wiederholen könnte!« Er werde wohl den einen Heine wegwerfen, dafür mache ihm aber der andere keinen Spaß mehr. Schließlich behielt er sie lieber beide. Die Seligkeit des phantastischen Musikers, der in Pörtschach mehr als einen lieblichen Elementargeist belauschte, wurde von der Reflexion getrübt, daß derlei Ausgeburten seines Hirns leider die einzige Gesellschaft waren, die ihm in zärtlichen Augenblicken als Gespielin der erregten Sinne zu Diensten stand. Ein Grauen kam ihn an vor der im Bache badenden schönen Elfe, die ihm der trügerische Mondenschein vorzauberte. Aber dasselbe tückische Pörtschacher Irrlicht war doch auch der alte gute Hamburger Mond, der in jungen Jahren so oft die Qualen zerrinnen, die Augen übertauen ließ, sein und Klopfstocks ehrwürdiger [330] »Gedankenfreund«. Auch diesmal tröstete er ihn mit der fast ironischen Gewißheit, daß die tanzende Najade doch noch immer den zudringlichen Damen vorzuziehen sei, die am Wörthersee und anderswo auf ihn lauerten, um ihm ein Glück zu versprechen, das ihn ärger genarrt haben würde als die heilloseste optische Täuschung. Die schmerzliche Parodie des »Sommerabends«, welche uns den in der Fremde von dunkler Nacht umhüllten Wanderer vorführt, wie er die müden Glieder und das kranke Herz nach Hause schleppt, gebraucht einige im Zwischen- und Nachspiele des ersten Liedes eingestreute, höchst persönliche Seufzer des Musikers als Leit- und Lockmotiv für das zweite. Sie rufen die Elfe wieder zurück, und der zauberische Tanz im Mondenschein beginnt von neuem:


7. Kapitel

Ein offenkundiges »Frühlingslied« erscheint als Nr. 5. Seine Melodie ordnet sich der Deklamation des schönen, mit Wohllaut bereits bis zum Überströmen angefüllten Geibelschen Gedichtes notgedrungen unter. Es ist, als habe sich der Komponist mit Rücksicht auf den Dichter nicht recht herausgetraut und den feurigsten Erguß seines Innern für sich behalten – ein halbes Zugeständnis, daß er eigentlich hier nichts zu sagen hatte, weshalb er sich lieber in der rhythmisch erregten Klavierbegleitung austobte. Aus dem Schlusse der ersten melodischen Phrase, welche in die große Septime hinaufsteigt, als ob es sich um eine Offenbarung aus der neudeutschen Schule handle, zog Brahms eine Mittelstimme hervor, die für ihn eine Reminiszenz an akademische Göttinger Zeiten, an Ise, Gur und Gathe,3 bedeutet zu haben scheint. Das Motiv


7. Kapitel

[331] stieß uns schon in der »Akademischen Festouvertüre« auf, und bei der Besprechung des Werkes wurde er wähnt, daß die nämliche Tonreihe im »Ständchen« (op. 106 Nr. 1) wiederkehrt, um die Gruppe der musizierenden Studenten zu charakterisieren.4 – Das schönste Lied in op. 85 ist wohl das als Beispiel für den von Brahms beliebten schwankenden Wechsel der Tongeschlechter angezogene »In Waldeseinsamkeit«. Der Anfang verspricht nicht viel; er erinnert an die Biedermeierweise der vormärzlichen Zeit, von der, wie der feinhörige Spitta bemerkt, ein Ton die Brahmssche Kunst lebenslang ganz leise durchklingt.5 Aber gleich nach dem ersten Abschnitt der ohrenfälligen Melodie regt sich der ewige Geist, der aus Brahms in neuen Zungen redet: »Windesatmen, Sehnen ging durch die Wipfel breit.« Das Herz horcht auf und singt mit. Der Übergang von der Naturschilderung zum persönlichen Erlebnis ist in wunderbare Harmonien getaucht, die weit von der Grundtonart (H-dur) ablenken möchten und doch mit magischen Fesseln von ihr zurückgehalten werden. In der fast dramatisch bewegten Szene des Mittelsatzes stimmen Wort und Ton so genau überein, als ob sie miteinander geboren worden wären. Das zweitaktige Ritornell des Vorspiels leitet sanft in den Anfang der Melodie zurück; aber der bis dahin stummgebliebenen Natur wird von dem liebenden Paar, das in ihrem Schoße ruht, die Zunge gelöst: das Lied der fernen Nachtigall ist der Brautgesang ihres Bundes. »Sind es Freuden, sind es Schmerzen« fragen die schwebenden Harmonien; das Zeitliche geht ins Ewige über, Tod und Leben werden eins. »Wem dabei nicht die Augen übergehen,« schrieb Frau v. Herzogenberg dem glücklichen Komponisten,6 »der ist überhaupt wohl nicht zu packen.«

Die »Romanzen und Lieder für eine oder zwei Stimmen« op. 84 nennt dieselbe geistvolle Frau gar zu herzige kleine Racker »Wie einfach geben sie sich, wie kindlich schauen sie einen an, aber wie Kinder vornehmster Art, wie Kinder Schuberts und Beethovens!« Sie hätte sagen sollen: wie Schubert- und Beethoven-Enkel, denn wer ihr Vater ist, verraten die Lieder doch [332] in jedem ihrer charakteristischen Züge. Von den fünf Stücken in op. 84 sind 1–3 jüngeren, 4 und 5 vermutlich nicht viel älteren Datums als die in den anderen Heften enthaltenen. Hans Schmidts Gedichte wurden Brahms, wie wir aus dem vorigen Kapitel wissen, vom Autor nach Preßbaum gesandt, und die ungewöhnliche Wärme seines Dankes läßt darauf schließen, daß sie ihn sofort zur Komposition anregten, ehe er Klavierkonzert und »Nänie« in Angriff nahm. In einem seiner handschriftlichen Texthefte stehen sie einige Seiten hinter »Spannung« und »Vergebliches Ständchen«, dieses letzte aber unmittelbar vor der unkomponiert gebliebenen »Verzweiflung« von Felix Schumann, bei der sich das, übrigens vom Dichter, nicht von Brahms herrührende Datum »Palermo 1878« befindet.7 Auch der »Nachtwandler« (op. 86 Nr. 3) ist dort notiert, den Brahms schon 1877 so gut wie fertig hatte.8 Seit [333] Jahren ging er auf Texte von Balladen und Romanzen in dialogischer Form aus, die ihm erlaubten, Duette wie die in op. 75 veröffentlichten, zu komponieren, von denen jedes ein Treffer war. Er notierte sich erst flüchtig ein Dutzend Titel von Gedichten, die er in Volksliedersammlungen und bei Eichendorff, Uhland und Lemcke gefunden hatte, darunter Eichendorffs »Das kalte Liebchen« und Uhlands »Das Schloß am Meere«, »Die sterbenden Helden«. Aber nur die aus Zuccalmaglios »Volksliedern der Deutschen« entlehnte »Spannung« wurde später in extenso eingetragen, unmittelbar nach Felix Schumanns »Den Becher des Elends, den übervollen«, ein Zeichen dafür, daß Brahms das Lied sich für die Komposition anzueignen wünschte. Es beschließt als fünftes und letztes das Heft op. 84, und bekennt sich insofern äußerlich zum »Duett«, da ähnlich wie in »So laß uns wandern« (op. 75 Nr. 3) die beiden Stimmen zuletzt in Intervallen miteinander verschmelzen, so daß, wenn der erwünschte Effekt erreicht werden soll, »Er« und »Sie« von einer Tenor-und einer Sopranstimme gesungen werden müßten.

Davon schreibt aber Brahms nichts, so wenig wie er seine »Romanzen und Lieder« Duette nennt. Wenn gleichwohl auf dem Notenumschlage steht: »für eine oder zwei Stimmen«, so braucht der zweite Teil der Alternative nur für das letzte Lied zu gelten. In der Tat paßt »Spannung« mehr zu den dramatisch bewegten Balladen und Romanzen von op. 75, wenn es nicht zwischen ihnen und den lyrischen Gesängen der neuen Sammlung die Mitte hält und mit dem zuvor genannten »So laß uns wandern!« (op. 75 Nr. 3) eine besondere Gruppe bildet. Aus der herzbeweglich klagenden, in Sexten und Terzen beginnenden Melodie, welche den Abendgruß des böser Liebe gewärtigen Burschen in übermäßigen und verminderten Quartschritten vorbringt, hört man gleich das Verlangen hervor, das zwischen den Liebenden waltende Mißverständnis (die »Spannung«) zu lösen, und wenn »Sie« für ihre eifersüchtigen Vorwürfe keine eigene Melodie findet, sondern dem Geliebten mit der Wiederholung der ersten Strophe antwortet, so ahnt man schon, daß »Er« das seinige dazu tun werde, um das trübe a-moll zuletzt in strahlendes A-dur übergehen zu lassen, obwohl »Sie« sich in dem leidenschaftlichen Mittelsatze [334] abweisend genug geberdet. Die am Schlusse jeder Strophe refrainartig gebrauchte Anrede »Mein Engel!« erlaubte dem Tondichter, drei viertaktigen Perioden immer eine fünftaktige nachzuschicken. Zu den Eigentümlichkeiten des Liedes gehört auch die Reimlosigkeit des Textes. Sollte sie dem Literaturforscher nicht nahelegen, daß das deutsche Volkslied eines der vielen weitgewanderten späteren Abkömmlinge des lateinischen »Donec gratus eram tibi« ist? Horaz und Lydia unter den Schiffern des Niederrheins! Die indirekte Aufforderung des Liedes, die in dem gegenseitigen »Mein Engel!« schlummernde Ironie aufzuwecken, blieb unbeachtet: Sache des oder der Vortragenden wird es sein, das absichtlich Versäumte nachzuholen.

Der Meister aller Ironie, der Brahms im Leben sein konnte, offenbart sich ganz köstlich in dem andern niederrheinischen Volksliede »Vergebliches Ständchen«, das der »Spannung« vorangeht. Es gehört zu den Liedern, die, wie Goethe sagt, nach ihrem eigenen Ton- und Klangelement von Ohr zu Ohr, von Mund zu Mund gelangen, um dann allmählich belebt und verherrlicht zum Volke zurückzukehren. Von Amalie Joachim zuerst gesungen, ist diese schalkhafte Abfertigung eines unbescheidenen Liebhabers zum Weltliede, zum lachenden Entzücken der Nationen geworden, und das spöttische »Gute Nacht, mein Knab'!« wird nie wieder vergessen, wer es einmal gehört hat. Freilich muß der singende Pfeil von den Lippen einer Sängerin à la Joachim oder Barbi abgeschnellt werden, die dem delikaten Humor des »Vergeblichen Ständchens« gerecht wurden. Der Spaß beruht zuerst und zuletzt auf der strophischen Behandlung eines Liedes, das wohl jeder und nicht nur ein Schwächerer als Brahms durchkomponiert haben würde. Als Vollblut-Melodiker, der es nicht nötig hatte, seinen Mangel an Erfindung hinter der mehr oder weniger »geistreichen« Paraphrasierung des Dichters zu verbergen – wovon so viele überschätzte moderne Liederkomponisten leben! – bevorzugte Brahms das Strophenlied. Zu Gustav Jenner äußerte er sich, daß, wenn der Text die strophische Behandlung zuließe, diese auch zur Anwendung kommen müsse.9 [335] Hier nun trat die Ausnahme ein, daß der Text das Gegenteil forderte, und daß Brahms der humoristischen Wirkung wegen ihn dennoch strophisch behandelte. Von Spott ist in der Antwort des sittsamen Mädchens beim Dichter anfangs nichts zu merken; erst in der letzten Strophe tritt er um so deutlicher hervor. Bei Brahms trumpft das Mädchen den Burschen sofort sehr sein mit der Melodie ab, auf welche ihre abweisenden Worte ein heiteres Seitenlicht fallen lassen. Der Unwiderstehliche, der mit selbstgewisser Siegermiene vor dem Fenster der Liebsten erschien und sein übermütiges jauchzendes


7. Kapitel

hinaufschleudert,10 wird gleichsam mit der eigenen Waffe geschlagen, wenn die Klugberatene ihm nach derselben Weise zurücksingt: »Meine Tür' ist verschlossen, ich laß dich nicht ein«. Seine Zuversicht schwindet; gar kläglich fleht er, von beschleunigten, wie eisiger Nachtwind um die verschlossene Tür fahrenden Achteln gedrängt, mit der nach Moll versetzten Melodie um Schutz vor den Unbilden des Wetters und versteigt sich zu der noch kläglicheren Drohung, seine Liebe werde im erfrorenen Herzen erlöschen. Da kündigt die hastige Stretta des sich um eine Terz weiter, von Fis nach A in die Höhe schwingenden Ritornells:


7. Kapitel

[336] die halb erwartete heitere Lösung des Konflikts an. Das stark hervorgehobene, fermatenmäßige A ist ein musikalisch-rhetorisches Folgezeichen, ein Kolon, das soviel heißt, wie: Acht gegeben, der Hauptspaß kommt jetzt! Dem Mädchen wird keine Zeit zur Überlegung gelassen, es braucht sie auch nicht, weil sie nicht wankt und weicht. Sie erwartet nur den Auftakt zur Wiederholung der Melodie, und da er nicht kommt, weil er in der halben Note der falschen Fermate stecken blieb, so bricht sie eifrig los in lustigem Dur – es pfeift nur so um die Ohren des täppischen Werbers von moralischen Backenstreichen. Ihr scherzhaft kosendes »Gute Nacht« tut besonders weh, da es sich mit dem früheren »Mach mir auf« deckt. So wurde die Trivialität der Pointe mit Grazie vermieden und dafür ihre feinkomische Wirkung gesteigert. Brahms wußte diesmal – ausnahmsweise, möchte man sagen – selbst am besten, was ihm gelungen war. Als ihm Hanslick brieflich zu dem »Vergeblichen Ständchen« gratulierte, antwortete er: »Voller Vergnügen muß ich Dir für Deinen Brief danken, denn er war mir wirklich ein besonderes, und ich bin höchst gut gelaunt durch den gut gelaunten! Unsereiner kann nicht ein großes NB. dazu machen, wenn er – meint, in der Lage zu sein, aber es ist die angenehmste Schmeichelung, wenn's ein anderer tut. Und diesmal triffst Du in mein Schwärzestes! Für das eine Lied gebe ich die andern alle und noch das W.-Album11 dazu.«

Aber was hätte Brahms gesagt, wenn es einem verwegenen Künstlerpaar eingefallen wäre, seine ad libitum-Zweistimmigkeit beim Worte zu nehmen und das Lied als Duett zu singen?12 Eine solche »Szene« wäre immerhin möglich. Hat doch Ferdinand Schubert, [337] die brüderliche Liebe des großen Franz, den »Erlkönig« als Ballade »mit verteilten Rollen« eingerichtet! Aber selbst bei den drei ersten Liedern ausop. 84, die sich in der musikalischen Form noch dramatischer gebärden, als die beiden niederrheinischen, würde uns eine Verteilung des Gesangsstoffes auf zwei Sängerinnen eher stören als befriedigen. Hans Schmidt, der Dichter der drei Dialoge zwischen Mutter und Tochter, kam den Neigungen und Wünschen des Komponisten absichtslos entgegen, als er Brahms seine Gedichte schickte. Das waren die Texte, die er gesucht und diesmal bei Eichendorff und Uhland nicht gefunden hatte, Lieder im Volkston, die sich an ältere Vorbilder anschlossen und doch ihren eigenen Sinn, ihre originellen Wendungen besaßen, endlich ganz objektiv gehaltene Personifikationen von musikalischen Gemütszuständen, die seiner augenblicklichen Liebhaberei für das Quasi-Duett schmeichelten. Hier sind die Stimmen vor allem dadurch auseinandergehalten, daß sie ihre Weisen nicht repetierend nachsingen, sondern selbständig ausbilden; die Melodien stehen ungefähr in demselben verwandtschaftlichen Verhältnis wie Mutter und Tochter, die sie singen. Außerdem ist der Mutter, mit Ausnahme des letzten humoristischen Liedes, innerhalb des gleichen Tonumfanges die tiefere Lage zugewiesen. Bei »In den Beeren« haben Mutter und Tochter gleichsam die Rollen gewechselt; hier ist auch der Wechsel der Moll- und Durtonart, der in den anderen charakterisierend mithilft, vermieden: Es-dur schwindelt sich, wie Frau v. Herzogenberg sagt, durch das chamäleonhafte es-moll nach H-dur, das bald wieder nach Es zurückgeht. »Ja, die Freiheit!« ruft die begeisterte Brahms-Kennerin aus, »die Beherrschung! die einen die raschesten Bewegungen, wie im Lauf eines schönen Hirsches, kaum gewahr werden läßt, während man mit keucht und prustet, wenn der ungelenkigere Mensch sich als Läufer produzieren will, um die ist es was Schönes!« – Die fünf Nummern von op. 84 sind rechte Vortragsstücke für eine Meisterin vom Schlage der Frau Joachim. Besaß sie doch die Fähigkeit in hohem Grade, psychologische Prozesse anschaulich hervortreten zu lassen und durch Färbung des Tones, ohne die Stimme zu verstellen, was beim Gesange nicht ästhetisch wirkt, zwischen Sopran und Alt abzuwechseln, die sich beide in ihrem [338] umfangreichen Mezzosopran vereinigten. Kein Zweifel, daß Brahms bei der Zusammenstellung des Heftes an sie und für sie dachte. Sie sang am 20. Dezember 1882 in Straßburg den »Kranz« und das »Vergebliche Ständchen« (op. 84 Nr. 2 und. 4), und Brahms, der seinen »Gesang der Parzen« dort aufführte, begleitete sie.

In den sechs Liedern von op. 86 ist die Stimmlage ausdrücklich bezeichnet. Die »tiefere Stimme«, für welche sie Brahms zuerst komponierte, war der edle Bariton seines Freundes Stockhausen, mit dem er neuerdings in Frankfurt und nach dem Zerwürfnis des Sängers mit dem dortigen Konservatoriumsdirektor Raff, auch bei dessen Bruder Franz in Straßburg öfters musiziert hatte. Als Brahms die Lieder, noch kurz vor ihrem Erscheinen, an Billroth schickte (April 1882), schrieb er dazu, sie paßten Stockhausen sehr, und er habe sie »neulich in Stbg.« (als Brahms im Dezember 1881 sein B-dur-Konzert spielte) vortrefflich gesungen. Aber noch in engerer Beziehung unterscheiden sie sich von den beiden anderen Teilen der ganzen Sammlung. Im allerpersönlichsten Verhältnisse zu ihrem Erzeuger stehend, verdanken sie ihre Existenz der subjektiven Empfindung des Komponisten, irgend welchen inneren Erlebnissen, die mit der Erinnerung an geliebte Personen eng verknüpft sind – klingende Blätter aus dem geheimen Tagebuche eines Musikers. Kellers »Therese« bedeutet eine Huldigung, der »Nachtwandler« eine Warnung für eine geliebte Frau; Felix Schumanns bereits 1873 in Angriff genommenes »Versunken« darf für ein dem jungen Dichter und dessen Mutter gewidmetes Denkmal gelten; die von Hermann Allmers gedichtete »Feldeinsamkeit« läßt mit den Stimmungen der römischen Campagna selige Träume der in den Holsteinschen Marschen verlebten Kindertage wieder aufleben; Storms »Über die Heide« und Schenkendorfs »Todessehnen« sind Pörtschacher und sizilianische Bekenntnisse. Um »Therese« hat sich Frau von Herzogenberg ein wahrhaft dauerndes Verdienst erworben. Brahms wollte die Melodie des Liedes abändern in:


7. Kapitel

[339] und fragte, was sie davon halte; es wäre ihm lieb, wenn sie ihr »einfach recht« schienen. Da antwortete sie, sie wäre ganz traurig, wenn Brahms auf der Lesart beharrte. Sie finde das einfachere


7. Kapitel

zu der kleinen Gegenstimme am Klavier viel hübscher als die zackige andere Lesart, und in diesem Liede, wo es doch auf Stimmentfaltung nicht, vielmehr auf seiner gesungenes Sprechen ankommt, so viel angebrachter. Er solle sich doch in der leichten, von dem Charakter des Liedes bedingten Weise den Oktavsprung in die Tiefe vorsingen, und er würde merken, wie schwerfällig dies gegen die einfache Wiederholung der drei Töne klänge. »Ich bitt' gar schön,« fügt sie auf gut Wienerisch hinzu, »stierln's nicht mehr in dem lieben Gsangl herum und lassen's sich die simplere Lesart gefallen!« Dieser Schmeichelbitte konnte Brahms nicht widerstehen, um so weniger, als er einsah, wie treffend die Kritik war. Auch mußte er bemerken, daß der »Oktavsprung in die Tiefe« zu der Stelle, wo er bereits vorkam:


7. Kapitel

weit besser paßte und ganz anders wirkte, als wenn er schon früher dagewesen wäre. Er bereitet jetzt auf die mystische, vieldeutige Stelle des Liedes vor, die Brahms keineswegs als eine schnippische Abfertigung des »milchjungen Knaben« aufgefaßt hat. In einem Briefe vom Juli 1878, der eine Manuskriptsendung aus Pörtschach an Otto Dessoff begleitete, heißt es: »Das Lied von Keller ist ›Therese‹ genannt. Das mißfällt oder widersteht mir. Ich möchte es ›schöne‹ oder ›schönes Rätsel‹ nennen. Wenn Du in die Schweiz gingst, könntest Du Keller in Zürich fragen!?« ... Bald darauf schreibt er demselben Freunde: »›Therese‹ soll also bleiben; ich habe wenig Theresen kennen lernen und denke nur an einige aus der Jugendzeit, die lang und mager waren und [340] lange, magere Schmachtlocken trugen.« Keller wollte die Aufforderung Theresens, an der Meermuschel zu horchen, anders verstanden wissen; die indiskreten vorlauten Cherubino-Augen blickten die Schöne so dreist an, als ob sie eine verfängliche Frage zu stellen hätten, auf die das Mädchen bei der grünen Jugend des Knaben nur die ausweichende Antwort und den Rat, sich etwas vorraunen zu lassen, erteilen konnte. Der Dichter hat seinem getreuen Komponisten den Schmerz angetan, in der Ausgabe seiner gesammelten Gedichte von 1883 die letzte Strophe in den geschmacklosen Vierzeiler umzuändern:


»Ein leeres Schneckhäusel,

Schau, liegt dort im Gras;

Da halte dein Ohr dran,

Drin brümmelt dir was.«


Erst das Brahmssche Lied stieß ihn auf die falsche Betonung der Schlußzeile: »Dann hörst du etwás«, und er suchte sich mit dem schrecklichen »brümmeln« zu helfen, das wieder ein noch schrecklicheres »Schneckhäusel« nach sich zog und ins Gras legte. Eine nicht minder traurige Erfahrung machte Brahms mit dem Dichter des zweiten Liedes, der berühmten »Feldeinsamkeit«. In der Freude seines Herzens, die er über das wohlgelungene Werkchen empfand, beauftragte er Reinthaler, den »großen Bariton-Sänger«, es Hermann Allmers, der damals in Bremen lebte, zu geben oder vorzusingen. Reinthaler tat, wie ihm geheißen wurde. Der Effekt aber war, daß der geschätzte Verfasser des »Marschenbuches« und der »Römischen Schlendertage«, der ganz andere Begriffe von musikalischer Lyrik hatte als Brahms, sich total ablehnend verhielt, indem er erklärte, die Komposition seines kleinen Gedichts wäre ihm viel zu gesucht und anspruchsvoll. Er mußte sich also zur Unsterblichkeit zwingen lassen, zu der ihm seine vielen anderen Gedichte nicht verhalfen, und ergab sich widerwillig und mürrisch in sein Schicksal, nachdem er durch einen Appell an die Öffentlichkeit einer anderen, höchst dilettantenhaften Komposition zum Druck verholfen hatte.13 Eine große Affäre, eine Art von Haupt- und Staatsaktion in dem schönen Liede zu erblicken, wie mancher [341] Sänger tut, der aus seiner Atemnot eine Vortragstugend machen möchte, steht seinem Wesen allerdings nicht an. Es kann gar nicht einfach genug vorgetragen werden. Aber eben darum ist es nicht leicht. Nur ein Atemkünstler, dem die hochgespannten Bögen seiner weit ausgreifenden Melodie nicht in Verlegenheit setzen, ist imstande, es technisch zu beherrschen (die wenigen Ruhepunkte der Melodie sind die einzig erlaubten Atempausen!), und auch er mag seinem Gott danken, wenn er auf dem stillen Wege ins Blaue, auf dem erhabenen Zuge »nach oben« nicht das bessere Teil des Liedes, nicht dessen Seele verliert.14

Im »Nachtwandler« läßt der Ton- den Wortdichter so weit hinter sich, daß wir diesen bald aus den Augen verlieren. Den messerschmalen Grat zwischen Abgründen von Leidenschaften und Pflichten werden nur Seiltänzer der Moral oder weltlose Träumer, welche die Gefahren ihres Weges nicht kennen, sich ihrer nicht bewußt sind, heil und sicher passieren. Das ist der Gedanke des Gedichtes. Gelang es dem Dichter nicht, den abstrakten Sinn in ein konkretes, allgemein verständliches Bild zu kleiden, so sprang der Musiker für ihn ein – hier der wahre Tondichter, der in Tönen zu Ende dichtete, was der Text auszusprechen bleiben lassen mußte. Eines der merkwürdigsten Lieder entstand, dessen hohe Kunst in Worte zu fassen, ebenfalls ein fruchtloses Bemühen wäre. [342] Weniger die träumerisch zwischen Dur und Moll schwankende, süßschmerzliche Melodie der Oberstimme als der stellenweise mit ihr in Oktaven gehende Baß gibt dem Liede sein Relief. Das Motiv


7. Kapitel

beherrscht das Ganze: »Störe nicht!« Es mahnt an die drohenden »Sorgen und Gefahren« und tritt immer wieder mit seinem Warnungsrufe, zuletzt an entscheidender Stelle, mit einem Sforzato ein, um sich dann, als ob es über sich selbst erschräke, weil es herbeiführt, was es vermeiden möchte, poco a poco ritardando e diminuendo in Harmonien zu verlieren, die sanft ins Vorspiel zurückleiten. Der »Nachtwandler« soll nicht angerufen werden. Selbst die Warnung vor der Warnung könnte ihm verhängnisvoll sein. Welch ein wundervolles und anschauliches Bild, wenn der »vom Licht des Vollmonds Trunkene« mit der Melodie des Ritornells seinen Lauf beginnt, unter ihm die Abgründe des tiefsten Basses, Orgelpunkte mit Harmonien, wie Brücken von Mondstrahlen, höher und höher steigt er empor – schon rüstet sich die schwarze Nacht, ihn zu verschlingen, da bringt ihm das sofort erstickte: »Störe nicht!« Rettung, und die Singstimme verhallt auf der Dominant: »Weh den Lippen, die ihn riefen!«

Auch in »Über die Heide« spielt der Baß eine bedeutsame Rolle. Eine Art von Basso ostinato, geht er durch das Lied und begleitet den im herbstlichen Feld umherirrenden Wanderer mit seinen Geisterschritten. Es ist die traurige Erinnerung an die schöne Vergangenheit, an Lenz und Liebe, was dumpf aus der Erde als Echo widerhallt und mitwandert. Jede Strophe besteht aus einem Zeilenpaar und erschöpft sich in einer viertaktigen Periode. Ein Motiv von zwei Tönen, das in rhythmischer Vergrößerung nachzieht, schiebt einen fünften Takt ein. Nur die Melodie des Mittelsatzes wächst durch Textwiederholung zu acht Takten an. Sie möchte sich gern in schmerzliche Betrachtungen über die entseelte Welt verlieren, aber der wandernde Baß hält sie fest. Alles ist aufs knappste eingerichtet – ein Epigramm, das seine Pointe (»Leben und Liebe, wie flog es vorbei!«) [343] durch Dehnung des Taktes hervorhebt. Der einzige Neunachteltakt, der die Sechsachtelbewegung unterbricht, erscheint so lang wie ein Trauersermon. Im Hinblick auf dieses vierte und das erste Lied könnte man vermuten, Brahms habe es mit op. 86 nebenbei auf ein Kuriositätenkabinett seiner Lyrik abgesehen gehabt. »Versunken«, das, nicht zu seinem Vorteil, an das »Frühlingslied«op. 85 Nr. 5 erinnert, ist eine jener Seltenheiten, bei denen der Liebhaber gern den Kunstwert überbietet, gehörte also auch in jenes Kabinett. So Unsangliches und dabei doch so Interessantes hat Brahms sonst kaum geschrieben. Für die kostbarste Perle der Reihe würden wir das letzte Lied (Todessehnen) halten, wenn der Komponist mit dem mittleren (Übergangs-)Teile ebenso schön ins Reine gekommen wäre wie mit Anfang und Ende des Liedes. Wohl fand er für das an die Schwärmerei eines erdentrückten Wüstenheiligen streifende Gedicht Schenkendorfs Töne, welche vor ihm noch keiner angeschlagen hat, und ließ sich weder von des »Todes Lebenswind« noch von der »Geistersprache«, die »Leben mit der Liebe Namen nennt« im Fluge seiner Phantasie beirren. Aber an der Stelle, wo das »schwesterliche Wesen« sich mit dem Wesen des Sängers »vermählt«, oder vielmehr an der harmonischen und melodischen Prozedur dieses Vorganges stieß er an. Zum Glück handelt es sich nur um anderthalb Takte – das Schnürchen, das, wie bei der Raffaelschen Sixtina, den Vorhang vom Himmel wegzieht, blieb an einem rostigen Ringe hängen. Was verschlägt es, wenn nur die Glorie der Madonna dann um so siegreicher hervorbricht! Als hätte Brahms geahnt, daß das herrliche Lied nach Stockhausen sobald keinen berufenen Herold finden würde, rettete er dessen unsterbliches Teil in das Adagio seines B-dur-Konzerts.15 Dem Liede selbst aber erwuchsen später in den »Vier ernsten Gesängen« gewaltigere Nachfolger.

Am 11. April schickt Brahms das Paket mit den Liedern an Simrock. Seit der seinem Berliner Verleger begreiflicherweise wenig sympathischen Liaison mit der Edition Peters ließ Brahms selten eine Gelegenheit vorübergehen, ohne Simrock in halb scherzhaftem, halb ernsthaftem Tone seine hohen Verkaufspreise [344] vorzurücken. Er wäre doch in Versuchung gewesen, schreibt er, die Lieder »unserem Freunde« Dr. Abraham zu schicken, weil sie dann so schön billig verkauft würden. Nun sollte Simrock sie ernstlich betrachten und bedenken, wie die leichten kommunen Dinger wirklich sich gut dabei ständen, und keinen zu hohen Preis ansetzen. Er verlange ja auch so gut wie gar nichts, und wenn Simrock ihm wie sonst 150 Taler für das Stück geben möge und wolle, so sei das doch nur ein Trinkgeld. Neben den Heften sollten auch Einzelausgaben erscheinen. Den Leuten könne doch nicht verwehrt werden, sich einen Liebling auszusuchen, ohne daß sie darum das übrige mit in Kauf nehmen müßten. Den armen Sängern dürfe ihr »süßes Geschäft« nicht so ungemein und unverantwortlich erschwert werden. Am 25. Juni bestellt er sich die Partitur von Bizets »Carmen«, nachdem er die Oper mit Bülow bei Pollini in Hamburg neuerdings wieder gehört hatte. Bülows »Leib-Lieblingsoper« wurde auch die Schwärmerei von Brahms, wie sie zuletzt den Trumpf vorstellte, den der abtrünnige Nietzsche gegen Wagner in seinem »Musikantenproblem« ausspielte. Brahms meinte etwas an Bizet, den er früher unterschätzte, gut machen zu müssen. Nicht geliehen haben wolle er die Oper, sondern sie besitzen: »Ich liebe sie nämlich mehr als alle Ihre Verlagsartikel, was nicht einmal viel heißen will und nicht genug.« Als ihm Simrock Korrekturabzüge sendete, schreibt er zurück: »Ja, da sind nun die Lieder, auf die man Monate warten muß, und von deren Erscheinen monatelang renommiert ward! Geschämt habe ich mich; nicht daß jemand so was schreiben kann – was kann denn der Mensch den lieben langen Tag für Unsinn angeben! – aber daß jemand so was druckt und für teures Geld verkauft! Gibt es denn keine Staatsprüfung für Verleger? daß man weiß, ob sie Mist von Salat und Gemüse unterscheiden können? Mit dem schönen Bild von mir meinen Sie gewiß das von Bruckmann in München?16 Ich interessiere mich sonst nicht für mein Konterfei, [345] aber das Bild hat mich ganz wild gemacht, und ich wollte laut gegen den Verkauf protestieren. Und es ist das einzige, das verbreitet ist. Könnten Sie nicht Hug in meinem Namen recht dringend bitten, jenes Bild nicht mehr zu nehmen und zu verkaufen. Luckhardt in Wien hat gute ... Sollten Sie nun wirklich nach Bayreuth wollen, so ginge ich sehr gern mit! Und wann Sie wollen, nur glaube ich, möchte es gut sein, sich bald zu entschließen. Vom 6. August an kann ich jeden Tag. Möchten Sie also flugs zwei Billets und zwei Logis bestellen und mich den Tag wissen lassen, so wäre ich Ihnen sehr dankbar. Zweimal hatte ich schon Freibillet und konnte nicht! Es scheint, ich soll die 30 Mark los werden« ...17

Wie man sieht, hat Brahms ernstlich die Absicht gehabt, eine der »Parsifal«-Aufführungen in Bayreuth zu besuchen. Hanslick schreibt er im Mai: »Ob ich wohl eigentlich nach Bayreuth gehe? Auch Bülow, der im August mit seiner Braut hingeht, will mich verführen oder fragt mich vielmehr, ob ich mich anschließen will..« Als Bülow ihm ein Entreebillet schickte, mußte er es leider zurückschicken: »Grade vom 4. bis 6. habe ich versprochen in Ischl zu sein und einen Besuch zu machen. Man nennt das Pech, denn ich habe für den ganzen Monat nichts vor als eine Pilgerfahrt zu dem Wahrsager, der mir so freundlich orakelt ...«18 Bülow hatte Brahms an dessen Geburtstage seine [346] Verlobung mit Marie Schanzer angezeigt – die Hochzeit fand am 29. Juli statt – und Brahms ihm folgendes bezeichnende Gratulationsschreiben zugehen lassen:


»Verehrter Freund,


Deinen Glückwunsch zum 7. Mai hätte ich längst mit gleicher Münze und meinem Dank dazu erwidern sollen. Aber weiß ich denn, wo in der Welt Du bist, und weiß ich denn, ob die Welt diesmal zur Abwechselung die Wahrheit sagt? Allmählich scheint es, und so will ich Dir auch von Herzen die besten Wünsche sagen. Daß diese recht ernstlich klängen, sollte ich eigentlich eine Art Beweis der Wahrheit antreten und Deinem Beispiel folgen! Das geht nun nicht, denn der Mensch hat seine Prinzipien, und hierfür habe ich mir schon vor geraumer Zeit eines angeschafft. Traurig aber ist es, daß man nicht zeitig genug weiß und glaubt, wie fruchtbar die Nullen sind, und wie der Mensch ohne Absicht und Mühe, aber leider auch ohne Zweck, Kapitalist wird!19

Du bist viel glücklicher geartet als ich. Du hast an so vielen Sachen Spaß und treibst so viele mit Ernst – wo ich für beide fast das Gegenteil mitbringe.

Seit acht Tagen etwa bin ich in Ischl; seit gestern als Sommergast, denn vorgestern hatten wir noch herrliches Schneegestöber. Du wirst Dich für Aachen rüsten, und magst Dir wohl etwas darauf einbilden, daß Du ein so verrufenes Stück, wie das d-moll-Konzert, gar bis auf ein Musikfest gebracht hast!20

[347] Sollte ich Dir nächstens einige Liederhefte zuschicken – oder nicht – so nimm es nicht übel. Ich weiß noch nicht, ob ich mich geniere, oder ob ich dem Bräutigam einiges zutraue an sanfter Duselei.

Nun aber empfiehl mich Deiner Braut, so gut Du vermagst, zeige ihr also eine Photographie, die zwanzig Jahre alt ist, und spiele ihr keine Sonate aus fis-moll, sondern etwa ein Intermezzo aus As-dur – das Du zudem unübertrefflich spielst.

In Aachen aber grüße Freund Wüllner von Herzen. Hoffentlich wird ihm die Musik und alles dort recht wohltun nach dem jetzt Erlebten. Ich sollte eigentlich am Comersee sein und fürchte, Deine ernstlich verehrten und geliebten Herrschaften werden manches nicht denken und begreifen können – folglich gar übelnehmen!

Nun verzeih das lange Geschwätz. Deine Braut kann jetzt rückwärts kurz und gut lesen!21

Ganz und herzlich Dein ergebener

J. Brahms.«


Seit Anfang Mai bewohnte Brahms sein vorvorjähriges Ischler Sommerquartier in der Salzburgerstraße. Ehe er nach Hamburg zum Requiem reiste, hatte er an die Brühl bei Mödling (in der Nähe von Wien) und an Velden am Wörthersee gedacht. Dann wieder zog es ihn nach Weimar, wie all die Zeit vorher, bis er sich endlich doch für Ischl entschied. Drei Kompositionsentwürfe gingen ihm durch den Kopf: 1. das halbfertige C-dur-Trio, 2. ein neues, vom Ischler Frühling inspiriertes F-dur-Quintett und 3. der »Gesang der Parzen«. Er nahm das Quintett zuerst in Angriff und vollendete es im Mai, das Trio beschäftigte ihn den Juni über, und das Chorstück lag Ende Juli druckfertig[348] vor. Mit dem Streichquintett erneuerte er einen Versuch, an dem er vor zwanzig Jahren gescheitert war. Seit der zweimaligen Umarbeitung des f-moll-Quintetts, op. 34, hatte er sich auf ein derartiges Kammermusikstück nicht wieder eingelassen, und nach den drei Streichquartetten, mit denen er die Literatur dieser edelsten musikalischen Formgattung um ebensoviele Meisterwerke bereicherte, sich ganz anderen Aufgaben zugewendet. Nun neigte sich die Epoche, in der Brahms seine großen Chor- und Orchesterwerke schrieb, langsam ihrem Ende zu, und das Rückverlangen nach den intimeren Reizen der Kammermusik, der er die reinsten Freuden seiner Jugend verdankte, beschlich ihn wie eine Art musikalischen Heimwehs.

»Ein Frühlingsprodukt«, wie Brahms das Quintett selbst bezeichnete, ein Kind des würzigen Ischler Mais, erweckt der erste Satz des Werkes im Zuhörer die Empfindungen eines behaglich durch die vollsaftigen Wiesen hinschlendernden Spaziergängers, der sich nach langer Winterqual sorglos und unbefangen dem kommenden Tage überläßt, erwartungsfroh, was er ihm bringen werde, und überzeugt, daß es nur Angenehmes sein könne. Über dem knappen Allegro (non troppo ma con brio) liegt blanker Sonnenschein, und die Schärfen seiner gedrungenen Durchführung gleichen schnell vorübereilendem weißem Gewölk, das sich bald wieder im lichten Blau des Himmels auflöst. Brahms scherzte, das Allegro könnte ebensogut von Brüll sein (mit dem er seine französischen Ischler Promenaden wieder aufnahm, ohne bemerkenswerte Fortschritte in der Konversation zu machen),22 wie von ihm. In der Tat erinnert die harmlose Liebenswürdigkeit des unscheinbaren Hauptthemas:


7. Kapitel

an die Veilchenanmut Brüllscher Feiertagseinfälle. Das zweite, von der Bratsche intonierte, »con anima«bezeichnete, genial vorbereitete Thema gleicht eher einer glühenden Zentifolie, einer der bei Brahms häufig vorkommenden fleurs animées, die Feueraugen [349] im Kopfe, ein verführerisches Lächeln auf den vollen Lippen und den kraushaarigen Schelm im Nacken haben. Synkopierte Triolen versetzen den gemessenen Viervierteltakt in eine tanzende fast leichtsinnige Bewegung, und der von Pausen durchbrochene temperamentvolle A-dur-Gesang bildet den wirksamsten Kontrast zum Hauptthema.


7. Kapitel

Alles muß sich in die schöne Melodie verlieben. Gleich bei ihrem Auftreten wird sie von den vier anderen Instrumenten umschmeichelt, und wenn die Bratsche ihren Schatz an die erste Violine abgibt, so entwickelt sich das reizendste Ensemble. Ein wunderbares Wogen und Wiegen, Schaukeln und Schweben feiert den Bund der Glücklichen, die sich wie zu einem heiteren Spaziergange durchs Leben gefunden haben. Das blaue Band, das der Frühling durch die Luft flattern läßt, hat ihre Herzen verknüpft. Wer die Fortsetzungen der beiden Melodien in ihren Übergängen betrachtet und hier das zweimalige:


7. Kapitel

der Bratsche, dort das


7. Kapitel

der Violinen sieht, könnte sich verleiten lassen, an Mörikes »Er ist's« in einer Symbolik des Notenbildes zu denken.

Es ist möglich, daß sich Brahms durch die Verlobungen seiner Freunde – auch die Ignaz Brülls mit Marie Schoosberg lag in der Frühlingsluft – zu seinem F-dur-Quitett anregen ließ. [350] Nicht nur der Scherz, daß die Komposition ebensogut von Brüll sein könnte, deutet darauf hin, sondern auch der Gratulationsbrief an Bülow. Für »die Aufrichtigkeit seiner Wünsche« erbrachte der Schreiber »den Beweis der Wahrheit«, indem er das Glück der Freunde zu seinem eigenen machte und in Tönen feierte, ohne ihrem guten Beispiele folgen zu können. Von dem Schmerz, den er darüber empfand, von dem tiefsten Unglück seines Lebens, das sich jenem Glück entgegenstellt, singt das Adagio in erschütternder Weise. Dieser zweite Satz des Quintetts hat mehrere Eigenheiten: er steht in cis-moll, beginnt aber in Dur und schließt in der Tonart eines eingeschobenen Mittelsatzes, den er als eine Art von Doppeltrio mit sich führt, in A-dur. Der Kontrast gleicht sich allmählich aus, eine Versöhnung von Adagio und Scherzo findet statt, auf die es von vornherein angelegt war. Die vom Geist beschattete Mater dolorosa seines Adagios, welche das Scherzo in ihrem Mutterschoß trägt, soll den weltüberwindenden Humor als Erlöser gebären. In dem wunderbaren »Grave ed appassionato« geben Violoncell und Bratsche als die melodieführenden Instrumente Ton und Farbe an. Das Adagio, das jeden hellen Geigenklang von sich abwehren möchte, ist wie mit schwarzem Samt ausgeschlagen. Bei der von Violine und Violoncell angestimmten Klage:


7. Kapitel

bewegt sich das tiefere Instrument in der höheren Lage, die beiden Bratschen folgen mit der Beantwortung der viertaktigen Periode in Sexten. Dann vereinigen sich die Violinen mit der ersten Bratsche zu einem dreistimmigen hartnäckigen Triolenmotiv. Zweite Bratsche und Violoncell gehen ihre eigenen Wege fort, der Baß schlägt in der Tiefe grollende Triller, schnellt mit jäh auffahrenden Sechzehntelfiguren hoch hinauf und teilt sich mit der zweiten Violine in eine chromatisch absteigende, schmerzliche Melodie, die den Satz zu Ende führen will. Aber erste Violine und Bratsche fallen mit dem nun in cis-moll stehenden Thema der Klage (5) [351] in den drittletzten Takt des Abgesanges ein, und es bedarf mehrerer Takte, ehe sich die Stimmen mit der Verschiebung des Satzgefüges befreundet haben. Nach einem letzten, dumpf verhallenden Cis tritt der unvermutete Wechsel in Tonart, Tempo und Charakter des Stückes ein. Gleich einer neckischen Lichtelfe, die auf einem Sonnenstrahl durch die Fensterläden in das düster verhängte Gemach schlüpft, tänzelt das muntere, Geist und Leben sprühende, mit einem Mordent verzierte Scherzothema der beiden Violinen heran:


7. Kapitel

Zweimal wiederholt sich das Spiel, das düstere Grave kehrt verändert in Dur wieder und hellt sich mehr und mehr auf. Nach der ersten Wiederholung stürmt das frühlingsfrische Leben, das früher leise und scheu durchs Fenster schlich, die Tür des Trauerhauses. Ein »Double« des Scherzos hat das frühere Allegretto vivace zum Presto im alla-breve-Takte (4/4) gesteigert – es ist nicht die einzige Beziehung, die das Quintett mit der Zweiten Symphonie (Quasi andantino) verbindet! – und einen Kontrast im Kontrast geschaffen:


7. Kapitel

Zwar gelangen die lustigen Geister, die bis zum lärmenden fortissimo laut werden, nicht zur Regierung, sondern müssen endlich dem Largo weichen; aber daß ihre Dazwischenkunft nicht vergeblich erfolgte, lehrt uns der A-dur-Schluß des Satzes mit seiner versöhnten Trauer.

Im Finale behält die bis zur Derbheit gehende und stellenweise in wildes, höchst kunstvoll herbeigeführtes Getöse ausartende Fröhlichkeit (vgl. Partitur S. 42 ff.) die Oberhand. Auch hier regiert die erste Bratsche neben der Primgeige. Sie ist es, die nach zwei wuchtigen Forteschlägen das Allegro energico mit dem[352] Thema zu einem Fugato eröffnet. Der ganze Satz, der wahre Orgien einer fast übermütigen kontrapunktischen Meisterschaft feiert, verläuft als freie Phantasie über eine Fuge mit mehreren Subjekten. Hochzeitsjubel mit unfrohen, gewaltsam zurückgedrängten Hintergedanken! Das Werk zeichnet sich durch die Fülle und Mannigfaltigkeit seines Klanges aus. Orgelartige und orchestrale Wirkungen kommen in den Durchführungen der Außensätze an mehr als einer Stelle vor; sie erinnern uns daran, daß der Komponist sich viel auf anderen Gebieten seiner Kunst umgetan hat, ehe er zur Kammermusik zurückkehrte, und sie bezeichnen auch die eigentümlich vermittelnde Stellung, die das Quintett zwischen der Zweiten und Dritten Symphonie einnimmt.

Beiden Werken steht das Quintett näher als dem ihm auf die Hacken tretenden C-dur-Trio op. 87. Mit ihm hat es nichts gemein als die Gedrungenheit seiner knappen Form, die ein allgemeines Kennzeichen der späteren Brahmsschen Werke ist; im Charakter zeigt es kaum eine flüchtige Spur innerer Verwandtschaft. Das dämonische Element, das im Quintett nur gestreift wird, behauptet sich in allen vier Sätzen des Trios; neben der Licht- erscheint manchmal unvermittelt die Nachtseite der menschlichen Natur, zuweilen aber breitet sich eine aus beiden gemischte Dämmerung aus, welche die Zeit aus den Angeln heben und die Gegenstände im Raume vertauschen möchte. Damit zielen wir besonders auf das unheimlichec-moll-Scherzo, das uns mit Fledermausflügeln umschwirrt, sein Hauptthema zu einem schreckhaften Phantom der Sinne anwachsen und gleich wieder wie durch eine Versenkung verschwinden läßt. Seine tückischen Pianissimos sind weit beängstigender als seine Fortestellen, weil sie mit einer noch furchtbareren Entfaltung ihrer Macht zu drohen scheinen, die dann ausbleibt. Das Beethovensche, auf seinem Höhepunkt ins piano umschlagende crescendo erfährt hier eine besondere Deutung. Wie Kindesunschuld lacht die sonnige C-dur-Melodie des Trios herein:


7. Kapitel

[353] Obwohl sie mit der Gesangsmelodie des ersten Satzes (in deren Fortsetzung) thematisch zusammenhängt, scheint sie doch einer weit früheren Zeit zu entstammen; es wäre denn, daß auch das Allegro in seinen Anfängen auf die Tage des H-dur-Trios und der f-moll-Sonate zurückgeführt werden müßten. Denn es läßt sich nicht leugnen, daß das neue Werk, als dessen Keimblatt wir das Scherzo betrachten, stark an die Kreisler-Periode unseres Brahms anklingt, und zwar an deren bewußte Erneuerung nach der Bekanntschaft mit Schumann.23 Der e-moll-Satz im Finale, der ebenfalls von der Triomelodie hergeleitet werden kann, trägt den Stempel Schumannschen Geistes:


7. Kapitel

nun die tränenselige, himmlisch verklärte Dur-Variation des zweiten Satzes mit ihrem


7. Kapitel

streift beinahe das Thema zu Schumanns Variationen für zwei Klaviere. Wie weit auch das ungarische Zigeunerlied, das Brahms seinen Variationen zugrunde legte, von Schumann entfernt sein mag, er hatte es doch mit den Augen des Kreislerianasängers angesehen, als ihm der synkopierte Kontrapunkt einfiel, den er dem Liede zur Begleitung mitgab. Das Andante mit Variationen verdient der schönste und dankbarste Satz des Werkes, das Allegro der gewichtigste und bedeutendste genannt zu werden. Sein selbstbewußter, trotziger Hauptgedanke:


7. Kapitel

ist ein echtes Geigenthema, das denn auch den Streichern überlassen bleibt. Sie beginnen es unisono, und das Klavier setzt [354] im vierten Takt mit einer Nachahmung des Oktavensprunges in der Gegenbewegung ein. Nur am Schlusse der langen Koda, nachdem der Hauptgedanke noch einmal, wie im Durchführungsteile rhythmisch zur getragenen Melodie vergrößert, sich ausgesungen hat, wird es in der konzentrierten Anfangsform auch vom Klavier angeschlagen. Ganz klaviermäßig dagegen breitet sich das von Triolen akkompagnierte Seitenthema aus, und die Saiteninstrumente besinnen sich erst einen Takt lang, ehe sie es übernehmen: die Geige bleibt auf dem ersten Viertel (Ais) liegen, verwechselt es mit B, um zugleich dem Violoncell einen eigentümlich modulierenden Rückgang zu sichern:


7. Kapitel

und erst im nächsten Takte nehmen sie das Thema auf – ein graziöser Einfall! Der Zuhörer, der eine Exkursion über g nach Es erwartet, ist angenehm überrascht, wenn er plötzlich wieder nach G kommt. Noch öfter aber sollen wir durch unverhoffte Wendungen in Verlegenheit gesetzt werden. Am Schlusse des ersten Teiles tut der Komponist so, als wolle er den Satz wiederholen, geht aber im fünften Takte des Hauptthemas durch eine harmonische Rückung von G nachAs in die Durchführung über. Da das Thema überdies von dem nachschlagenden Pianoforte immer wieder anders harmonisiert wird, so gibt es der Überraschungen kein Ende; der Kobold des Scherzos spukt vor.

Zu dem gleichzeitig mit den Kammermusikwerken aufgenommenen »Gesang der Parzen« wurde Brahms von der Iphigenie der Wolter angeregt. Dingelstedts musikalischer Faustplan24 hatte das Gute gehabt, ihn öfter als sonst ins Burgtheater zu locken, und er bewunderte die große Tragödin, deren Darstellung [355] im Vortrage des Parzenliedes am Schlusse des vierten Aktes gipfelte. Sie besaß in hohem Grade die Fähigkeit, mehrere Künste in ihrer hochentwickelten Schauspielkunst aufgehen zu lassen, ohne durch aufdringlich ablenkenden äußeren Apparat das Gesamt, kunstwerk als solches zu betonen. Wenn sie nach der entscheidenden Unterredung mit Pylades, der das Schicksal aller an dem Konflikt des Dramas Beteiligten in Iphigeniens Hand gelegt, zu dem im Mittelgrunde der antikisierenden Szene stehenden Altar trat und, an den Marmor gelehnt, die gewaltigen Worte des Liedes mit ihrer tiefen, modulationsfähigen Stimme in das atemlos lauschende Haus hinaussprach, wurde ihr von stilvollen Gewandfalten umflossener Leib, auf dem das bekränzte Haupt wie der verkörperte Gedanke der Gottheit thronte, zur Statue einer Polyhymnia oder Melpomene, und ihre Rezitation zum Gesange. Der von der modernen Bühne verbannte tragische Chor schien zurückgekehrt, zu neuem Leben wieder erstanden in dieser Einzigen, die seines Amtes mit priesterlicher Würde und musischer Anmut waltete. Ohne es zu wissen und zu wollen, erschloß die geniale Künstlerin, nur vermöge ihres inspirierten Wesens, dem Kundigen die tiefere Absicht des Dichters.

Am Scheitelpunkte seines der Tragödie zugewendeten Dramas angelangt, bereitete Goethe die Möglichkeit einer Katastrophe vor: Iphigenie würde bei der Hoheit ihrer adeligen Seele das Opfermesser zu reuevoller Sühne gegen die eigene Brust gezückt haben, wenn sie die Erbin des alten Götterfluches geblieben wäre. Ungestraft hätte sie die listigen Anschläge des Pylades nicht ausführen, die Rettung des Bruders nicht durch Raub und Flucht bewerkstelligen, ihr reines Herz nicht mit Undank, Lüge und Verrat beflecken dürfen. Dem Zuschauer wird bange um sie; heilige Schauer tiefen Mitleids durchrieseln ihn, als sie sich anschickt, mit dem furchtbaren Liede, das ihr, der Schuldlos-Schuldigen, an der Wiege gesungen wurde, ihr Gewissen in Schlummer zu wiegen. In den anapästischen Dipodien schreitet ungesehen der Chor vorüber, der die verantwortungslose Herrlichkeit der Götter im Gegensatz zu der armseligen und hinfälligen Ohnmacht der zur Rechenschaft gezogenen Menschen preist. Doch aus den ehernen Strophen des den Parzen, den Schicksalsgöttinnen, zugeschriebenen Liedes [356] tönt mit leiser, aber vernehmlicher Menschenstimme die Klage hervor um Tantalus und sein Geschlecht, die dem unstillbaren Zorn der Ewigen verfielen. Und gerade in ihr dokumentiert sich der chorische Geist des Liedes, der auch im Sinne der antiken Tragödie, zwischen Göttern und Menschen vermittelt. Die Kunde von den »ehmals geliebten, still redenden Zügen des Ahnherrn« dringt hinunter bis in die nächtlichen Tiefen des Tartarus, wo der vom goldenen Tische der Olympier in den Abgrund gestürzte Titan gefesselt liegt, und er vernimmt den Scheidegruß seines letzten Abkömmlings, »denkt Kinder und Enkel und schüttelt das Haupt«. Aber im Munde der geweihten Jungfrau hat der Chor die Notwendigkeit seiner tragischen Konsequenz verloren. Von Iphigenie gesungen, büßt er seine Schrecknisse ein, und sie sorgt dafür, daß sich das Ammenlied auch als Ammenmärchen er weise: »Es erbt der Väter Segen, nicht ihr Fluch.« Eher würde sie ihren eigenen und des geliebten Bruders Tod erdulden, ehe sie das verhängnisvolle Erbe ihres Hauses anträte und durch Mitschuld die Wirksamkeit des Fluches wieder in Kraft setzte. Sie spricht die Wahrheit, wendet das Schicksal, versöhnt die Götter, entwaffnet den Feind und rettet die Ihrigen.

Wenn Brahms diesem oder einem ähnlichen Gedankengange gefolgt wäre, würde er seinen »Gesang der Parzen« vielleicht niemals komponiert haben. Denn er hätte sich sagen müssen, daß das Gedicht allzu eng mit dem Schauspiel verknüpft sei, um es ohne empfindlichen Schaden seinem Zusammenhange entreißen zu können. Überwältigt von der Lyrik der Szene, welche die erste Tragödin des Burgtheaters ihn gründlich durchkosten ließ, hörte er mit dem Ohre des Musikers den Chor aus dem Liede heraus und suchte dieses wieder in den Chor zurückzubilden – eine ihm naheliegende und seiner Kunst durchaus würdige Idee. Was ihm bei der »Harzreise im Winter« geglückt war, sollte ihm auch hier gelingen, und wäre ihm noch besser gelungen, wenn er nicht, in ebenso eigenwillig genialer Weise, wie er dort den Vordersatz zu »Aber abseits wer ist's?« wegließ, hier den Nachsatz: »So sangen die Parzen« dazugenommen und mitkomponiert hätte. Gewiß brauchte er das Anhängsel, um nach den vorherigen, bis zu zermalmen den Explosionen gesteigerten Erschütterungen eine Koda zu [357] gewinnen, welche in feinerer, innerlicherer Weise als durch den Durschluß für die gerade hier dringend geforderte Erleichterung des Gemüts, die Katharsis der Alten, sorgte.

Nicht undenkbar wäre es, daß Brahms sich erst während der Arbeit über die Notwendigkeit dieses Kunstmittels klar wurde, nachdem die Disqualifikation der eigentlichen, von ihm nach Dur versetzten Schlußstrophe des Gedichtes: »Es wenden die Herrscher ihr segnendes Auge von ganzen Geschlechtern« zutage getreten war. Die logisch sonst überflüssige Textwiederholung des Anfangs (nach der vierten Strophe) spricht dafür. Sie bildet einen von der malerischen Stelle: »Gleich Opfergerüchen ein leichtes Gewölke« bedingten Kontrast; der Repetitionssatz mußte eingeschoben werden, um vierte und fünfte Strophe gehörig auseinanderzuhalten. Weiteren Mißverständnissen zu begegnen, trennte dann der Komponist die (künstliche zweite) Schlußstrophe: »So sangen die Parzen«, welche das erhabene Lied so wundervoll verklingen und ersterben läßt, von dem übrigen, indem er, wie beim Schicksalsliede, dem Orchester das Nachspiel zuwies und den unisono flüsternden Chor den Brummstimmen näherte, die er schon dort ursprünglich verwenden wollte,25 so daß dieses zweite Schicksalslied als eine Ergänzung des ersten betrachtet werden könnte. Aber all dies genügt doch nicht, um das von Brahms beliebte Verfahren zu rechtfertigen oder die Hindernisse beiseite zu räumen, die er sich selbst in den Weg gelegt hatte. Er war in einen circulus vitiosus hineingeraten. Dieser Punkt ist der allein anstößige, und gerade er ist von keinem der vielen Beurteiler des Werkes nach Gebühr beachtet worden.

In meiner ersten Kritik des »Parzengesanges«, die ich als Musikreferent der »Wiener Allgemeinen Zeitung« im Februar 1883 geschrieben, hieß es: »Diese letzte Strophe, die mit dem rezitierten Gedicht direkt nichts mehr zu schaffen hat, ist vom Komponisten als zugehörig betrachtet und in sein Werk mit aufgenommen worden. Der Chor singt sie unisono mit abgebrochenen Stimmen, während das Orchester das Hauptmotiv des Ganzen in neuer rhythmischer Veränderung bringt. Wir wissen nicht, wie Brahms [358] dieses Verfahren rechtfertigen will, da es zum mindesten eine Unklarheit zur Folge hat, welche den allgemein gültigen Inhalt des Gedichts durch das Hereinziehen einer besondern, gänzlich unhaltbaren Situation zuletzt wieder in Frage stellt. Singen hier die Parzen oder Iphigenie oder ein epilogisierender Dichter oder alle zusammen in Einer Person?« – Dömpke entgegnete (a.a.O.), auch Goethe scheine die Strophe nicht als die Rede Iphigeniens gedacht zu haben, sondern die Worte sollten bei ihm die »epische Schlußwendung der Amme sein (!), die den Kindern Agamemnons das Lied sang, und deren Rezitation Iphigenie hier an ihrem Geiste vorüberziehen läßt«. Das Ganze repräsentiere dann allerdings nicht sowohl das Lied der Parzen als den Gesang der Amme vom Parzenliede ... Zu derselben Ansicht bekannte sich auch Hanslick, der mir am 21. Februar 1883 schrieb: »Eine Stelle Ihres letzten Feuilletons hat mich an meiner eigenen Meinung über den Schluß des Parzenliedes einen Moment irre gemacht und veranlaßt, soeben in Düntzers Erläuterung der ›Iphigenie‹ die betreffende Stelle nachzuschlagen. Es wird Sie vielleicht interessieren, wenn ich dieselbe hier zitiere (p. 132): ›Die letzte Strophe, welche der Trauer gedenkt, mit welcher Tantalus die Verkündigung der Parzen vernimmt, gehört gleichfalls zum Ammenliede‹.« Roma locuta est. An Düntzer zu zweifeln, wäre Vermessenheit gewesen. Aber ich verschaffte mir doch noch einen besseren Gewährsmann: Goethe selbst. In der Prosafassung der »Iphigenie« von 1781 wird nicht nur nach dem eigentlichen, der Amme in den Mund gelegten Parzenliede ein neuer Absatz gemacht, sondern jenes selbst als Zitat in Anführungszeichen gesetzt. Somit war mein Einwand begründet, und auch Brahms, der sich mir gegenüber auf Billroth und Hanslick berief, konnte nichts daran ändern. Den Akt lyrisch ausklingen und Iphigenie den Epilog in den Rhythmen des Liedes sprechen zu lassen, anstatt sie zum fünffüßigen Jambus der dramatischen Rede zurückzuführen, war nicht minder genial und eigenmächtig von Goethe als das Auskunftsmittel von Brahms, das nur durch die erzielte mächtige musikalische Wirkung zu entschuldigen ist.

Von Brahms selbst sind uns ein paar wichtige schriftliche Äußerungen über den »Parzengesang« erhalten. Er hatte kein [359] ganz reines Gewissen, als er das Manuskript, das er »eine ganz flüchtige Bleistiftzeichnung« nennt, am 1. August 1882 an Billroth, den es besonders anginge, weil mit Scheren und Faden dabei gearbeitet werde, schickte, um ein freundliches Wort zu hören. Billroth bedankte sich gleich mit einer begeisterten brieflichen Abhandlung für den neuen Beweis von Liebe und Vertrauen und erfreute Brahms mit einer Unzahl zutreffender Bemerkungen. Zwei Tage darauf antwortete dieser:

»Du glaubst nicht, wie wichtig und lieb mir Dein zustimmendes Wort ist, und wie dankbar ich Dir dafür bin. Man weiß, was man gewollt, und wie ernst man gewollt hat. Eigentlich sollte man auch wissen, was denn nun geworden ist; das läßt man sich aber doch lieber von andern sagen und glaubt dann gerne dem freundlichen Wort.

So geht es mir auch diesmal. Erst jetzt freue ich mich des Stückes und sehe es ganz vergnügt an. Daß das Lied aus ›Iphigenie‹ ist, möchte ich auf dem Titel verschweigen. Ich höre schon Speidel sagen, das sei nicht die Goethesche Iphigenie, und allerdings ist das Parzenlied nicht Iphigenie. Dennoch habe ich das ganze Stück während meiner Arbeit gelesen und angesehen, wie seinerzeit Goethe seinen Junokopf. Das ist nun Goethe nicht in den Sinn gekommen, daß die Nachkommen seine Iphigenie mit derselben Ehrfurcht verehren würden, wie er jenen Götterkopf!« ...

Zuversichtlicher klingt, was er am 8. August an Frau v. Herzogenberg schreibt, die ihm einen Psalm ihres Gatten geschickt hatte: »Ich habe gerade einen [Psalm] geschrieben, der mir, was das Heidentum betrifft, durchaus genügt, und ich denke, das wird auch meine Musik etwas besser als gewöhnlich gemacht haben« ...26 Und an G. Ophüls, den liebevollen Sammler und Herausgeber der »Brahms-Texte«,27 am 13. Juni 1896 aus Ischl:

[360] »Über den sechsten Vers [scilicet Strophe] des Parzenliedes höre ich öfter philosophieren. Ich meine, dem arglosen Zuhörer müßte beim bloßen Eintritt des Dur das Herz weich und das Auge feucht werden; da erst faßt ihn der Menschheit ganzer Jammer an. Zum Schluß des ›Saal‹ von Händel übrigens steht ein ganzes Requiem mit Trauermarsch, meines Erinnerns alles in Dur!«

Was Brahms »wollte, ernstlich wollte«, hat er weder hier noch dort klar ausgesprochen. Es half ihm nichts, daß er auf dem Titel des Notenheftes Vogel Strauß spielte und die Quelle seines Textes ungenannt ließ. Jeder Deutsche kannte sie. Und wenn auch nur wenige die hohe Bedeutung der »Iphigenie« würdigen, ihren tieferen Sinn und die zu dessen Entfaltung notwendigen Bedingungen bezeichnen konnten – so »arglos« war doch kein Zuhörer, um nicht zu fühlen, daß irgend etwas in dem Gesangstexte nicht stimmt. Gerade das naive, unbelehrte Publikum wird stutzig, wenn am vermeintlichen Ende vom Liede »der Alte« erwähnt wird, von dem niemand weiß, wer er ist, woher er kommt, und was er soll. Den Äußerungen von Brahms aber ist doch soviel mit Sicherheit zu entnehmen, daß es mit dem neuen Chorwerke auf eine Steigerung früherer Vorwürfe, auf eine Verschärfung bereits behandelter Konflikte abgesehen war. In der Tat ist der Parzengesang ein Schicksalslied in zweiter oder, wenn man die ihm noch näher verwandte »Nänie« zur Vergleichung heranzieht, in dritter Potenz. Immer tiefer drang Brahms in den Geist der Antike ein, bis er ihn an seinem, in den Anschauungen des Heroenzeitalters wurzelnden Ursprung aufgesucht hatte. Mit Goethes »Iphigenie« und ihrer zum Christentum hinneigenden Ethik hat sein Chor der Schicksalsgöttinnen nichts mehr gemein. Auf das ferne Altertum zurückgreifend, könnte er in einer griechischen Tragödie des fünften Jahrhunderts vor Christo gesungen worden sein; er verhält sich zu den nach Schiller und Hölderlin komponierten Stücken wie Äschylus zu Sophokles und Euripides oder wie der Stil der dorischen zu denen der jonischen [361] und korinthischen Säulenordnung. In den spärlichen und kurzen Briefen, die Brahms aus Italien schrieb, kehrt der Name Girgenti öfters wie eine Zauberformel alles Schönen wieder, und kein Zufall ist es, daß auch Billroth in seinem schwärmerischen Ergusse über den Parzengesang, nachdem er den »herrlichen Gedanken« gerühmt hat, den zweiten Dursatz a capella zu bringen, wo die sechsstimmige Klangwirkung so gesättigte Farben trage und bei der mannigfachen Bewegung in den Stimmen doch so ruhige Klarheit herrscht, kurzweg begeistert ausruft: »Girgenti!« Die Zauberformel des Schönen war für Brahms zugleich der Schlüssel, der ihm die Pforte zur Erkenntnis des griechischen Altertums eröffnete. Die große Epoche der Perserkriege, der Zeit des Parthenon, des Äschylus, Phidias und Pindar ist auf Trinakria vorbereitet worden, und wer die herbe Knospe griechischer Kunst pflücken will, die sich eben zur Blüte entfaltet, besteige das dortige Felsengebirge, wo einst der schreckliche Zeus Atabyrios thronte und den Duft versengten menschlichen Gebeines einsog, und blicke auf die Stadt und die Tempel hinab.28 Aber auch an Paolo Veronese fühlte Billroth sich erinnert. Das Ganze, schreibt er, komme ihm vor wie drei große mittelhohe Bogen, mit zwei schönen klassischen Mittelbauten – er denkt an die in Venedig hängende Wanddekoration eines Speisesaales mit der »Hochzeit zu Kana«.

Der Gliederungen gibt es bei Brahms fünf oder sechs, je nachdem man das Hauptstück in der Mitte, die beiden einander charakteristisch gegenübergestellten Strophen »Der fürchte sie doppelt« und »Sie aber, sie bleiben« als Einheit oder Zweiheit gelten lassen will. Hier erreicht er nicht nur den Dichter, sondern überholt ihn, was viel sagen will, und seine Mittel arbeiten auch wieder auf rein musikalische Wirkungen hin. In dem reicher als sonst ausgestatteten Orchester wiegen die Bläser vor: Kontrafagott und Baßtuba vervollständigen den Chor der Instrumente, der den sechs Stimmen des Sängerchores (mit zwei Alten und zwei Bässen) die Wage hält, in voller Kraft aber sich mit ihm nur ausnahmsweise verbindet. Streichquartett und Holzbläser geben den Singstimmen [362] einen feingetönten, die Plastik der Zeichnung hebenden Hintergrund. Es wird stark moduliert, aber der Haupttonart (d-moll) ihr Recht gewahrt. Brahms glaubte, als er den Klavierauszug des Werkes an Billroth zur Kopiatur abgehen ließ, auf den ersten fis-moll-Akkord zurückkommen zu müssen, mit dem Wunsche, der Freund möge einen Augenblick nachdenken, »wie die Modulationen im Nachspiel wirkungslos sein würden, auch unruhig und gesucht klingen würden, hätte man dieselbe Fortschreitung nicht öfter gehört, und gleich zu Anfang auf das nachdrücklichste«. Billroth hatte über die gehäuften Härten der Harmonie geklagt und besonders am zweiten Takte mit seinem plötzlichen Rückfall von fis nach d-moll Anstoß genommen. Frau Schumann, weniger »wehleidig« als der »mit Schere und Faden« operierende Chirurg, lobte die »düstere Schönheit der Harmonie« und fühlte sich gerade von der Harmoniefolge im zweiten Takte »ganz wunderbar ergriffen«: »wohl ist sie kühn, aber durch das A im Basse und das Fis, G in der Melodie, ganz motiviert, und wie genial am Schluß, wo sich das fis-moll weiter pp wehmütig sanft ausspinnt, bis es zuletzt insd-moll kommt«.

Neben der Harmonik wendete Brahms der Rhythmik des Werkes besondere Sorgfalt zu. Das sich an griechische Choranapästen anlehnende Metrum wurde dem Viervierteltakt angepaßt und bestimmte den rhythmischen Wandel des Gesanges:


7. Kapitel

Die Pauken unterstützen den Rhythmus mit der orgelpunktartig, durch zwölf Takte fortwirbelnden und hämmernden Figur:


7. Kapitel

Sobald nach der Orchestereinleitung, die über den vorausgenommenen Hauptgedanken phantasiert und auf seine rhythmische Dehnbarkeit und Vielgestaltigkeit hinweist, dieser selbst in der obigen Form erscheint, glaubt man den antiken Chor in die Orchestra einziehen zu sehen. [363] Die Illusion wird dadurch erhöht, daß Frauen- und Männerstimmen in Halbchören alternieren, als ob sie den Altar umschritten. Erst die zweite Strophe vereinigt alle sechs Stimmen zum vollen Chor, der nun zur idealen dramatischen Person wird und singend in die Handlung, die er vorträgt, eingreift. Mit dem Fortissimo auf, »je« (»Der fürchte sie doppelt, den je sie erheben«) vergrößert sich die Melodie um das Doppelte. Dann teilt sich der Chor wieder in seine Hälften, um in kanonisch geführten Imitationen die Gefahr der auf Klippen und Wolken bereiteten Stühle zu versinnlichen – ein Seitenstück zu »Wie Wasser von Klippe zu Klippe geworfen« im »Schicksalsliede«. Dieselbe wuchtige Breite des Rhythmus wird der Melodie gewahrt, welche den Zwist der Götter und ihrer Gäste besingt; aus den gehaltenen halben Noten (bei »nächtlichen Tiefen«) klafft uns ein Abgrund entgegen. Das vergebliche ängstliche Harren der im Finstern Gebundenen, die leise an den Felsenwänden der Unterwelt hintappen, findet eine höchst bezeichnende Illustration im Orchester: von synkopierten Harmonien der Flöten, Klarinetten und Fagotte gefesselt, singen die Oboen ihr schaurig süßes Liedchen, während die Singstimmen ratlos durcheinander rufen. In sonnigem F-dur folgt ein imitatorischer Wechselgesang (die Männerstimmen sind das Echo der Frauenstimmen), als hallte der hohe Olymp von den Festen an goldenen Tischen wider. In der reigenartig geschwungenen Melodie:


7. Kapitel

wird man kaum noch das Hauptthema (1) erkennen, von dem sie abgeleitet ist. Dieses kehrt, ebenfalls verändert, aber im ursprünglichen Rhythmus wieder als Begleitung zu dem mächtig ausgreifenden »Sie schreiten vom Berge zu Bergen hinüber«. Bei der Michelangeloschen Stelle »Aus Schlünden der Tiefe« steigt wie ein Riesenschatten das gigantische Baßmotiv:


7. Kapitel

[364] finster empor, das uns schon im dritten Takte der Introduktion (»pesante«) begegnete; Kontrafagott, Posaunen und Baßtuba sind seine ständigen Begleiter. Wie dünne Zirrusstreifen schieben sich die flatternden Stimmen ineinander, wenn sie von dem leichten Gewölke, dem dampfenden Atem erstickter Titanen singen. Die schon oben erwähnte Wiederholung der ersten Strophe schließt das gewaltige Gemälde ab, und das Lied wäre aus, wenn nicht die vielberedete Durstrophe und die Koda des Nachspiels noch gehört werden wollten. Wie Brahms, trotz seiner gewollten, aber nicht erreichten Unabhängigkeit von Goethes »Iphigenie«, sich auf die das Parzenlied einleitenden Worte der Heldin hätte berufen können, um die Strenge seiner Komposition zu begründen, so hätten ihm dieselben Worte auch zur Motivierung gedient, als er die mitleidige Milde des nun kommenden Dursatzes verteidigte. Denn Iphigenie sagt:


»Vor meinen Ohren tönt das alte Lied –

Vergessen hatt' ich's und vergess' es gern –

Das Lied der Parzen, das sie grausend sangen,

Als Tantalus vom goldnen Stuhle fiel.

Sie litten mit dem edlen Freunde; grimmig

War ihre Brust, und furchtbar ihr Gesang.«


Auch die Melodie:


7. Kapitel

ist eine Umbildung von 1. Unserem Gefühl nach wäre sie, ihrem, durch Ton- und Taktart bestimmten Charakter gemäß, weit besser in der Mitte als am Ende des Werkes am Platze gewesen, wo sie dem Verdacht, eine »Apotheose« sein zu wollen, nicht entgänge, wenn ihr nicht die schon erwähnte Koda angehängt worden wäre.

Brahms offerierte das dem Herzog von Meiningen »ehrerbietigst« zugeeignete Werk, das 1883 bei Simrock als op. 89 erschien, seinem Verleger mit den schnurrigen Zeilen: »Sagen Sie, [365] ob Ihnen der Schund tausend Taler wert ist? Trio, Quintett, Parzenlied. Aber sagen Sie, ich werde gewiß nicht klagen, daß Sie meine augenblickliche Notlage mißbraucht haben! Eigentlich könnten Sie die ganze Geschichte für tausend Mark haben, wenn Sie mir diese gleich schickten. Ich weiß nicht, wovon ich in acht Tagen leben soll, von Miete und Schneider nicht zu reden! Das Quintett hat eigentlich nur drei Sätze – da könnten Sie abziehen – aber im Trio sind Variationen, und darin trauen mir die Leute was zu, den Parzenchor können Sie aber gewiß billiger von Härtel und Hiller kaufen! Kurz, überlegen Sie nur sein, mit mir ist zu reden.«29

Willkommene Gelegenheit, seine Kammermusikwerke zu probieren, bot sich Brahms bei Professor Ladislaus Wagner, der seine neue, zwei Jahre vorher am stillen Ufer des Sees in Alt-Aussee, vis-à-vis von der wildromantischen Trisselwand, erbaute Villa für alles offen hielt, was zur Kunst gehörte.30 Das kleine Landhaus, das der Budapester Professor früher dort bewohnte, hatte für die Bedürfnisse des gastfreien Hausherrn nicht mehr ausgereicht. Mußten doch die Zuhörer seiner allwöchentlich zweimal veranstalteten musikalischen Matineen auf der Holztreppe und im Vorsaal sitzen! Die neue Villa enthielt nicht nur einen besonders akustischen geräumigen Musiksalon, sondern Nebengelaß und Fremdenzimmer genug, um eine große Gesellschaft zu empfangen und zugereiste Gäste zu beherbergen. Brahms folgte der Einladung des Professors, seinem sommerlichen Musenheim die höhere Weihe zu geben, um so lieber, als er wußte, dort lauter gute, ihm näher bekannte Musiker zu treffen. Der berühmte Soloviolinist und Quartettgeiger der Londoner Hofkonzerte, Ludwig Straus, als geborener Preßburger ein [366] näherer Landsmann Wagners, pflegte die Ferien in dem steirischen Luftkurorte zuzubringen. Er spielte bei den Kammermusikmatineen am See die erste, der Professor die zweite Violine. Dr. Alois Mayer, ein Wiener Advokat, gleich ausgezeichnet als Quartettist wie als Musikschriftsteller, in dessen Hause Brahms viel und gern verkehrte,31 strich die Viola, und Finanzrat Rudolf Lutz, ein sehr gesuchter Dilettant, das Violoncell. Als Brahms mit seinem Quintett ankam, war die Verlegenheit groß. Woher einen zweiten Bratschisten nehmen? Rittmeister Moriz v. Kaiserfeld aus Graz, ein firmer Geiger, führte das Husarenstück aus, die Partie vom Blatte zu spielen, obwohl er bis dahin nie eine Bratsche in der Hand gehabt hatte. Während die Fünf spielten, ging Brahms im Zimmer auf und ab und brummte, die Zigarre zwischen den Zähnen, mancherlei Heiteres und Ernstes in den Bart. Bei jenen Stellen im zweiten Satze, die jedesmal vor Eintritt des schnellen Tempos wie langgezogene Seufzer klingen sollen, belehrte er die Mitwirkenden: »Das muß viel wehmütiger klingen; die Verheirateten unter Ihnen werden die Seufzer besser bringen!« Und zu Dr. Mayer sagte er: »Seitdem Du Dich auf die Bratsche verlegt hast, wollte ich Dir Gelegenheit geben, Dich hervorzutun.« Lese- und Generalprobe gediehen so sehr zur Zufriedenheit des Meisters, daß er für die auf den 25. August angesetzte Matinee allgemeinen Zutritt gewährte. Zur Generalprobe kam Ignaz Brüll von Ischl mit, der Brahms schon 1880 bei seinen Exkursionen nach Alt-Aussee immer begleitet hatte. »Ich will Euch noch mit etwas überraschen,« sagte er, »Brüll wird jetzt sein neues Trio spielen, ebenfalls aus dem Manuskript.« Es war aber sein (Brahms') C-dur-Trio, wie natürlich die Mitspieler bald merkten. [367] Am 25. setzte sich Brahms selbst an den Flügel, nachdem Brüll die Matinee mit der h-moll-Rhapsodie eröffnet hatte. Auch diesmal ging es nicht ohne Eulenspiegeleien des Meisters ab. Herr v. Kaiserfeld war sehr nervös wegen seiner Bratschenpartie. Als Brahms es bemerkte, gab er lachend das Zeichen zum Beginn und kündigte dem Publikum an: »Quintett von Brahms, vorgetragen von Herrn von Kaiserfeld.« Unter den Gästen der Villa befanden sich Karl Goldmark, der aus seinem Gmundener Sommerretiro herübergekommen war, Dr. Heinrich Obersteiner, Baron Weckbecker, Graf Gallenberg mit seinen schönen Töchtern (Enkelinnen der Giulia Guicciardi), die Familie des mit Schumann und Mendelssohn liierten Sektionschefs Baron Vesque von Püttlingen, Baron Karl Binzer (der Sohn des Dichters von »Wir hatten gebauet ein stattliches Haus«), Frau Horowitz-Barnay, Frau Elisabeth Seeburg aus Leipzig, die Schwester der Frau von Holstein, und Baron Chlumetzky.32

Mit Billroth, der Brahms in Ischl besuchte, hatte Brahms für den September eine Reise durch Oberitalien verabredet. Auch Simrock war von seinem Autor aufgefordert worden, »die lustige Bummeltour« mitzumachen, und Brahms hatte der Einladung hinzugefügt: »Ich bin immer für langsam und wenig, Billroth für schnell und viel. Sie können also die schönste Mitte halten.« Die Reisenden wollten sich vor Mitte September im »Schwan« in Luzern treffen; dann sollte es durch den Gotthard an die Seen und nach Bergamo, Brescia, Mailand und Genua gehen. Simrock wurde abgehalten, die Freunde bereisten die Seen allein und fuhren von Mailand, mit Stationen in den an der Eisenbahnlinie gelegenen Städten, nach Venedig, blieben dort etwa zehn Tage und hatten keine anderen Abenteuer zu Wasser und zu Lande, als daß sie der Überschwemmung wegen nicht nach Verona hinein konnten. Auch in Ischl hatte das Wasser wieder arg gewütet; man mußte mit Kähnen durch die Straßen fahren – ein Grund mehr für Brahms, künftig an einen anderen Sommeraufenthalt zu denken.

[368] Da Brahms viel daran lag, den, »Gesang der Parzen« zu hören, ehe er ihn der weiteren Öffentlichkeit übergab,33 und dies nicht so leicht anging wie eine Probe von Kammermusikstücken, so erinnerte er sich dankbar seiner Schweizer Freunde, die ihm schon manchmal aus ähnlichen Verlegenheiten geholfen hatten, und sagte für den Dezember sein Stück in Basel und Zürich zu. Dort war er, dank der Verdienste eines Hegar und Volkland, so populär, daß er mit der Premiere weniger riskierte als in den deutschen Hauptstädten, wo mit der Zahl seiner Anhänger naturgemäß auch die seiner Widersacher und Neider stieg. Hatte er die erste Aufführung der »Nänie« Hegar und den Zürichern zugeschanzt gehabt, so vertraute er sich und sein neues Werk diesmal Volkland und dem Baseler Gesangverein an.

Ehe er, nach kaum zweimonatlichem Aufenthalt in Wien, wieder auf die Reise ging, mußte er noch eine traurige Freundespflicht erfüllen. Ludwig Speidel und der Verfasser dieses Buches waren nach der ersten Aufführung des »Parsifal« von Bayreuth nach Salzburg gefahren. Dort trafen wir in einem Gasthof zweiten Ranges Gustav Nottebohm. Welche schauerliche Verwandlung war mit ihm vorgegangen! Ein Schatten seiner selbst, schlich er mit kurzen Schritten einher, und unter der Kupferfarbe seines Gesichts lag eine ins Grünliche spielende, fahle Blässe. Zwar teilte er uns mit, daß der Wein im Peterskeller nicht schlecht sei, aber er sagte uns auch, daß er dreimal des Tages ein paar Stündchen schlafe. Noch mehr als sein Äußeres beunruhigte uns die fremde Milde und Sanftmut sei nes Wesens. Er trug mir in fast zärtlichem Ton Grüße an Brahms auf und sagte, er wolle nur noch den schönen Herbst genießen, vielleicht in Gleichenberg [369] die Kur gebrauchen gegen den Husten, der ihn des Nachts quäle, den Winter aber wieder in Wien sein. Der Arme, er kam nur bis Graz und legte sich dort im Spital nieder. Als Brahms, dem ich seinen Gruß und unsere Wahrnehmungen mitgeteilt hatte, davon hörte, machte er sich nach Graz auf, tröstete den Leidenden, so gut er konnte, und proponierte ihm, den Winter auf seine Kosten in Italien zuzubringen. Das unverhoffte Wiedersehen mit Brahms war Nottebohms letzte Freude. Er starb bald darauf (am 29. Oktober), und zwar in so dürftigen Verhältnissen, daß Brahms die Begräbniskosten tragen mußte. Die Beerdigung fand auf dem protestantischen Friedhofe bei St. Peter statt. Am 30. Oktober zeigte Brahms Eusebius Mandyczewski, dem Schüler des Verstorbenen, das schmerzliche Ereignis mit den Worten an: »N. ist diese Nacht sanft und ruhig entschlafen und wird morgen nachmittag begraben. Weiteres erzähle ich nächstens, die kurze Nachricht aber wollte ich gleich geben. Herzlich Ihr J. Br.« Und an Breitkopf & Härtel, die sich nach der literarischen Hinterlassenschaft des großen Musikgelehrten erkundigten und Brahms als Remplaçanten für die kritische Revision der Bach-Ausgabe gewinnen wollten, schrieb er: »Ich kann Ihnen über Nottebohm leider nichts weiter mitteilen, als daß er leicht und ruhig gestorben ist. Ich habe vergebens versucht, wichtigere Aufträge oder Mitteilungen von ihm zu erhalten. Er war teils zu schwach, um länger über Ernsteres zu reden, teils dachte er auch anscheinend nicht, sterben zu müssen; er ging wenigstens gern auf den Plan ein, für den Winter nach Italien zu gehen. – Für die Revision der Bach-Ausgabe hätte er allerdings Bedeutendes leisten können. Daß Sie aber für diese hohe künstlerische Aufgabe jetzt an mich denken, ist eine zu weit gehende Schmeichelei. Es fehlen mir alle möglichen Kenntnisse, die dazu nötig sind. Ich kann mich hier nur dankbar genießend des schönen ernsten Fleißes anderer freuen und höchst bescheiden etwaige Bedenken – in mich hinein überlegen. – Herr Pohl wird Ihnen Genaueres über den Nachlaß Nottebohms sagen. Einstweilen müssen wir aber wohl abwarten, wie die Verwandten darüber bestimmen, und ob sie uns gestatten, über einzelnes gar zu verfügen ...«

In der Schweiz fand Brahms die Hoffnungen, die er an [370] sein neues Werk und dessen Ausführung geknüpft hatte, über Erwarten reichlich erfüllt. Robert Volkland, der Mitbegründer des Leipziger Bach-Vereins und seit sieben Jahren Musikdirektor in Basel, hatte ihm schon im Vorjahre mit einer musterhaften Reproduktion der »Nänie« eine hohe Meinung von dem gewissenhaften Ernst seiner Tätigkeit und der Leistungsfähigkeit des von ihm geleiteten Vereins beigebracht, die sich jetzt noch gründlicher befestigte. Der »Gesang der Parzen« erweckte am 10. Dezember – er kam unmittelbar hinter der Zweiten Symphonie, und beide Werke wurden von Brahms dirigiert – so einmütige Begeisterung im Publikum, daß das Werk gleich wieder auf das Programm der »Allgemeinen Musikgesellschaft« gesetzt werden mußte. Am 7. Januar 1883 bildete es die pièce de résistance im »Benefizkonzert des Herrn Kapellmeisters«. Am 17. Dezember 1882 wurde in Zürich in einem Benefizkonzert Hegars dasselbe von Brahms dirigierte Chorlied sofort zur Wiederholung verlangt. Ähnliche Erfolge waren ihm in Zürich und Straßburg am 18. und 20. Dezember beschieden. In Straßburg stand zugleich mit dem Parzengesange die »Nänie« auf dem Programm, und hier sollte auch Frau Joachim die neuen Lieder aus op. 85 und 86 singen, mußte aber in letzter Stunde absagen.

Seine jüngsten Erlebnisse hatten Brahms in weiche Stimmung versetzt. Der Tod Nottebohms ließ ihn fühlen, wie nahe ihm der wunderliche Mann doch eigentlich stand, und wie unfreundlich er manchmal mit ihm umgegangen war. Aber mit wem nicht? Die Antwort auf diese Frage der Selbstprüfung, mit der sich oft seine Freunde trösten mußten, konnte ihm selbst wenig Trost gewähren. Wohl ward es ihm nicht allzuoft erlaubt, ein Mensch zu sein, aber er sagte sich, daß er die Gelegenheiten dazu eher vermied als aufsuchte, und daß er sie, nicht nur zum Schaden anderer, oft übel ausnützte. Er folgte einem spontanen Antriebe seines leise mahnenden Herzens, als er von Straßburg nach Frankfurt fuhr und unangemeldet bei Klara Schumann eintrat. Er überraschte sie beim Studium seines C-dur-Trios, das sie gerade mit Koning und Müller probierte, und war so gerührt von diesem Beweise ihres Interesses, an dem er im stillen zuweilen zweifelte, daß er ihr erklärte, das Weihnachtsfest bei ihr [371] verleben zu wollen. Erst am nächsten Tage fiel ihm ein, wie schmerzlich seine Abwesenheit bei den Freunden in Wien empfunden werden würde. Seit fünfzehn Jahren war er gewöhnt, den heiligen Abend mit Nottebohm bei Fabers zu feiern, und gerade diesmal sollte er fehlen, als ob er dem »grauen Freunde« ins Schattenreich nachgefolgt wäre! Von dem Widerstreit seiner Empfindungen suchte er sich mit folgendem, an Artur Faber gerichteten Briefe zu befreien:

»Gestern hier angekommen, kann ich heute denn wirklich melden, daß ich – morgen den 24. nicht bei Euch bin! Bis dahin hat weder Frau Schumann noch Euer altgewohnter Weihnachtsgast daran geglaubt.

Nun aber muß ich in aller Eile und in allerer Herzlichkeit grüßen und Euch bitten oder vielmehr wünschen, Ihr möchtet morgen so freundlich – und ein wenig wehmütig an mich denken, wie ich an Euch.

Ich brauche nicht zu verschweigen, und Ihr wißt ja auch, wie gern ich das schöne Fest hier bei der teuren Freundin verbringe. Wie oft seit den letzten, etwa fünfzehn Jahren habe ich es mir gewünscht – und sie wohl auch. – Ein anderer fehlt auch bei Eurem Feste; mir wird das trauliche Gesicht doch sehr in die Gedanken kommen! Es ist was Ernsthaftes um das Abschiednehmen für immer. Desto besser ist es dann, wenn, wie bei Euch, die Jugend heranwächst, und diese bitte ich denn auch schönstens zu grüßen, von Eusebius34 an bis zum Fräulein.

Da ich einmal hergekommen, muß ich auch den 29. noch spielen. Das neue Jahr hoffe ich in Wien antreten zu können. Bis dahin also von Herzen meine besten Grüße und Wünsche für dies Fest und viele, viele, die ihm folgen.

Von Frau Schumann das gleiche, und so auf frohes Wiedersehen Euer J. Brahms.«

Frau Klara scheint auch damals wieder mehr von Brahms erwartet zu haben, als er ihr zu bieten imstande war; vielleicht ließ sie es ihn merken – es wäre das Schlechteste gewesen, was [372] sie hätte tun können, da er sich nur unaufgefordert und aus eigenem Antriebe hingab. Es war ihm schrecklich, stumme Vorwürfe zu erdulden, und noch schrecklicher, sich notgedrungene Aufmerksamkeiten erweisen zu lassen, die er, anstatt sich verpflichtet zu fühlen, als Belästigungen seiner inneren Freiheit verabscheute und mit Grobheiten erwiderte. Dann konnte er jede schuldige Rücksicht vergessen, mochte er sein Betragen hinterdrein auch noch so aufrichtig bereuen ...

»24. Dezember. Ein nettes gemütliches Fest – durch Brahms' liebenswürdige Stimmung verschönt ... Wir beschlossen den Abend mit Champagner.«

»25. Dezember. Quintettprobe, wie schon gestern. Herrlich ist der erste und zweite Satz des Quintetts, der 3. (letzte) sagt mir nicht so zu. Auch das Trio wurde probiert; so sehr ich aber bei einzelnem schwärme, so habe ich vom Ganzen keinen befriedigten Eindruck, außer vom Andante, das wundervoll ist. Schade doch, daß er zuweilen nicht mehr feilt, flaue Stellen herauswirft ... Abends, wo die Schülerinnen kamen, und wir noch mal den Baum anzündeten, wurde ich herausgerissen [aus einer durch einen Krankenbesuch verursachten trüben Stimmung]. Wie waren sie aber auch lustig alle!... Brahms war höchst guter Laune.«

»29. Dezember. Quartett! Quintett von Brahms wurde enthusiastisch aufgenommen – es ist ein gar herrliches Stück. Das Trio fiel wohl ab, aber auch da war das Publikum – einmal schon erwärmt –– sehr lebhaft. Leider nur spielt Brahms immer schrecklicher – es ist nichts mehr als ein Schlagen, Stoßen, Grabbeln!«

»30. Dezember reiste Brahms ab. Wir hatten entschieden das Gefühl, daß er sich diese Woche behaglich bei uns gefühlt, aber wir hatten auch das Empfinden des gänzlich äußerlichen Verkehrs ...«35 Wer diese Tagebucheinzeichnungen Klara Schumanns mit dem an Faber gerichteten Briefe zusammenhält, wird zugeben, daß die sich darin aussprechende animose Gereiztheit weniger dem von den besten Absichten beseelten Brahms als der von fremden Einflüssen sachlicher und persönlicher Art allzusehr [373] abhängigen Schreiberin zur Last gelegt werden muß.36 Die in Myliusstraße Nr. 32 eingeschlossene Atmosphäre hatte für freizügige Naturen wie Brahms etwas Beklemmendes. Versuche, die Vorurteile seiner alten Freundin einmal gründlich auszulüften, waren ihm übel bekommen; er fügte sich mit möglichst heiterer Laune ins Unvermeidliche, und seine Höflichkeit wurde ihm für Mangel an Teilnahme ausgelegt. »Wie vereinsamt muß sich ein Mensch fühlen, der mit seinen ältesten und besten Freunden keine innere Berührung findet!« schreibt bald darauf Frau Schumann, mit Beziehung auf Brahms, wieder in ihr Tagebuch. Wohl hatte sie von ihrem Standpunkt aus recht, mit dem Freunde unzufrieden zu sein; aber sie bedachte nicht, wie tief es ihn entmutigte, daß er gerade da, wo er nicht nur als Musiker, sondern auch als Mensch liebevoll eingehendes, nachsichtiges Verständnis erwarten zu dürfen glaubte, häufig auf Mißtrauen, Argwohn, Unduldsamkeit und kleinliche Eifersüchteleien stieß. Erfahrungen, wie sie Brahms (nicht mit Frau Schumann allein) machen mußte, trugen zu seiner inneren Vereinsamung, die ihn wie ein Gespenst bedrohte, das meiste bei, und nur seiner mit Liebe gesegneten Natur hatte er es zu verdanken, daß er kein Misanthrop wurde, sondern sich's wohl sein ließ unter guten Menschen. »Findest hier mit deinen Schwächen, deiner Liebe, nichts als Schmerz«, klagte er in seinem »Todessehnen« mit Schenkendorf.

Seines Bleibens in Wien, wo Brahms zu Neujahr 1883 eintraf, war nicht lange. Schon Mitte Januar ging er wieder an den Main und Rhein, um seine Novitäten aufzuführen. Am 15. besuchte er Frau Schumann noch einmal auf der Durchreise in Frankfurt, dirigierte am 18. in Bonn die »Nänie« und spielte ebendort unter Wasielewski das B-dur-Konzert, vom 19.–23. war er Logiergast bei Rudolf v. d. Leyen in Krefeld. »Ich freue mich auf keine Stadt und keinen Chor so sehr, wie auf den Ihren,« hatte er ihm geschrieben. Am 23. spielte er unter Grüters sein zweites Konzert, dirigierte den »Gesang der Parzen« [374] und hörte mit Vergnügen Antonie Kufferath37 zu, die das Sopransolo aus dem »Deutschen Requiem« und Lieder von Schumann und Brahms sang. »Der Gesang der Parzen«, berichtet der Krefelder Enthusiast, »wurde vom Chor so vollendet und wundervoll gesungen, daß Brahms die hellen Thränen der Rührung und Freude über die Wangen liefen. Der Chor wurde stürmisch da capo verlangt und gelang beim zweiten Male womöglich noch schöner. Als die mächtigen Einsätze der Bläser mit überwältigender Kraft wirkten, hörte man von dem dirigierenden Brahms ein herzhaftes Ah! der innersten Befriedigung« ... Die Aufführung muß ihm eine seltene Freude gemacht haben, denn er schenkte der Krefelder Konzertgesellschaft zur Erinnerung daran das Manuskript seines Werkes ... »Als wir uns zur Hauptprobe dem Konzertsaal näherten«, erzählt von der Leyen weiter, »drangen die Klänge der dritten Leonoren-Ouvertüre, mit der das Konzert eröffnet wurde, zu uns hinüber. Brahms blieb lange horchend im Hausgang stehen und sagte dann: ›Ich habe das Unglück, daß überall, wohin ich komme und meine Sachen dirigiere, dies Stück mit auf dem Programm ist, und neben diesem kann doch eigentlich kein anderes bestehen.‹« ... Nach dem Konzert machte, wie Grüters erzählt, Brahms die Bekanntschaft von Hermine Spies, die damals noch bei Stockhausen Unterricht hatte. Sie sang das »Vergebliche Ständchen«, und Brahms rezensierte den Vortrag mit den Worten: »Die läßt ihn nachher doch noch herein«. In der von Minna Spies verfaßten Biographie ihrer Schwester wird die erste Begegnung zwischen dem Meister und »seiner« Sängerin auf das Kölner Musikfest von 1883 verlegt und viel dramatischer geschildert,38

Am 26. Januar spielte Brahms (unter Rafael Maszkowski) das B-dur-Konzert in Koblenz, am 30. (unter Ferdinand Hiller) in Köln, dirigierte dort auch die »Nänie« und »Akademische Ouvertüre« und ließ sich von Geheimrat Schnitzler, dem Vorstand der [375] Niederrheinischen Musikfeste, bei dem er logierte, für das sechzigste Fest einladen, das vom 11.–15. Mai im Kölner Gürzenichsaale gefeiert werden sollte. Gern hätte er bei dieser Gelegenheit außer dem Konzern auch den Parzengesang hören lassen. Aber die Rücksicht auf Hiller und dessen Parzenlied (das dann auch nicht aufgeführt wurde) entschied für die Zweite Symphonie, und Schnitzler, der so tun sollte, als ob der Wunsch des Meisters sein Einfall gewesen wäre, drang mit seinem Antrage nicht durch.

Im Februar konzertierte Brahms in Hannover (B-dur-Konzert, »Akademische Ouvertüre« und »Triumphlied«), Schwerin (»Schicksalslied«, zweites Klavierkonzert, »Gesang der Parzen« und »Akademische«) und Oldenburg (dasselbe Programm). Zwischen Schwerin nur Oldenburg war Brahms in Meiningen. Er hätte auch hier seinen Parzengesang dirigieren sollen, und hier vor allen anderen Städten, da das Werk ja dem Landesherrn zugeeignet war. Durch Bülows Erkrankung, der von einer schweren Irritation der Nerven heimgesucht wurde, hatte sich die Aufführung verzögert. Der Herzog würde sie dann gern noch weiter hinausgeschoben haben, um am 2. April, seinem Geburtstage, das Werk aus den Händen des Meisters gleichsam als Geschenk zu empfangen. Es scheint aber, daß Brahms von dem freundlichen Beweggrunde des Aufschubs keine Kenntnis erhielt; denn er schützte eine italienische Reise vor und bestand auf dem Februartermin, den Bülows diplomatische Vermittelung auch für ihn durchsetzte. »Da Maëstro Br. zu den sizilianischen Banditen nach dem etwas öden Girgenti will, ist er Anfang Februar willkommen und natürlich mein Gast, was Sie vielleicht einfleußen lassen wollen. Aber nun gilt's, unseren Chor zusammenzurütteln und lustig zu machen, um das Parzenlied zu bewältigen.«39 Dieser allerhöchste Bescheid war dem Besuche des Meisters vorangegangen, der hinterher Bülow versicherte, er wäre durch die freundliche Güte Sr. Hoheit allzusehr beschämt, wenn er sie in dem Maße beansprucht hätte, in dem sie ihm gewährt werde. Brahms hätte es mit seinem Besuche nicht unglücklicher treffen können. Denn nicht allein, daß Bülow, der noch immer leidend war, ihn sehr kleinlaut und niedergeschlagen [376] empfing, so mußte er auch noch Zeuge einer Szene sein, die ihn mit Schrecken und Entsetzen erfüllte. Am 13. Februar war Richard Wagner gestorben. Man hatte Bülow, um ihn zu schonen, die Nachricht so lange wie möglich vorenthalten, und er empfing sie zugleich mit einem schwarzgeränderten Briefe aus Bayreuth, der eine furchtbare Wirkung auf ihn ausübte. Er entfärbte sich, ballte das Blatt wütend zusammen, rang umsonst nach Worten, warf sich zu Boden, wälzte sich konvulsivisch hin und her, biß und krallte sich mit den Händen in den Teppich – der bestürzte Meister glaubte, der Ärmste habe den Verstand verloren. In jenem Briefe wurde Bülow von einer Seite, die ihm einst nahestand, eine Zumutung gestellt, für welche der Zeitmoment übel gewählt war.40 – Brahms aber vergaß augenblicklich allen Tort, den ihm sein Widersacher erst neuerdings wieder angetan hatte, und schickte einen prachtvollen Lorbeerkranz mit seiner Karte nach Bayreuth. Dem Herzog den er mit seinen neuen Kammermusikwerken bekannt gemacht hatte, versprach er, im April wiederzukommen, und fuhr nach Wien.

Dort erlebte er mit den Parzen wenig Freude. Zwar hatte Gericke die Novität für das Gesellschaftskonzert vom 18. Februar gewissenhaft einstudiert, aber das Werk war »ein zu harter Bissen für die Zähne der Wiener« von 1883. Hanslick tröstete mehr sich als den Freund mit der Bemerkung, eine große populäre Wirkung werde das Chorstück ebensowenig erzielen wie die »Nänie« und das »Schicksalslied«. In Wien, wo die Pflege der ernsten Chormusik sporadisch und oberflächlich sei, brächten es solche ernste, strenge Chorkompositionen über eine respektvolle Aufnahme selten hinaus. Da könnte nur ein Mittel helfen: die häufige Wiederholung.41 Überdies klagten die Wiener Musiker, von Brahms vernachlässigt zu werden. Ebenso spät wie das neue Chorwerk lernte das Publikum in Wien die beiden Kammermusikstücke kennen, [377] deren Lob schon von Aufsee und Ischl aus gesungen worden war. Robert Heckmann, der die Novitäten mit dem Klavierquintett op. 34 und den Variationen op. 23 zu einem Brahms-Abend verband, hatte schon am 2. Januar in Köln Staat mit ihnen gemacht. Hellmesberger kam mit dem Streichquintett am 15. Februar, mit dem Trio gar erst am 15. März heraus, und Ignaz Brüll, der am Klavier saß, erntete dabei die Früchte seiner Ischler Studien. Hellmesberger wiederholte das Quintett am 11. Dezember 1884 und das Trio am 19. November 1885 (mit Jul. Epstein).

Mehr Freude als in Wien erblühte Brahms in seiner Vaterstadt. Dort leitete seit 1878 der ihm mit Begeisterung ergebene Julius Spengel den »Cäcilienverein«. Brahms hatte sich bei seiner letzten Anwesenheit in Hamburg von der Vortrefflichkeit des zu einer musikalischen Körperschaft ersten Ranges herangebildeten Chors überzeugt und das Anerbieten, den »Gesang der Parzen« einzustudieren, mit Vergnügen akzeptiert.42 Ja, er hatte noch ein übriges getan und dem Verein seine Mitwirkung für den 6. April zugesagt, an dem Spengel ein großes Brahms-Konzert im Konvent-Garten veranstaltete.43 Am 3. reiste er nach der von Mannstädt, [378] Bülows Substituten vorbereiteten musikalischen Geburtstagsfeier des Herzogs von Meiningen ab, so daß er noch die letzten Proben in Hamburg leiten konnte. Am 8. dirigierte er schon wieder sein »Deutsches Requiem« in Schwerin. Alois Schmitt hatte das Werk, das dort Novität war, einstudiert, und seine Frau Cornelia sang das Sopransolo.

Seinen fünfzigsten Geburtstag verlebte Brahms in Wien. Eine Menge von Liedern, die er auf täglichen Praterspaziergängen komponierte, schwärmte dem 7. Mai voran Herolde eines neuen großen Werkes, die wieder bei ihm anklopften, nachdem sie schon unverrichteter Sache abgezogen waren. Nicht bedurfte er der Sonne Italiens mehr, um seinen Plan zurückzulocken – die Gärten von Wandsbeck und Harvestehude, die Wipfel der Krieau und des wilden Praters raunten ihm zu, was er an halbverwehten Erinnerungen brauchte, und, das Ziel seiner Pfingstreise, der Rhein, verhieß ihm die Vollendung seines Glückes: seiner dritten Symphonie. Beim Anblick des grünen Stromes und seiner Waldgebirge änderte er seinen Entschluß, nach Ischl oder Zürich zu gehen, an das er neben Godesberg und Münster a. Stein gedacht hatte, und blieb den Ufern seiner dort verflossenen romantischen Jugend treu. Alle Umstände sollten sich vereinigen um das geplante Werk zu fördern und [379] ihm den Inhalt zu geben, mit dem es für die Berechtigung seiner künstlerischen Existenz und die über Tag und Jahr hinausreichende Bedeutung seines hohen Persönlichkeitswertes einstehen konnte. Auch auf die Ehre, dem Anfang Mai in Leipzig unter der Ägide von Wagners Tode abgehaltenen Musikfeste des »Allgemeinen deutschen Musikvereins« beizuwohnen, hatte er verzichtet. Die gemischte Gesellschaft, in die sein »Parzengesang« geraten war (Mihalowichs »Faust-Phantasie«, Liszts »Entfesselter Prometheus«, Raffs »Liebessee«, A. v. Goldschmidts »Sieben Todsünden«, Wagners »Kaisermarsch«) konvenierte ihm nicht zur Feier seines Wiegenfestes. Nur um diese so geräuschlos wie möglich zu begehen, veranlaßte er Hanslick, in die Zeitung zu setzen, er reife »morgen oder Ende der Woche« zu den Musikfesten in Leipzig und Köln ab. »Es braucht ja nicht immer alles wahr zu sein – der Abwechselung wegen!« fügt er ironisch hinzu, »aber ich habe einen starken leisen Grund, das weltgeschichtlich interessante Ereignis meiner Abreise gedruckt zu lesen – und lesen zu lassen!«

Ihm genügte, was ihm Frau v. Herzogenberg über Leipzig referierte,44 daß Arthur Nikisch (damals Kapellmeister am Leipziger Stadttheater) sich mit dem Parzengesange große Mühe gegeben, und Adolf Brodsky (seit 1882 Professor am Leipziger Konservatorium) das Violinkonzert verständig und liebevoll gespielt habe. Nach dem Kölner Pfingstfeste, bei welchem Brahms sehr gefeiert wurde45 – er trug seinB-dur-Konzert vor und dirigierte die Zweite Symphonie – stattete er mit Bernhard Scholz, Theodor Gouvy und Julius Buths der Familie v. d. Leyen in Godesberg einen Besuch ab. Die rheinische Gastfreundschaft erbt nicht nur von den Eltern auf die Kinder, sondern besitzt auch rückwirkende Kraft und verzweigt sich wie der Stammbaum eines Adelsgeschlechts. Von Frau v. Beckerath senior, die in Godesberg [380] residierte, reiste Brahms nach Wiesbaden, wo er von Frau v. Beckerath junior empfangen wurde. Rudolf v. Beckerath, der Gatte der Frau Laura, war eine sonnige Künstlernatur, die mit der lachenden Umgebung der Taunuslandschaft bestens harmonierte. Er spielte sehr gut Violine, und Brahms nannte ihn scherzhaft seinen »verehrten Mitarbeiter«. Wenn Beckerath mit dem Meister musizierte und ihm dabei von dem edlen Tropfen einschänkte, den er als Besitzer eines Rüdesheimer Berggutes selber erzeugte, ließ er nicht ab, ihn zur Komposition von Violinsonaten anzutreiben. Der erfahrene Gutsherr meinte, an dem Stock, der die G-dur-Sonate getragen habe, müßten noch mehr solche vollsaftige, süße Trauben wachsen, und Brahms verredete es nicht. Für den April war von Beckerath ein Wiesbadener Brahms-Abend geplant gewesen, der aber nicht zustande kam. Nun holte Brahms privatim nach, was er öffentlich versäumen mußte. Der rheinische Frühling hatte es ihm wieder angetan; das freundliche waldumrauschte Wiesbaden schien alles zu gewähren, was er sich für seinen produktiven Sommer wünschen mochte: mildes Klima und würzige Luft, ländliche Stille und städtischen Komfort, Einsamkeit und Verkehr mit sympathischen Menschen, häuslichen Frieden und fröhliche Ungebundenheit auf näheren und weiteren Ausflügen, rheinabwärts oder nach Frankfurt, wo am 1. April Bernhard Scholz in den dortigen Freundeskreis eingetreten war. Auch hatte Brahms zugesagt, Mitte Juli auf dem Koblenzer Musikfest zu erscheinen, um seine, von Hermine Spies gesungene Alt-Rhapsodie zu dirigieren. Dort fand dann (nach zweijährigem Verstummen) die früher erwähnte »Aussprache« mit Joachim statt. Auf dem Niederwald aber stand schon hinter einem Gerüst das Postament für den Erzguß der Schillingschen Germania, die im September mit großem Pomp als Nationaldenkmal enthüllt werden sollte – ein selig beunruhigender Anblick für den Künstler und ein glückversprechendes Omen für sein patriotisches Herz! Auch sein neues Werk wuchs der Vollendung entgegen, und er mochte fühlen, daß sich beziehungsvolle Fäden von einem zum andern spinnen würden, die zuletzt beide unauflöslich miteinander verknüpften.

Frau v. Beckerath begab sich mit Brahms auf die Expedition nach einer passenden Wohnung, und in der Geisbergstraße Nr. 19 [381] bei Frau v. Dewitz, der »Alten vom Berge«, fand sich, was sie suchten, in dem über alles Erwarten herrlichen Prachtexemplare eines Sommerquartiers. Keine Godesberger Villa könne sich mit der seinigen messen, schreibt Brahms an v. d. Leyen, und einen Tag nach dem Einzuge (20. Mai) an Kommerzienrat Julius Wegeler in Koblenz, er könne jetzt fröhlichen Herzens sein Vorbeifahren entschuldigen, da er ein wenig Wegelers Nachbar geworden sei! Er habe nämlich die reizendste Wohnung in Wiesbaden gefunden und werde sich leicht und oft verführen lassen, rheinabwärts zu fahren. Vier Wochen später berichtet er in einem Brief an Billroth: »Ich wohne hier reizend, aber als ob ich es Wagner nachtun wollte! Ursprünglich von Knaus als Atelier gebaut, ist es nachträglich zum hübschesten Landhaus geworden, und so ein Atelier gibt ein herrliches hohes, kühles, lustiges Zimmer! Unsere Gesellschaft hier würde Dir ungemein behagen! Neulich waren wir in Frankfurt, wo Stockhausen seinen Schulchor jetzt sehr hübsch in Ordnung hat. Du könntest auch die neuen Chöre wohl mit Pläsier hören.«46

Die von Brahms erwähnte »Gesellschaft« bestand eigentlich nur aus dem Ehepaar v. Beckerath, dem sich Louis Ehlert und Assessor v. Wurmb anschlossen. Sie bildeten mit Brahms ein musikalisches Quintett, das gelegentlich auch Proben seiner Kunst gab; das Ensemble beschränkte sich dabei freilich auf à quatre [382] mains-Spiel und Violin-Klavier-Duette. Auch an Jugend und Schönheit fehlte es nicht in dem geselligen Kreise. Hermine Spies, die um ihren in Wiesbaden verstorbenen Vater trauerte, suchte Trost in der Kunst und verschönerte manchen Abend bei Beckeraths mit ihrem warmblütigen Gesange. In ihrem Tagebuch schreibt die schöne Sängerin: »So war es einmal, als wir Schwestern mit Brahms, Prof. Ehrlich aus Berlin, Prof. Ehlert und dem Cellisten Hausmann aus Berlin und seiner Mutter zusammentrafen. Es wurde Brahms' Trio gespielt. Ich sang ›Mainacht‹, ›Dämm'rung senkte sich von oben‹, ›Vergebliches Ständchen‹, letzteres zweimal, weil Brahms sagte: ›Wir nehmen an, es sei da capo gerufen worden‹. Später bei Tisch, wo ich neben ihm saß, war er höchst amüsant, stieß mit mir an. ›Auf Ihren Schwiegervater‹, sagte er, und gleich hinterdrein, als ich ein wenig zögerte, zur Gesellschaft gewandt: ›Sie besinnt sich, ob der Brahms noch einen Vater hat‹. Alles lachte natürlich, und ich mit.«

Ehlert, der sich von seinen öffentlichen und privaten musikalischen Lehrämtern nach Wiesbaden zurückgezogen hatte, war drei Jahre vorher in der geistreichen und poetischen Weise, welche seine vielgelesenen »Briefe über Musik an eine Freundin« charakterisiert, mit einem Essay in Rodenbergs »Deutscher Rundschau« warm für Brahms eingetreten, und dieser gewann den Schüler Jean Pauls, Mendelssohns und Schumanns immer lieber, je intimer er mit ihm verkehrte. Fast täglich kam Brahms nach Tische zu Ehlert, um beim schwarzen Kaffee mit ihm zu plaudern und zu debattieren. Und ebenso regelmäßig verbrachte er seine Sonntagabende bei Beckeraths, wo er mit dem Hausherrn meist klassische Violinsonaten (von Bach, Händel, Mozart und Beethoven) spielte, die ihm, wie er sagte, den Mut benahmen, selbst welche zu komponieren.47 Von seiner Symphonie aber erfuhren die Wiesbadener Freunde nicht eher etwas, als bis er ihnen eine [383] Abschrift seines vierhändigen Klavierarrangements senden konnte. Er entschuldigte seine Verschlossenheit mit den Worten: »Ich habe die Symphonie [in Wien] den Freunden öfter auf zwei Klavieren mit Brüll vorgespielt – es war mir jedesmal leid, daß Bescheidenheit, oder was sonst, mich so zurückhaltend sein läßt – ich hätte sie ja dort und Ihnen auch spielen können.« Wüllner, der ihn Ende August in Wiesbaden besuchte, war der Erste, der einzelne Partien des Werkes zu sehen bekam. Noch von Wiesbaden aus sicherte Brahms ihm am 1. Oktober die Novität mit den Worten zu: »Für 7. März kannst Du ja jedenfalls die Symphonie in Dresden haben.« Eine Weile vor Wüllners Besuche schrieb ihm Brahms (August 1883): »Ich komme eben von der Rüdesheimer Germania. Verzeih deshalb die Eile.«

Auch schon vorher hatte Brahms dem Schillingschen Werke seine aufmerksame Teilnahme zugewendet.

Wir glauben nicht fehlzuschließen, wenn wir der gegürteten Jungfrau, die, das Schwert in der Linken und die Kaiserkrone in der erhobenen Rechten, auf dem langen Bergrücken bei Rüdesheim, das stolze Haupt dem linken Rheinufer zugewandt, die »Wacht am Rhein« hält, einen wesentlichen Anteil am Gelingen des Werkes zuschreiben. Sie war die Memnonssäule, die zu tönen begann, als der Meister ihr nahte, mit dem Hochgefühle eines Mannes, der das Seinige dazu getan, daß dieses Schutz- und Trutzbild des Deutschen Reiches aufgerichtet werden konnte. Die Wünsche der Guten haben eine heilige Kraft, und die Träume ihrer Jugend werden erfüllt. Im Geiste hatte der Sänger des »Triumphliedes« [384] all die blutigen Schlachten mitgeschlagen, die der Einigung der Nation vorangegangen waren, und seine Seele trug Tausende von Narben. War es ihm auch nicht beschieden gewesen, mit körperlicher Hand die Wehr zu ergreifen und das Leben für das geliebte Vaterland einzusetzen – daß er das Schwert des Geistes führte, daß er mit der Schärfe seiner Überzeugung dreinschlug, wo es galt, deutsches Recht, deutsche Sprache, deutsche Kunst und deutsche Sitte zu verteidigen, daß er an den Sieg der nationalen Idee von Kindesbeinen an glaubte wie an eine göttliche Verheißung –– wer dürfte es ihm absprechen? Und wer wollte seinen frommen Künstlerwahn belächeln, der den Lauf der Dinge an der eigenen Entwickelung maß, bis beide ihm zu einem unzertrennlichen historischen Prozeß zusammenwuchsen? Seine Phantasie benötigte dieses schönen Aberglaubens, um schöpferisch angeregt zu werden, und er vertraute ihren wundervollen Eingebungen, die ihn für alles schädigten, was er unter niemals ruhenden Schmerzen entbehren mußte. Mit dem Tondichter, dem allein es erlaubt ist, das in Worten weder Künd- noch Faßbare auszusprechen, erwachte in ihm den Tonseher, dessen Klanggesichte jeder irdischen Begrenzung spotten. In seinen Visionen dehnte sich das Vaterland zum All, das Deutsche Reich zum Weltreich aus. Germanisation war für ihn identisch mit Kulturisation; denn vor allen anderen Erdbewohnern schien ihm der Deutsche zum friedlichen Eroberer berufen, der das von Sibyllen und Propheten verkündigte neue Reich aufzurichten imstande sein würde, das Reich der Freiheit, der Schönheit und des Friedens, das Reich des vergöttlichten Menschen, das wahre Reich Gottes. Germania hat den Panzer mit dem Faltengewand, den Schild mit der Leier, das Schwert mit der Palme vertauscht; der Morgenstern blitzt in ihren Locken, Purpurgewölk lagert sich ihr zu Füßen und trägt sie unter feierlichen Klängen zur aufgehenden Sonne hinan. Der Streit ist geschlichtet, das Sehnen erfüllt, das Ziel erreicht. Davon singt das Finale der F-dur-Symphonie in mächtigen Tönen. Und vom Berge der Erfüllung, der ihm zum Berge der neuen Verheißung wurde, von der Höhe des Niederwaldes sah der fünfzigjährige Tondichter wie vom Gipfel des eigenen Lebens in die verlassenen Täler der Vergangenheit hinab, sie lagen wie eine [385] Reliefkarte unter ihm. Er brauchte dem Schlangenlaufe des Rheins nur zu folgen, um ins romantische Land seiner Jugend zu fahren, und überall von Bergen und Burgen, Feldern und Wäldern, Klüften und Schlüften tönte ihm der lockende Zaubergruß entgegen, das Schiboleth der Sehnsucht, das er zum Leitmotive seiner Kunst machte, nachdem er es aus jener, dem Joachimschen Motto F A E halb oppositionell an die Seite gesetzten Tonformel:


7. Kapitel

entwickelt hatte.48 Sie identifizierte sich ihm mit der Idee des Strebens überhaupt, sei dieses nun auf ein philosophisches, künstlerisches oder politisches Ideal gerichtet. Das Motiv wäre demgemäß ein ebenso tauglicher Keim für eine Faust- wie für eine Germaniasymphonie gewesen; das symphonische Curriculum vitae aber, das aus ihm erwuchs, nahm von den Gedankenkreisen der anderen, unkomponiert gebliebenen, diejenigen Segmente in sich auf, welche sich musikalisch mit seinen Ideen deckten.

Brahms hat seinem Urmotiv die Führerrolle zugeteilt. Die bewußte thematische Anwendung, die er von ihm macht, geht weiter und erscheint folgerichtiger als im a-moll-Quartett, wo es Arm in Arm mit dem Joachimschen Motto auftritt. Hier fiel ihm die schwerere Aufgabe zu, die ursprünglich disparaten Teile des Werkes umzuschmieden und zusammenzufügen, die ideale Einheit seines mehrdeutigen Charakters herzustellen. Die Symphonie, welche als Pastorale begann, sollte als Eroika enden. Wohl tritt im ersten Satze ein heroisches Element hervor, aber das pastorale hält ihm die Wage, und in den Mittelsätzen hat jenes sich im Idyllischen und Elegischen verloren. Das Finale aber wird so ausschließlich von hohem Pathos beherrscht, daß wir ohne das vermittelnde Band, ohne das verklärte Ausklingen des Urmotivs in der Koda, ohne die Versöhnung des »Helden« mit dem Schicksal, an der Zuständigkeit des Satzes zweifeln müßten. Der Held geht im Menschen unter und auf – nach der Devise: »Denn ich bin ein Mensch gewesen, und das heißt ein Kämpfer sein.«

[386] Wir möchten die Behauptung wagen, daß das Finale, offenbar das jüngste Stück der Symphonie, im ursprünglichen Plan des Werkes keine Stelle hatte, daß der erste Satz in anderer Form schon in früher Zeit existierte, und daß die Mittelsätze, die als ein mit dem Übrigen nur lose verknüpftes Ganze für sich zu betrachten sind, der Beschäftigung mit Goethes »Faust« ihr Dasein verdanken.49 Auffallende Analogien zum ersten Satze der c-moll-Symphonie, zur Tragischen Ouvertüre und zum F-dur-Quintett sprechen dafür. Wir erinnern an Konstruktion und Tonartenverhältnis im Allegro des F-dur-Quintetts, an die bis zur Einverleibung gehende enge Zusammengehörigkeit von Adagio und Scherzo, an das Fugenthema des Finales (eine Variation des Hornthemas im letzten Satze der Symphonie), ferner an die Beziehung des Hauptgedankens der Tragischen Ouvertüre zu dem Urmotiv und endlich an die Art, wie Brahms das Allegrothema der c-moll-Symphonie aus dem chromatischen Motto des Werkes, dem »Schicksalsmotiv«, entspringen ließ, um dann Motiv und Thema kontrapunktisch aneinanderzufesseln.

Auch die F-dur-Symphonie trägt ihr Monogramm an der Stirn. Wie eine Fanfare verkünden Holzbläser, Hörner und Trompeten mit drei Fortestößen


7. Kapitel

den Beginn des Dramas, das den Helden aus dem Märchenwalde der Romantik ins Leben zu Spiel und Kampf lockt. Der [387] Zuhörer soll das Grundmotiv der Symphonie nicht gleich erkennen. Nicht allein die harmonisch folgenreiche kleine Terz (F–As für F–A) sorgt für das Inkognito, sondern noch mehr das mit dem dritten Takt einsetzende, den Violinen zugeteilte Hauptthema. Es wird aus dem Mutterschoße des Motivs hinausgeschleudert wie der Feuergürtel einer kreißenden Sonne, der sich zum Planeten ballt – man glaubt den neuen Stern taumelnd rotieren zu sehen, ehe er sein Gleichgewicht findet und sich in wildem Schwunge um die eigene Achse bewegt. Es ist dafür gesorgt, daß er nicht im grenzenlosen Raume verloren geht: die Anziehungskraft seines Urquells hält ihn fest und geleitet ihn auf seinem rhythmischen und harmonischen Wandel:


7. Kapitel

[388] Eine Probe Brahmsscher Kosmogonie! Die Posaunen lassen sich im Verein mit den tiefen Saiteninstrumenten die harmonische Füllung angelegen sein. Dadurch, daß sie schon zu Anfang eingreifen, sollen sie wohl den heroischen Charakter des Werkes feststellen und die Transfiguration des fernen Schlusses vorbereiten. Ihre Mitwirkung beschränkt sich auf wenige Takte; von besonderem Effekt ist sie am Ende der Durchführung. Aus der in Vierteln pulsierenden Begleitung der Violoncelle entwickelt sich eine sehnsüchtige, in drängende Achtelfiguren und fiebernde Triolen auslaufende Phrase der ersten Violinen:


7. Kapitel

Wir möchten sie als das irdische Verlangen des Helden bezeichnen, im Gegensatz zu der unstillbaren Himmelssehnsucht seines F–A(s)–F-Motivs (»Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust!«). In rhythmischer Verlängerung leitet sie zu dem in A-dur stehenden Seitensatze der Klarinetten und Fagotte über:


7. Kapitel

[389] Eine gefällige Schöne, die jedes Männerherz erobert! Sie scheint ganz Einfalt, ganz Unschuld, ganz Natur, und der bukolische Quintenbaß der Violoncelle und Bratschen:


7. Kapitel

will das günstige Vorurteil des ersten Eindrucks befestigen. Seht nur, wie sie tänzelt und schwänzelt, wie sie sich wendet und dreht und bei jeder anmutigen Bewegung ihrem biegsamen Körper neue Reize abgewinnt! Immer scheint sie eine andere und ist doch immer dieselbe. Sie verfügt eigentlich nur über einen einzigen Takt (4a), bringt es aber durch listige Verschiebung und Vergrößerung des Rhythmus (6/4 ' 3/4), durch den schlauen Wechsel der Notenwerte und Akzente (4b) zu einer stattlichen Periode von acht Takten, die ihr eine Wichtigkeit antäuscht, welche sie nicht besitzt. Je länger wir dem allerliebsten Tanzliedchen der Auserwählten lauschen, je aufmerksamer wir sie betrachten, desto bekannter scheint sie uns. »Denn jedem kommt sie wie sein Liebchen vor.« In dem meisterhaft gezeichneten weiblichen Porträt finden wir die Merkmale des Gattungscharakters, das Weib schlechthin. Der Gynäkophile wird es adorieren, der Misogyne die beleidigende Frage stellen, ob die holde Schäferin nicht etwa ein verkleidetes, mit Heugeruch parfümiertes Stadtfräulein sei, eine Natur nach der Mode, eine Unschuld aus zweiter Hand, eine selbstgefällige, berechnete Einfalt, die sich »aus Leichtfertigkeit unwissend stellt«? Und beide werden sich auf den koketten Pizzikato-Baß (5) des objektiven Tonmalers berufen, der zu einem Idyll à la Watteau paßt. Der Held aber nimmt die Kleine ernst, weil er selbst eine ernsthafte Bestie ist, ein Mensch, der fünfzig Jahre alt werden mußte, um seine Jugendeselei mit Humor wehmütig zu belächeln. Die reizende Verführerin braucht nur mit dem kurzen Röckchen zu schwenken, und der verliebte Tor ist von ihren Knixen so bezaubert, daß er die gewöhnliche Kadenz (4c) zu einem feierlichen Aktus gestalten, seine Dummheit an die große Glocke hängen möchte. Er verlängert das kurze Röckchen zur Brautschleppe:


7. Kapitel

[390] und trägt es triumphierend wie eine Kirchenfahne umher. Schließlich eignet er sich die ganze pastorale Melodie (4a) an und gestaltet sie nach seinem schwärmerischen Sinne um:


7. Kapitel

Da ertönt der Warnungsruf:


7. Kapitel

mit einem Appell an sein besseres Selbst. Einstweilen verhallt er allerdings ungehört, wenn er sich auch verändert dem gleichfalls stark veränderten Hauptthema (2) an die Sohlen heftet. Das Spiel muß wieder anfangen, ehe der vom Schicksal auf den rechten Weg zurückgeleitete Held die tiefere Bedeutung des Rufes erfaßt. Hier also hätte die Repetition neben ihrem formalen auch noch einen logischen Sinn, wenn wir den Tondichter richtig verstanden haben. Der affirmative Vortrag unserer Hypothese soll nicht anmaßend klingen!

In der ungewöhnlich knappen Durchführung tritt das volle Orchester (aber ohne Posaunen, Kontrafagott und Pauken) für die neue Situation, die sich am Schlusse des ersten Teiles bereits anbahnte, ein. Der Umschwung des Heldenthemas, das durch synkopierte Kontraktion und andere eingreifende Prozeduren fast bis zur Unkenntlichkeit entstellt wurde, behält den ihm verliehenen Mollcharakter bei und wendet sich von a über D, c und Gis (As) nach cis-moll, der privilegierten Tonart unglücklicher Liebe. Wie traurig begegnet uns jetzt die früher so muntere Gesangsmelodie (4)! [391] Mit der Tonart hat sie auch die Gestalt gewechselt. Die Schwärmerei des von Illusionen gewiegten Heiratskandidaten ist der Verzweiflung des enttäuschten Liebhabers gewichen. Man vergleiche die von Violoncellen, Bässen und Fagotten intonierte unruhig leidenschaftliche Melodie:


7. Kapitel

mit 7, und beide mit 4! Ein fremdes Gesicht grinst uns mit verzerrten Zügen daraus entgegen, und der in Tönen sich entladende Schmerz über diesen Anblick greift uns ans Herz. Nur die Musik kann das Objekt gleichzeitig subjektivieren! Aus dem »Grazioso« (4) ist ein »Expressivo« (7) und aus diesem ein »Agitato« (9) geworden. Das triumphierende Fähnchen (6) hat seine lustige Flattersucht eingebüßt und weht wie eine Trauerfahne im Winde – da dringt plötzlich wie aus fernen, verlorenen Tälern herauf ein Hornsolo, was bei Brahms so häufig das Signal zur Umkehr, zum plötzlichen Umschlage, zur Peripetie im Sinne des Dramas gibt. Auf seinen langgezogenen Tönen schwebt in Es-dur eine Melodie mitklagenden Trostes einher über synkopierten Harmonien des Streichquartetts, in welcher sich bereits unzweideutig die höhere Mission des Urmotivs (1) ankündigt:


7. Kapitel

Hat vielleicht der Gruß aus der romantischen Jugendzeit noch seinen besonderen, dem Autor allein bewußten Nebensinn? Das Hamburger Minnelied für Frauenchor von 1860 »Der Holdseligen sonder Wank« (op. 44 I 1) hat dieselbe Melodie. Es braucht[392] nur rhythmisch vergrößert zu werden, und es deckt sich beinahe mit der Hornstelle. Die erste Oboe eilt dem Horn zu Hilfe, die Melodie wird eine Terz höher in Ges-dur wiederholt und übt einen geradezu erschütternden Eindruck auf das Hauptthema (2) aus.Poco Sostenuto erscheint es erst pp in den Bässen und geht dann pp akzentlos und ohne Harmonie alsunisono in Oktaven auf das Orchester über, immer stockend, wie in tiefes Nachsinnen verloren, als wolle es sich irgendeines bestimmten Vorgangs erinnern:


7. Kapitel

Leise hinzutretende Posaunen bringen eine unheimliche Spannung hervor, das Thema droht in der Tiefe zu entschwinden, da wendet sich die Harmonie nachF, und der erste Teil des Satzes wird wiederholt. Auch hier erscheint die Repetition psychologisch begründet: das reale Erlebnis kehrt als Phantasiebild zurück, so lebhaft wiederhergestellt, daß es den Träumer noch einmal betören könnte. In der Koda hat sich der Held wiedergefunden, sie besitzt rückwirkende Kraft. Die Wunde seines Herzens schließt sich. Idealere Freuden ziehen bei ihm ein. Das Grundmotiv hat vorläufig seinen Zweck erreicht. Aus dem Heldenthema (2) löst sich ein neues, äußerst zartes, fast spielerisch anmutiges Motiv ab, das mit seiner Gegenstimme im doppelten Kontrapunkt steht:


7. Kapitel

und zu einem Frage- und Antwortspiel der Instrumente führt.

[393] Das Andante des zweiten Satzes (C-dur, 4/4 Takt) scheint sich direkt an die Koda des Allegros anzuschließen. Unverkennbar ist die Verwandtschaft zwischen seinem Hauptgedanken


7. Kapitel

und dem Ableger des Heldenthemas (12), wobei die Frage, ob es sich um Deszendenz oder Aszendenz handelt, offen bleibt. Ein besonderer Reiz der »ausdrucksvoll einfachen« Melodie ist ihr doppelsinniges Metrum, das ihr eine wellenförmig schaukelnde Bewegung gibt. Das Zeichen + im Notenbeispiel 13 steht über dem Schneidepunkt der beiden Legatobögen, welche Jamben und Trochäen ineinander spielen lassen. Die erste Klarinette behandelt das Thema trochäisch, zweite Klarinette und Fagott nehmen das vierte Viertel als Auftakt und erklären sich somit für das jambische Maß. Später, bei der Sechzehntelvariation des Themas, folgen die ersten Klarinetten dem Beispiel der andern und binden nur die drei ersten Viertel. Nicht minder eigentümlich berührt die immer im Schlußtakte jeder Periode eintretende Nachahmung der Kadenz, ein geisterhaftes Echo (13 b II), das bei der Anspielung auf das Grundmotiv (1) im zweiundzwanzigsten Takte wie ein Gruß aus anderen Regionen hereinweht. Wir stehen nicht mehr auf der romantischen Erde des ersten Satzes, sondern haben antiken Boden betreten: ideale Landschaften Italiens und Griechenlands ziehen an uns vorüber mit den Hintergründen des Gluckschen »Orpheus« und der Goetheschen »Helena«. Wir glauben in die von Sirenen, Nereiden und Tritonen belebten Felsenbuchten des ägäischen Meeres hinauszublicken, [394] über denen der unwandelbare Mond der klassischen Walpurgisnacht im Zenith steht. Dann wieder beschleicht es uns wie der leise webende Mittagszauber eines blumigen Waldgrundes oder einer einsam brennenden Felsenhöhe: der große Pan schläft, und seine Träume gleiten auf weißen Wolkenkähnen durch das blaue Luftmeer des Äthers – die Stille wird hörbar ... Der Held hat die nüchterne Alltagswelt mit einer trunkenen Feiertagswelt vertauscht und bevölkert sie mit den Gestalten seiner Phantasie. Brahms komponierte hier, wie Böcklin malte und Goethe dichtete. Eines seiner lieblichsten Geschöpfe ist das scheue, verlaufene Nymphchen des Seitensatzes, das nicht mehr nach Hause zurückzufinden fürchtet:


7. Kapitel

vielleicht die zärtliche Echo selbst, welche, nach ihrem Narkissos rufend, das Andante mit so seltsam klagendem Widerhall erfüllt (14 a in vielfältigen Abwandlungen und trügerischen Rätselharmonien).

Beruhigende Figuren der Streichinstrumente:


7. Kapitel

geleiten die Variante zum ersten Thema zurück, das erweitert und prächtig durchgeführt wird. Es vermählt sich mit dem zweiten, und ihrem Bunde entspringt der strahlende Abgesang der Koda:


7. Kapitel

[395] In 16 a klingt das Grundmotiv der Symphonie (1) wieder an. Ebenso in den Sechzehnteltriolen, welche das Hauptthema des dritten Satzes begleiten, einesc-moll-Allegrettos im Dreiachteltakte von vorwiegend elegischem Charakter. Die Violoncelle setzen mezza voce mit einer zwölftaktigen Melodie ein, die sich aus sechs Perioden zu je zwei Takten aufbaut. Auch sie hat ihre rhythmischen Finessen, vertauscht die Arsis mit der Thesis und verschiebt den Schwerpunkt des Motivs!


7. Kapitel

Wie alltäglich wäre dieselbe interessante Tonreihe, wenn sie durchweg rhythmisiert würde:7. Kapitel dem Einsatz erwarten sollte! Als eine Ergänzung des Andantes gedacht – schon die Tonart deutet auf die engere Zusammengehörigkeit beider hin – steht das Allegretto in einem ähnlichen Verhältnis zum vorhergehenden Satze wie die lebhafteren Tempi zum Grave des Quintetts op. 88. Man muß Andante und Allegretto zusammennehmen, um das Gleichgewicht zu den Außensätzen der Symphonie herzustellen; allein würde keines von beiden dem Allegro oder Finale die Wage halten, weder dem Umfang noch dem Inhalt nach. Als hätte Echo eine Schar von Nymphen herbeigerufen, daß sie mit ihr um den in eine blasse Blume verwandelten Geliebten traueren, bewegt sich der duftige Reigen mit der lässigen Grazie eines melancholischen Walzers, und die weiche, träumerischen Terzen sich wiegende Fortsetzung mit ihrem süßen Refrain:


7. Kapitel

[396] stimmt zur Wehmut. Nicht viel heiterer ist das, As-dur-Trio dieses verschleierten Scherzos: Waldgötter von der ernsten Schönheit des Winckelmannschen Fauns tanzen gegen den Dreiachteltakt, indem sie ihre Bocksfüße immer auf die schlechten Taktteile des letzten Achtels setzen:


7. Kapitel

Das Allegro-Finale (Viervierteltakt alla breve), unserer Meinung nach der großartigste Satz des Werkes, beginnt mit einem rätselhaften, vieldeutigen Thema. Ein epischer Wolkenzug, in dem es dramatisch wetterleuchtet, quirlt in düsterem f-moll heran:


7. Kapitel

Seine ebenfalls viertaktige zweite Periode:


7. Kapitel

zerstört das all unisono der von Fagotten unterstützten Streicher, und es zuckt wie von stummen, zornigen Blitzen auf. Der Zwiespalt ist in das Thema hineingelegt, die Hälften trennen sich, um gegeneinander aufzustehen. Ein furchtbarer Kampf bereitet sich in der Stille vor, denn alles wird piano und mezza voce behandelt. Auch ein von den Posaunen und Hörnern in alternierenden Rufen:


7. Kapitel

[397] angekündigter, vorerst den Streichern und Holzbläsern überwiesener Friedenschoral, der das Ende des Streites anticipando vorausnimmt, klingt geisterhaft herein:


7. Kapitel

Gleich nach den Feierklängen des Chorals entlädt sich die elektrische Spannung von 21 in jäh herabstürzenden, das ganze Orchester in Mitleidenschaft ziehenden wilden Schlägen:


7. Kapitel

und ein leidenschaftliches, fast titanenhaftes Ringen beginnt. Zugleich wird das alterierte Grundmotiv der Symphonie (1) ins Treffen geführt und kämpft inkognito hinter geschlossenem Visier mit.

Reihen wir daran das zum Sukkurs herbeieilende zweite, dem Horn zugeteilte Thema:


7. Kapitel

so überblicken wir das Material des Satzes und durchschauen die Entwickelungen seiner musikalischen Gedanken. Das Hauptthema (20) korrespondiert mit dem ersten Thema des Andantes (13). Wie dort bilden die drei ersten Taktviertel (a) ein Motiv für sich, das hier gleich bei der unmittelbar folgenden Wiederholung:


7. Kapitel

mit einer rhythmischen Vergrößerung der Schlußnote erscheint. Der Posaunenchor und der sich anschließende Choral (22 und 23) sind teils aus 14a, teils aus 20a hervorgegangen. Exposition und Durchführung des Satzes spielen ineinander. Aus den beiden Perioden des Hauptthemas (20) entwickeln sich immer neue [398] gepanzerte Gedanken. Dem vielleicht auch von 20a bzw. 23b abgeleiteten Hornthema (25) tritt ein grimmiger Streiter gegenüber:


7. Kapitel

Er gerät mit dem vielfach modifizierten Hauptthema, dem er sich an die Fersen heftet, hart zusammen. Schon glaubt man dessen Macht gebrochen, als es sich wieder aufrafft. Die Posaunen treten mit dem Choral (23) dazwischen, die Aufregung wächst, die Rhythmen beschleunigen und überstürzen sich. Noch einmal wird das schrecklich erhabene Bild der Schlacht entrollt, die Wage der Entscheidung schwankt lange hin und her, alles drängt mit ungeheuerer Spannung auf Einen Punkt hin. Das Orchester möchte sich verzehnfachen, und atemlos jagen die Gruppen der Instrumente fort. Aber das Hornsolo (25) hat das Herannahen des entscheidenden Augenblickes bereits angemeldet – das Finale wird der Dominante von F-dur und somit der Haupttonart der Symphonie zugeführt. Sein erstes Thema eignet sich die Figuration der Hornmelodie an und rollt in Vierteltriolen dahin, von sich selbst im Basse begleitet; Arpeggienläufe der Geigen tragen den sich immer mehr beruhigenden Gesang der Holzbläser empor; das Moll geht in Dur über, Oboen und Flöten vergrößern die Melodie. Der Tumult des Orchesters hat sich zu flüsterndem Wellengemurmel und Säuseln der harmonisch bewegten Luft herabgemindert; selbst der grollende Baß ist Melodie geworden (20 a) und ergeht sich in ausdrucksvollem Dialog mit Klarinette und Flöte:


7. Kapitel

[399] Das letzte B der Klarinette fällt mit dem B der Oboe zusammen, die das Grundmotiv (1) anschlägt:


7. Kapitel

Das Horn wiederholt, über leisen Posaunenklängen schwebend, den wohlbekannten Ruf (29). Wieder rückt das Motiv 22, der Herold des Chorals, an, und unter seraphischen Harmonien verhallt die Symphonie, das Ende mild versöhnt zum Anfang zurückleitend. Wer es hört, dem erschauert das Herz, als werde es von einem Hauche des Ewigen berührt. Brahms hat »der Weisheit letzten Schluß« ausgesprochen, und er kommt mit dem sterbenden Faust überein: »Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern muß.«

Ein eigenes Gefühl unsäglicher Wonne muß es dem Dichter der F-dur-Symphonie gewesen sein, als er am 28. September, dem 13. Jahrestage der Kapitulation von Straßburg, vom Rüdesheimer Weingarten bei Beckeraths aus den deutschen Kaiser und sein glänzendes Gefolge, die Helden von 1870, die Fürsten und Repräsentanten des deutschen Volkes zum Niederwalde hinaufziehen sah, um der Einweihung des Nationaldenkmals beizuwohnen. Ihm hatte sich Germania in beglückenden Visionen bereits enthüllt, und er konnte, das Manuskript seines herrlichen Werkes in der Tasche, das Fest zugleich als Nachfeier seines fünfzigsten Geburtstages betrachten.

Fußnoten

[400] 1 III 193.


2 III 132.


3 Spitzname für Grimm, dessen Frau und Agathe S. (Vgl. R. Barth, »Joh. Brahms im Briefwechsel mit J. O. Grimm«).


4 III 255 f.


5 Philipp Spitta, »Zur Musik«, 400.


6 Briefwechsel I 188.


7 III 186.


8 Wie lange Brahms unter Umständen mit der Herausgabe seiner Werke zögern konnte, so daß er das »Nonum prematur in annum« des Horaz fast wörtlich befolgte, lernte ich durch ein Beispiel aus eigener Erfahrung. Als ich ihm 1874 in Breslau zuerst begegnete, erwies er mir die Aufmerksamkeit, sich für meine poetischen Versuche zu interessieren, und bat mich, ihm davon nach Wien zu schicken. Ich schrieb ihm ein halbes Dutzend meiner Gedichte ab, unter ihnen »Nachtwandler« und »Letztes Glück«, die ich dann der 1878 erschienenen Gedichtsammlung »Nächte« einverleibte. Am 31. Januar 1875 meldete Brahms bei Bernhard Scholz den Empfang meiner Sendung an und trug jene beiden Gedichte in sein Textheft ein. Bei einem Besuche, den ich ihm im Frühjahr 1877 in Wien machte, gestand er verschämt, daß er »allerlei« von mir komponiert habe, war aber nicht zu bewegen, mir etwas zu zeigen; die Sachen seien noch nicht ganz in Ordnung; er müsse sie erst noch einmal mit der Brille besehen. Im Winter 1881/82 sagte er: »Nächstens kommen ein paar neue Liederhefte, da sind Sie auch drin ... Wir können übrigens gleich eine Probe machen.« Er holte das Manuskript des »Nachtwandlers« aus der Schublade, legte es auf das Klavierpult und ließ es mich vom Blatt singen. Dann schenkte er mir die Handschrift, »zum Lohn für das flotte prima vista«. Der sechsstimmige Chor »Letztes Glück«, der nicht viel später als der »Nachtwandler« komponiert sein dürfte, erschien gar erst 1889 in op. 104, also vierzehn Jahre nachher. Der Stimmungsinhalt des »Nachtwandlers« berührt sich eigen mit der Gemütsverfassung, in der sich Brahms 1876 und 1877 befand, und Frau v. Herzogenberg hatte recht, den Text »wenig erbaulich« zu finden (vgl. Briefwechsel II 164).


9 Gustav Jenner: »Brahms als Mensch, Lehrer und Künstler«, S. 31.


10 Kurzsichtige Splitterrichter und superkluge Silbenstecher haben dem Schöpfer dieses Meisterliedes die charakteristische Betonung der Worte als Deklamationsfehler à la Webers »Durch die Wälder, durch die Auen« vorgerückt, das ebensowenig einer wäre wie das Brahmssche »Guten Abend«, wenn die schwache Silbe vom schwachen Taktteil, auf den sie fällt, nicht auf den starken hinübergezogen würde. Der Widerspruch zwischen Ton- und Wortakzent, von dem allein hier die Rede sein kann, ist, wie wir oben nachgewiesen zu haben glauben, durchaus beabsichtigt, da er den komischen Effekt, der erzielt werden soll, vorbereiten hilft.


11 Ein damals gerade bei Josef Weinberger erschienenes Album mit Beiträgen von Wiener Liederkomponisten, in welchem auch Brahms mit einem älteren Liede vertreten war.


12 Gustav Dömpke trat seinerzeit (Gegenwart XXIII S. 375) in einer sonst vortrefflichen Abhandlung über »Johannes Brahms und seine neuesten Werke« dafür ein, allerdings mit dem Reservat für gesellige Kreise. – Es fehlte nur, daß man, wie es in Frankreich mit Schumanns Frauenliebe und -leben wirklich geschehen ist, unsere Lyrik auf das Theater zerrte und mit bemalter Leinwand illustrierte. Das »Vergebliche Ständchen« als »Letztes Fensterln«, ein lyrisch-, symphonisch-, malerisch-orchestisch-mimoplastisches Gesamtkunstwerk! Warum denn nicht?


13 Nach persönlicher Mitteilung von Brahms.


14 Jenner erzählt a.a.O., wie Brahms ärgerlich ausgerufen habe: »Man ist doch bei keinem Menschen sicher, daß nicht irgendwie einmal der Philister an den Tag kommt«, weil Klaus Groth das Präsens in »Gestorben bin« bemängelte. Auch ich erlaubte mir, als Brahms einmal mit der unangreifbaren Korrektheit seiner Liedertexte prahlte, ihm dieses »bin« als grammatikalischen Schnitzer (Verstoß gegen die consecutio temporum) anzukreiden, fügte aber gleich hinzu, daß er glücklicherweise die vom Dichter zweifellos beabsichtigte Anomalie durch die dissonierende Vorhaltsnote (H für C) noch unterstrichen habe, um den Sinn des Vergangenen im Gegenwärtigen, den prosaisch unfaßbaren Gedanken des Gestorbenseins bei lebendigem Leibe herauszubringen. »Na also!« rief er befriedigt aus, wurde dann aber erst recht wild, als ich scherzte, ich hätte mich des Allmersschen Textes nur deshalb angenommen, weil in meinem »Nachtwandler« ein ähnlicher, noch schlimmerer Bock vorkäme: »Weh den Lippen, die ihn riefen!« Worauf ich das seltene Vergnügen hatte, daß er mich gegen mich selbst verteidigte und endlich, da ich mich immer ernstlicher zur Wehr setzte, mit sämtlichen Nachtwandlern lachend zum Kuckuck wünschte.


15 Siehe oben S. 20 f.


16 Die in Tausenden von Kabinettphotographien verbreitete Schönheitsgalerie unserer »Heroen der Dichtkunst und Musik«, welche die Familienähnlichkeit des Genies, mit wallenden Locken und Feueraugen zu Ehren bringt (Jäger pinxit), war Brahms in den Tod zuwider. Die Hugsche Kunst- und Musikalienhandlung in Zürich scheint Simrock das Bild geschickt und zur Einreihung seines Autors in die Unsterblichen der Auslagefenster gratuliert zu haben.


17 Vgl. III 84.


18 Diese mysteriöse Briefstelle findet ihre Erklärung in dem »Offenen Brief an Friedrich Schön«, den Richard Wagner im Juliheft der Bayreuther Blätter veröffentlichte. Nachdem er jeder anderen als seiner Musik die Existenzberechtigung abgesprochen und versichert hat, der Genius der deutschen Musik verstumme, seitdem sie vom Metier auf dem Allerweltsmarkte herumgezerrt werde, und professionistischer Gassenaberwitz ihren Fortschritt feiere (siehe Bülow, Brahms und die Meininger!), gedenkt er des »großen asiatischen Sturmes«, der Europa bedrohte, und meint, er würde »nichts genützt haben«. (!) Denn es würde uns hier ergehen, wie es der Nachwelt der Völkerwanderung erging, »welcher von Sophokles und Äschylus nur wenige, dagegen von Euripides die meisten Tragödien erhalten wurden; demnach unserer Nachwelt gegen etwa neun Brahmssche Symphonien höchstens zwei Beethovensche übrig bleiben möchten denn die Abschreiber gingen immer mit dem Fortschritt«. Bülow und Brahms erwiesen dieser großartigen völkerpsychologischen Perspektive die gebührende Ehre, indem sie sie auslachten, und Bülow schreibt sehr vergnügt an Brahms: »Soll ich Dir gratulieren zum Avancement? Die neueste Bayreuther Enzyklika ernennt Dich zum Euripides (Äschylus Bach – Sophokles Beethoven), prophezeit ferner: von Beethoven würden nur zwei Symphonien bleiben, von Dir aber neun. Möge der zweite Teil zur Wahrheit werden! Quod Dii bene vertant!« (a.a.O. VII 196).


19 Brahms will damit sagen, daß er nicht an seine Zukunft geglaubt habe, daß seine Bedenken ihn am Heiraten verhindert hätten, und daß es für ihn keinen Sinn habe, Kapitalien zu sammeln. Weder der Zweck, noch das Mittel zum Zweck machten ihm noch Vergnügen.


20 Das Aachener Musikfest (das 59. niederrheinische), bei welchem Bülow das erste Klavierkonzert von Brahms spielte, stand unter Wüllners Leitung und entschädigte mit seinem außerordentlichen Erfolge den ausgezeichneten Musiker für allerlei Kränkungen, die er in seinem Dresdener Amt erleiden mußte. »Büllow war«, wie Wüllner berichtete, »vortrefflich disponiert, spielte mit großer Ruhe, mit großer Wärme und mit wunderschönem Ton. Erfolg war ein ungewöhnlich großer, nach jedem Satze; – am Schluß mit Pauken und Trompeten.«


21 Am Schlusse des verkehrt benutzten Briefbogens befindet sich eine Vignette mit Bülows Bild.


22 Frau Marie Brüll behauptet, sie hätten von da an französisch miteinander geschwiegen.


23 I 103.


24 III 257.


25 II 366.


26 Briefwechsel I 200.


27 Ophüls hatte kurz vorher einen von ihm verfaßten Zeitungsaufsatz über das Parzenlied Brahms zu lesen gegeben, in dem er hauptsächlich eine Erklärung dafür versuchte, wie der poetische Inhalt der fünften Gedichtstrophe (»Es wenden die Herrscher ihr segnendes Auge von ganzen Geschlechtern«) mit der so sanften und zarten Chorkantilene in D-dur zu vereinbaren sei, weil ihn, wie er sagte, sämtliche in den ihm bekannten Abhandlungen versuchten Deutungen dieses offenbaren Zwiespaltes zwischen Dichtung und Komposition nicht befriedigen konnten.


28 Viktor Hehns »Italien« S. 162.


29 Simrock hatte die Lieder op. 84....86 das Stück mit 150 Mk. berechnet, nach dem früheren Satz, weil er glaubte, Brahms habe sich geirrt, als er 150 Taler verlangte. Nun ließ er sich nicht lumpen, sondern honorierte Trio und Quartett mit je 3000, den Parzengesang mit 9060 Mk. – Auch Ferdinand Hiller hatte, fast gleichzeitig mit Brahms, das Parzenlied komponiert und bei Breitkopf & Härtel erscheinen lassen.


30 Vgl. III 230 f., 262. – Nach Wagners Tode ging die Villa in den Besitz des Professor Seegen über, auch eines leidenschaftlichen Brahms-Verehrers, und ist heute Eigentum seiner mit Billroth befreundet gewesenen Gattin Hermine.


31 Dr. Mayer und Brahms trafen einander in Wien auch bei Moriz Käßmeyer, dem liebenswürdigen und seinen Musikhumoristen, der sich alle vierzehn Tage mit Mayer, Zöllner und Gänsbacher im Quartettspiel unterhielt. Käßmeyer schrieb jedes Jahr ein Heft kontrapunktisch bearbeiteter österreichischer, böhmischer und ungarischer Lieder und Ländler – eine höhere Art Heurigenmusik. Mehr als 35 Hefte sind davon bei Schlesinger verlegt. Der melodieführenden Stimme war immer der Text des Liedes untergedruckt. Brahms, der mit Vergnügen zuhörte, rief einmal aus: »Es ist doch merkwürdig, daß Ihr Musiker viel ausdrucksvoller spielt, wenn Euch ein Dichter souffliert!« (Nach Zöllners Bericht.)


32 Nach persönlichen Mitteilungen Moriz von Kaiserfelds und der Frau Ernestine Mayer.


33 An Georg Henschel, der sich verheiratet hatte und nach Amerika ausgewandert war, um in Boston die Direktion der dortigen großen Symphoniekonzerte zu übernehmen, schrieb Brahms noch von Ischl aus: »Für Ihr freundliches Drängen um Manuskript muß ich danken. Aber auch hier: es wäre das erstemal, daß ich ein Manuskript aus den Händen gäbe! Ein neues Stück höre ich mir gern einigemal an. Scheint es mir dann so beiläufig des Druckens wert – so kann ich es dieser Operation nicht lange entziehn. Sonst aber gebe ich es überhaupt nicht in andere Hände. Wir können und wollen aber leicht dafür sorgen, daß Sie solche Novität eher als andre drüben haben!«


34 Mandyczewski. Er leitete damals und noch viele Jahre hindurch den häuslichen Chorverein, den Frau Berta Faber im Andenken an alte Hamburger Zeiten um sich versammelte.


35 Litzmann, a.a.O. 440 f.


36 Brahms sprach sich öfter darüber aus, wie schmerzlich es ihn berührte, daß sich Frau Schumann ihm mehr und mehr entfremdete, machte aber sie selbst am wenigsten dafür verantwortlich. »Ja, wenn man mit ihr allein zu tun hätte!« rief er aus. »Aber die Weiber um sie herum!«


37 Antonie Kufferath, die Tochter des Brüsseler Konservatoriumsdirektors Ferdinand Kufferath und eine Schülerin Stockhausens, musizierte damals und später viel mit Brahms. »Schöner als von den beiden konnte man gewiß seine Lieder nicht hören«, sagt v. d. Leyen. Sie lebt heute als die Gattin Edward Speyers in England.


38 »Hermine Spies, ein Gedenkbuch für ihre Freunde«. 3. Aufl. S. 77.


39 Marie v. Bülow, a.a.O. 207.


40 Frau v. Bülow glaubte diese Darstellung eines von Brahms selbst verbürgten Vorganges öffentlich entkräften zu müssen. Zwar bleiben die Tatsachen unangefochten, aber ein geringfügiges Versehen wird dazu benützt, die Ehrlichkeit des Berichts in Zweifel zu ziehen. Brahms, der auf den Vorfall erst einige Jahre später zu sprechen kam, hat, wie es scheint, zwei Erlebnisse, die er 1883 bei verschiedenen Meininger Besuchen mit Bülow hatte, in eins zusammengezogen.


41 Hanslick: »Konzerte, Komponisten und Virtuosen« 372 ff.


42 Brahms hielt große Stücke auf den Dirigenten des Hamburger Cäcilienvereins. Im Herbst 1886 schrieb er an Wüllner: »Als Gesanglehrer kann ich Dir nicht wohl über Spengel berichten, da ich nichts davon verstehe. Es muß aber wohl sein Fach sein, da er einen Gesangverein in Hamburg ganz vortrefflich leitet; es ist der einzige Verein dort, der wirklich ausgezeichnet, auch a cappella singt – was bei den Hanseaten nicht wenig heißen will. Sp. ist zudem ein seiner vortrefflicher Mensch und Musiker, ganz nach Deinem Sinn; er wird Dir höchst sympathisch sein.«


43 »Unser Programm«, berichtet Julius Spengel, »begann mit dem B-dur-Klavierkonzert, von Brahms vorgetragen. Ich erinnere mich nicht, ein so völliges Versinken in Musik bei öffentlichem Musizieren jemals erlebt zu haben, wie bei diesem Zusammenwirken mit dem glühenden Meister. Der Chor sang noch die Motette, Warum ist das Licht gegeben' und eine Reihe von Volksliedern und Chorgesängen. Dazwischen spielte Br. die Rhapsodien op. 79 und als Zugabe einen ungarischen Tanz. Am Schluß des Programms stand die Akademische Ouvertüre, von Br. dirigiert. Nach dem Konzert vereinigten sich die männlichen Mitglieder des Chors und sämtliche angesehene Musiker Hamburgs mit uns im Hamburger Hof. Der Verleger Simrock war dabei und mit ihm als einzige Dame seine Tochter. Es wurden im Ausklang einer rechten Musikfeststimmung viele Trinksprüche ausgebracht und Verbrüderungen geschlossen. Der Organist Armbrust sprach die Hoffnung aus, den Komponisten so vieler schöner Liebeslieder im nächsten Jahr an der Seite einer holden Gattin wiederzusehen, worauf Br. mit den Schlußworten des Parzenliedes entgegnete: ›Denkt Kinder und Enkel! – und schüttelt das Haupt.‹« (Heinrich Reimann: »Joh. Brahms« S. 111). In Hamburg sah Brahms seinen alten Freund Karl Grädener zum letzten Male, der bald darauf, am 10. Juni, starb. An den ältesten Sohn des Verstorbenen schrieb Brahms am 12. Juni von Wiesbaden: »Ihre Nachricht ergreift mich ganz ungemein, und ich bin hin und her gerissen von wie vielen ernsten Gedanken und wehmütig schönen Erinnerungen. Ein Gedanke nur hat weitaus die Oberhand, es ist der an Ihre mir so überaus teure und hochverehrte Mutter. Sehr dankbar wäre ich Ihnen, wenn ich erführe, wie sie den Schlag übersteht, wie die Liebe ihrer Kinder es ihr möglich macht. Was soll ich Ihnen sonst sagen? Sie wissen selbst, was alles mich jetzt bewegt und erfüllt; wieviel schöne Jugendzeit sich mir auftut, und was Ihr Vater darin bedeutet, was der gute, vortreffliche Mann und Freund und Kollege mir allezeit war. Ihre Geschwister werden bei Ihnen sein, recht von Herzen grüße ich sie alle. Eine wahre Wohltat aber würden Sie mir erzeigen durch eine noch so kurze Nachricht über das Befinden, den Zustand Ihrer Frau Mutter.«


44 Briefwechsel II 5.


45 Noch mehr als über die eigenen freute sich Brahms über den Erfolg der jungen, von ihm empfohlenen Geigerin Marie Soldat; August Wilhelmj hatte seine Mitwirkung bei dem Kölnischen Musikfeste in letzter Stunde abgesagt, und sie war, auf Veranlassung ihres Pörtschacher Protektors, für jenen eingesprungen.


46 op. 93a enthält einen Teil der im April 1883 komponierten Gesänge. – In demselben Briefe findet sich der bedeutsame Passus: »Nachdem ich den ganzen Sommer mit steigender Betrübnis über Wien und Österreich gelesen, habe ich jetzt die größte Freude über Euren Brief an Rektor Maaßen.« Denselben Gegenstand berührte Brahms schon Ende Juni in einem Schreiben an Hanslick: »Ich muß mein Hurra jemandem zurufen, mein fröhliches, kräftiges Hurra den Professoren für ihren Brief an Rektor M. Man muß soviel Österreicher sein wie ich, die Österreicher so lieben wie ich, um jeden Tag beim Zeitungslesen traurig zu sein, dann aber auch einmal, wie jetzt, so ernstlich erfreut zu werden!« In einer Debatte des niederösterreichischen Landtages, dem Professor Maaßen als Rektor der Universität angehörte, war dieser für eine in Wien zu errichtende tschechische Volksschule eingetreten, wogegen das Professorenkollegium Verwahrung einlegte. Der freisinnige Deutsche in Brahms empörte sich gegen die in Österreich immer weiter um sich greifende tschechisch-klerikale Interessenpolitik.


47 Das war keine schöne Redensart, sondern Brahms' aufrichtige Meinung. Dr. Heinrich Groeber in Wien hatte Brahms einige seiner köstlichen Musikerkarikaturen geschenkt, die bei ihren geringen Übertreibungen des Charakteristischen Anspruch auf Porträtähnlichkeit erheben dürfen. Groebers Udel- und Bruckner-Bilder gefielen ihm über die Maßen, und er schüttelte sich vor Lachen, wenn er sie ansah und anderen zeigte. Zum Dank schenkte er dem Zeichner, der zugleich ein tüchtiger Violinist war, ein Exemplar seiner G-dur-Sonate op. 78 und schrieb auf die Rückseite des Titelblattes:


»Komm, hebe dich zu höhern Sphären!

Wenn er Dich ahnet, folgt er nach.«


Darunter in Noten, links, die ersten vier Takte der Mozartschen Violinsonate in G-dur, rechts, den Anfang der Beethovenschen G-dur, der sogenannten Frühlingssonate op. 96, mit der Widmung: »Herrn Dr. Heinrich Groeber als freundliche Erinnerung. Joh. Brahms.« – Die Worte der Himmelskönigin aus Fausts Verklärung gelten dem Komponisten wie dem Geiger, die Muster Mozarts und Beethovens sind die höheren Sphären, und wer sie in der drittenG-dur-Sonate (der Brahmsschen) ahnt, folgt ihnen nach.


48 I 98; II 445.


49 Vgl. III. – Zur Unterstützung unserer Ansicht dient ein Avis, das Brahms seinem Verleger gab, um seine Neugierde zu erregen, wenn er ihm am 15. September von Wiesbaden aus schrieb: »Gott soll's Ihnen lohnen, und wenn ich etwa noch einmal Notenblätter aus meiner Jugendzeit finde, so will ich sie Ihnen auch schicken ... Es ist eigentlich, trotz Rhein und Rüdesheim, nicht recht, hier so den Sommer zu versitzen. Aus Inliegendem können Sie sehen, wie ich meine Zeit hinbringen – – soll!...« Das »Inliegende« war eine Zeitungsnachricht, daß Brahms eine Symphonie komponiert habe; die »Notenblätter aus der Jugendzeit« deren beziehungsvolle Bestätigung.

Quelle:
Kalbeck, Max: Johannes Brahms. Band 3, 2. Auflage, Berlin: Deutsche Brahms-Gesellschaft, 1913, S. 327-401.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Droste-Hülshoff, Annette von

Ledwina

Ledwina

Im Alter von 13 Jahren begann Annette von Droste-Hülshoff die Arbeit an dieser zarten, sinnlichen Novelle. Mit 28 legt sie sie zur Seite und lässt die Geschichte um Krankheit, Versehrung und Sterblichkeit unvollendet.

48 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon