X.

Abbé Lamennais.

(Paris 1834–1835.)

»Wie alles sich zum Ganzen webt,

Eins in dem andern wirkt und lebt.«


Sein kunstphilosophischer und religiöser Einfluß auf Liszt. Ein literarisches Fragment. Vorblicke zukünftiger Kirchenmusik. Ideale. Volksbildung. Priesterhaß. Ballanche.


Lamennais – das war die Persönlichkeit, welche in der merkwürdigen Periode der individuellen Entwickelung Liszt's den Ring der Geister schloß, die auf die Richtung und Erweiterung seiner künstlerischen und humanen Ideale eingewirkt hatten. Durch die bis jetzt Genannten – alle Pfadfinder neuer Kunstbahnen – hatte seine künstlerische Anschauung Punkte ergriffen, an denen dieselbe zu bestimmten Ideen und Principien vordrang; aber diese Anregungen bedurften noch sowohl der Klärung als der inneren Zusammenfassung. Unvermittelt lagen sie neben einander; auch hatten sie die religiösen Saiten seines Innern unberührt gelassen. Aber um so mehr hatte letztere der Geist der Zeit berührt und den Jüngling in Widerspruch mit seiner früheren Gläubigkeit gesetzt. Auch hier wollten sich Umwälzungen vollziehen.

Der Geist der Zeit war auf die Spitze getrieben. Im bunten Spiel hatte er alle Mächte geistigen Lebens – Religion, Phantasie, Gefühl, Gedanke, Wollen – untereinander geschüttelt und schien in diesem Moment die Erinnerung an die Formel zur Herstellung der Ordnung verloren zu haben. Die französische Romantik stand in ihrem Zenith blinder Entfesselung. Licht und Dunkel, Wahrheit und Irrthum hielten berauscht sich umfaßt und der Sieg der Phantasie, der Willkür, des Zweifels und Atheismus über Vernunft, Gesetzmäßigkeit und Glauben feierte seine poetischen Orgien in[234] den Werken romantischer Poesie und Kunst. Ein unbeschreiblicher Taumel von Hoffnung, Sehnsucht und stolzem Ichgefühl beherrschte die Romantiker und, phantasietrunken wie diese waren, hatte es den Anschein, als wolle auch Liszt sich verlieren an die falschen, wie echten Ideale, welche die aller Schranken ledige Phantasie unter einander gemengt hatte. In seine Gläubigkeit waren Zweifel getreten, die sich nicht mehr durch Beten und religiöse Exercitien beschwichtigen ließen. Eben so wenig hatte er der Glaubensmüdigkeit wehren können, mit welcher die Atmosphäre sich füllte und als deren Quelle Louis Blanc Muthlosigkeit und Atheismus nannte,1 die aber ebenso sehr ein Ausruhen und ein Erschöpftsein war von den Gefühlsexcessen und Delirien, welche im Wesen der Romantik lagen. Aber unter der Decke des Zweifels und der Müdigkeit des Glaubens brannte der Durst nach wahrer Erkenntnis und nach Enthüllung der Probleme, die in dem Extrem der Gefühle und der Phantasie ihm entgegen traten und die seines Geistes Unsicherheit ihm nicht lösen konnte. Dieser Durst wendete seinen Blick fragend zu den Geistern hin, die »genossen von der siedenden Quelle, die am Fuße der Klippen sprudelt, auf denen die Seele ihren Horst gebaut«, nicht zu jenen, die »in schweigsamer Würde das Gute üben, ohne irgend eine Begeisterung für das Schöne empfunden zu haben« – Worte, mit denen Liszt in seinem Buch über Chopin die Fackelträger des Geistes bezeichnet, welche der »zweifelreichen und doch mit leidenschaftlicher Erregung ihre Muse auf neue Ideale und Probleme hinspannenden Jugend« vorleuchten, einer Jugend, aus deren Typus unverkennbar Liszt's eigene Züge und seine eigene Erfahrung hervorsehen; ebenso wie er seinen eigenen damaligen inneren Zustand ausdrückt, indem er fortfährt diese jugendlichen Geister weiter zu beschreiben: »Erregung und Begeisterung sind ihnen unentbehrlich. Durch Bilder lassen sie sich bestimmen, durch Metaphore überzeugen. Thränen liefern ihnen Beweise und ermüdenden Argumenten ziehen sie die Konsequenzen begeisterten Hingerissenseins vor. Mit dürstender Wißbegierde gehen sie Rath suchend zu Dichtern und Künstlern, deren Bilder sie bewegt, deren Metaphora sie hingerissen und deren Gedankenschwung sie begeistert. Von ihnen begehren sie die Räthsellösung solchen Schwunges und – solcher Begeisterung.«[235]

So trat Liszt Räthsellösung begehrend vor Abbé Lamennais. Und dieser hat, pochend an das tiefreligiöse, aber theils noch unfreie theils durch die herrschende Skeptik verwirrte Gefühl des Jünglings, ihm halt zugerufen und seine Besonnenheit herausgefordert. Er führte ihn zum Glauben zurück und befreite ihn zugleich vom blinden Glauben. Er zeigte auf die höhere Gesetzmäßigkeit hin, welche alle Dinge verbindet, und gab durch diesen Hinweis auf die göttliche Ordnung und Wahrheit seinem romantischen Drang ein Gegengewicht und seinen in phantastische Weltlichkeit eingetauchten Kunstanschauungen das Princip, nach welchem sich diese auflösen in den Gedanken göttlicher Weltordnung und hiermit zu geklärten Idealen vordringen. Religion und Gläubigkeit so in lebendigen Fluß gebracht mit den neuen Kunstideen bewahrten Liszt als Künstler in seinen Jahren des Sturms und Dranges vor der inneren Haltlosigkeit, der so manches der damaligen Talente zum Opfer fiel – und hier liegt der tiefgehende Einfluß des bretagnischen Abbés.

Damals lag die Zeit, in der Abbé Lamennais mit seinem Sensation erregenden Buch: »Essai sur l'indifférence en matière de religion« den Katholicismus und das restaurirte Königthum vertheidigte, in der die Geistesgeschichte Frankreichs ihm im Princip einen Platz neben dem Staatsmann Joseph de Maistre, dem Streiter für alte Ordnung und Verfassung, anwies, in der er als Wiederhersteller des Autoritätsglaubens wirkte und der Enthusiasmus der dankbaren kirchlich Gesinnten ihm den Beinamen»Bossuet moderne« gegeben, bereits hinter ihm. Er hatte im »Avénir« (1831–1832) sich bereits in Widerspruch mit seiner Vergangenheit gestellt, er hatte in dessen Spalten seine demokratische Kraft erprobt und war als geistvoller Rhetor für christlich-brüderliche Freiheit, die losgelöst von Fürstenmacht unter dem Banner der Kirche sich entfalte, aufgetreten; es war Roms tadelnde Stimme gegen diese öffentliche Besprechung ihrer innersten, nicht für Weltkinder bestimmten Fragen ihm geworden – und er, noch als guter Sohn der Kirche, war vor dem heiligen Stuhl gestanden und hatte seine Unterwerfung unter dessen geistliche Macht mit Vorbehalt der Freiheit der Meinung in politischen Dingen bekannt, ohne das kirchliche Gericht weder von dem »Avénir« noch von sich selbst abwenden zu können. Lamennais war zum zweiten Mal in seinem Leben, jedoch in anderen Kreisen als den früheren, der[236] Gegenstand der Bewunderung und allgemeinen Besprechung. Diese erreichten ihren Höhegrad, als sein Vertheidigungsbuch gegen die Kirche, seine »Paroles d'un croyant«, der Öffentlichkeit übergeben waren, das Buch, das oft ein »demokratisches Evangelienbuch« genannt einen Feuerbrand in die katholische Kirche warf und allen Mächten der Erde den Krieg erklärte, seinen Verfasser aber seitens der Kirche vollständig in die Reihe der Geächteten und »Abtrünnigen« stellte – der Moment, welcher den Wendepunkt in Lamennais' katholisch-politischer Richtung bezeichnet und ihn mit vollster Überzeugung zum Prediger des Fürsten- und des Priesterhasses umschuf, sowie ihn immer mehr theilnehmen ließ an den demagogischen Bestrebungen der Presse, welche die »christliche Bruderliebe« betonend gegen die »Bedrückung der Armen durch die Reichen« auftrat.

In dieser Zeit ohngefähr war es, daß der jugendliche Liszt hingerissen von der blendenden Beredtsamkeit, von den humanen Ideen, sowie von der Kühnheit des priesterlichen Demagogen, aber auch getrieben von inneren Wirren sich diesem näherte. Lamennais gehörte ihm gegenüber nicht zu den »kopfschüttelnden Weisen«, denen Liszt damals vielfach begegnete. Ihm entgingen nicht seine großen Eigenschaften und Anlagen, die zum Durchbruch drängend unter der Hülle eines höchst excentrischen Äußeren pochten. Mit Interesse und Sympathie wandte er sich dem Jüngling zu, der ihm seinerseits Begeisterung und ein warmes volles Vertrauen entgegen trug. Sein Einfluß auf ihn war sehr groß. Er wurde ihm eine Autorität, zu der Liszt in letzter Instanz – selbst in persönlichen Angelegenheiten – sich mehrmals flüchtete und die er voll Dankbarkeit und Verehrung seinen »väterlichen Freund und Lehrer« nannte.

Geistesverwandtschaft verband die beiden. Die wahre Religiosität Lamennais', seine demokratischen Grundsätze, die er im Wissen wie im Leben geltend zu machen suchte, seine kirchlich-freie und humane Weltanschauung, die ihn kühn und stark mit der Kirche und einer gloriosen Vergangenheit brechen ließ, das tiefe Bedürfnis diese Weltanschauung mit den Lehren der christlichen Religion nicht nur in Beziehung, sondern auch in Einheit zu setzen – das waren Geistesklänge und Äußerungen, welche in des Jünglings Seele verwandt wiederhallten und jene christlich-idealen Kunstanschauungen in ihm vollends reiften, welche bereits geweckt von[237] den Saint-Simonistischen Lehren seinem gesammten künstlerischen Leben und Schaffen die Grundlage geben sollten.

Das letzte große Werk Lamennais', seine »Esquisse d'une philosophie« (publicirt 1840), welches den so eben angedeuteten Bestrebungen dieses Gelehrten die philosophische Fassung gab, war in jenen Jahren, wo die innigen Beziehungen zwischen ihm und Liszt sich knüpften, noch nicht beendet, aber sie lebten bereits im Geiste ihres Autoren und bildeten häufig den Inhalt seiner Gespräche mit dem Jüngling. In diesem Werk ist der Ideengang zu suchen, welcher die Kunstanschauungen des letzteren zu einem Ganzen verband und ihre Richtung als eine christlich-ideale im Gegensatz zu jener Richtung, welche weltlich-frei auftritt, erscheinen läßt. Der dritte Theil der »Esquisse etc.«, welcher die Grundzüge einer christlichen Metaphysik der Kunst zu geben versucht, ist ein Ausdruck jener Richtung, welche hier bei Lamennais Himmel und Erde, Christenthum und Welt, moderne Philosophie und christliche Dogmatik zu versöhnen trachtet. Diese Richtung wurde zum Hintergrund der sich damals in Liszt befestigenden Kunstanschauungen. Eine kurze Zusammenstellung einiger einen Ein- und Überblick über sie gewährenden Excerpte aus Lamennais' Werk dürfte darum hier am Platz sein.


»Der Begriff von Kunst«, sagt Lamennais in seinem Allgemeiner Überblick der Kunst' überschriebenen Kapitel2, »schließt ursprünglich den des Schaffens mit ein; denn Schaffen heißt eine präexistirende Idee nach Außen manifestiren, sie durch eine sinnliche Form zum Ausdruck bringen. Gott, den Plato in seiner so poetisch tiefen Sprache den ewigen Geometer genannt, ist auch der höchste Künstler: sein Werk ist die Welt.

In der That, was ist die Welt anders als die endliche Manifestation des unendlichen Wesens, die äußerliche und sinnliche Verwirklichung der körperlosen, in ihrer Einheit verschieden bestehenden Typen? Da also Gott selbst das Urbild ist, das er nach außen reproducirt, indem er es schafft, so drückt sich der göttliche Künstler in seinem eigenen Werke aus, inkarnirt sich in ihm und offenbart sich durch dasselbe. Sein Werk, durch welches demnach das unendliche Wesen oder das unendlich Wahre unter den Bedingungen[238] der für die Schöpfung wesentlichen Grenze zum Ausdruck kommt, drückt das unendlich Schöne aus, aber gewissermaßen refraktirt, gebrochen, zerstreut durch das dichte Medium der Welt der Erscheinungen, so wie der Sonnenstrahl in dem Prisma gebrochen und zerlegt wird.

Hier erscheint nun unter anderm Gesichtspunkt die enge Verkettung verschiedener Ordnungen der unserer Beobachtung zugänglichen Thatsachen und die folgereiche Einfachheit der ersten Ursachen, die sich in jeder derselben specificiren. Jede zufällige oder körperliche Form repräsentirt ihren idealen Typus und jeder ideale Typus, da er zur Einheit der göttlichen Form gehört, ist ein partieller Abglanz derselben. Wenn also alle in Gott gegenwärtig bestehenden Typen verwirklicht wären, so würde die Welt der vollkommene Aus druck der vollkommenen oder unendlichen Welt sein. Da aber das Unendliche mit der Essenz der Welt im Widerspruch steht, so folgt, daß die Unendlichkeit das ideale Ziel ist, dem sie sich unbestimmt nähert, ohne dasselbe je zu erreichen, daß somit das Werk Gottes ewig fortschreitend ist und die göttliche Kunst durch die immer zunehmende Mannichfaltigkeit der harmonisch unter einander verbundenen endlosen Formen die Einheit der unendlichen Form oder das absolut Schöne, das Urschöne unablässig zu reproduciren strebt.

Die Gesetze der Kunst sind also weiter nichts als die Gesetze der Schöpfung selbst, von einer andern Seite betrachtet, und dieses muß so sein, weil das Schöne, das eigentliche Objekt der Kunst, nur das mit dem Wesen selbst identische Wahre ist.

Das Gefühl des Schönen erwacht thatsächlich in uns bei dem Schauspiele der Welt, wenn wir durch Beschauung der Ideen mit der zufälligen Form ihre nothwendigen Typen verbinden und der Geist durch die materielle, dem physischen Auge sichtbare Hülle hindurch die unsichtbare Essenz entdeckt. Die Schöpfung erscheint dann in neuem Licht; sie wird belebt, vergeistigt, und eine bis dahin verschleierte Welt lebt und zuckt im Schoße der Erscheinungswelt. Aus jeder vorübergehenden Form, aus jedem flüchtigen Wesen leuchtet das ewige Urbild hervor und, wie Gott sich in den Ideen beschaut, die ihn nach allem, was er ist, seinen eigenen Blicken darlegen, so beschaut ihn der Mensch in eben diesen äußerlich verwirklichten Ideen. Unzertrennlich verbunden[239] mit seinem sie bestimmenden und beseelenden Inhalt, sind sie in ihm sein Wesen selbst, sein Wesen aber ist die untheilbare, unermeßliche Stätte, die er bewohnt und ausfüllt. Verkörpert außerhalb seiner durch die schaffende Macht werden sie die reellen Wesen, deren Gesammtheit das Universum bildet, und Gott – gegenwärtig in allem, was ist, weil alles von ihm sein Wesen empfängt und ein Ausfluß seiner unerschöpflichen, unveränderlichen Einheit ist – Gott bewohnt, durchdringt die Welt. Die Welt ist demnach, dem schönen Gedanken der Alten zufolge, wahrhaft der Tempel Gottes, das von geheimnisvollem Licht umhüllte Heiligthum, worin er sichtbar und verborgen thront.

Das göttliche Werk kennen, begreifen: hierin besteht die Wissenschaft; es unter materiellen oder sinnlichen Bedingungen reproduciren: das ist die Kunst. Die ganze Kunst läßt sich also in die Erbauung des Tempels, dem unvollkommenen und endlichen Bilde des unendlichen Urbildes der fortschreitenden Schöpfung, nämlich Gottes, zusammenfassen.« –


Die Welt ist Lamennais der Tempel Gottes, die Kunst das Medium, welches diesen Tempel im göttlichsten Glanze widerstrahlt und zugleich wieder hinüberführt und auflöst in das göttliche Wesen. Dieser Auffassung gemäß kann die Kunst – entgegen der Auffassung nur weltlicher Philosophen und Künstler – sich nicht Selbstzweck sein.3


»Keine Kunst stammt von sich selbst ab und keine besteht durch sich selbst, so zu sagen allein für sich. Die Kunst um der Kunst willen ist demnach eine Abgeschmacktheit. Ihr Zweck ist die Vervollkommnung der Wesen, deren Fortschritte sie äußert. Sie ist gleichsam der Punkt des Zusammentreffens ihrer physischen, ihrer intellektuellen und moralischen Bedürfnisse, und die Künste können in der That nach ihrer Beziehung zu diesen verschiedenen Bedürfnissen klassificirt werden. Aus dem Bedürfnis sich ein Obdach, mehr und mehr bequeme Wohnungen zu schaffen, aus dem Verlangen dieselben zu schmücken, aus dem Bedürfnis sich zu versammeln zur Vollziehung bürgerlicher und religiöser Akte ist die Baukunst, die Skulptur und Malerei mit ihren Anhängseln entstanden, die unter dem Einfluß mehrerer anderer der höhern Natur des Menschen innewohnenden Bedürfnisse sich entwickeln.[240] Eine Schwester der Poesie bewerkstelligt die Musik die Verbindung der sich direkt an die Sinne wendenden Künste mit denen, die dem Geist angehören; ihr gemeinsamer Gegenstand ist der: die Bedürfnisse der moralischen Ordnung zu befriedigen, die Anstrengungen der Menschheit zu unterstützen, damit sie ihre Bestimmung sie von der Erde empor zu heben und in ihr eine beständige Erregung nach oben anzuregen erreiche.«

»Die Kunst hat also nicht nur ihre Wurzel in den angebornen, radikalen, wesentlichen Kräften des Menschen, ist nicht nur ihre Übung, ihre Manifestation unter einem gewissen Modus, sondern sie lenkt auch, indem sie die Gesetze des Organismus mit dem der Liebe verbindet, dieselben zu dem gleichen Ziel der Vollendung des Wesens in dem, was seiner Natur Erhabenstes umfaßt – eine wundervolle Verkettung, die durch das, was in uns vorgeht, uns die Harmonie aller Ordnungen der Wesen, ihre wechselseitigen Beziehungen, ihre gemeinsame Tendenz und die Einheit der Schöpfung, das Bild und den Abglanz der Einheit Gottes selbst, begreiflich macht.«

»Aus diesen Beobachtungen folgt, daß die Kunst nicht willkürlich ist, daß sie nicht von den phantastischen Launen regellosen Denkens abhängt, daß man, da sie, wie die Wesen selbst, wesentliche nothwendige Bedingungen der Existenz und der Entwickelung hat, ohne sie zu zerstören, weder ihre auf immer unwandelbaren Grundlagen verändern noch ihre Gesetze stören kann. Da die letzteren aus der Vereinigung der Gesetze der physischen und intellektuellen Ordnung hervorgehen, so entspricht nach dieser Seite die Kunst der Fähigkeit, die man Einbildungskraft (Einheit bildende Kraft der realen mit der ideellen Welt) genannt hat, oder dem menschlichen Vermögen, die Idee mit einer sie ausdrückenden sinnlichen Form zu bekleiden, wodurch sie sich manifestirt zur Verkörperung ewiger Typen. Die Kunst ist für den Menschen, was in Gott die schaffende Kraft ist: daher das Wort Poesie, in der Fülle seiner Urbedeutung.«

»Das Schöne ist das unwandelbare Objekt der Kunst, aber der Geist erblickt es aus verschiedenen Gesichtspunkten; und dabei ist vorzüglich zu beachten, daß in dem Maß, wie der Begriff weiter wird und sich seinem Gegenstand, dem unendlich Wahren, nähert, die Kunst ebenfalls großartiger wird und sich ihrem Ziele, dem gleicherweise unendlich Schönen, nähert. Daraus ersieht man,[241] daß die Kunst wie die Wissenschaft unendlich fortschreitend ist, daß es abgeschmackt ist anzunehmen, daß es für sie eine ewig unübersteigliche letzte Schranke gebe. Die Täuschung in dieser Hinsicht kommt daher, daß man die Kunst, anstatt sie in ihren allgemeinen Beziehungen zum Wahren, von dem das Schöne ein Ausfluß ist, zu betrachten, in ihren Beziehungen zu einem besonderen Begriff des Wahren betrachtet. Wenn nun nach dieser Auffassung das Schöne so vollkommen als möglich einmal in künstlerischer Form producirt ist, so ist es nur folgerichtig anzunehmen, daß die Kunst, wenn sie den endlichen, dieser Auffassung des Wahren entsprechenden Typus des Schönen erschöpft hat und nicht weiter zu gehen vermag, fortan nur entweder in demselben Kreise sich drehen oder in Verfall und Verderbnis gerathen kann. Um vorwärts zu schreiten, muß sie die bereits durchlaufene Bahn verlassen und durch einen vollkommneren Typus des Wahren und des Guten einen vollkommneren Typus des Schönen entdecken; und da die Auffassung immer wächst und immer mehr sich entwickelt, so wächst und entwickelt sich die Kunst gleichermaßen, ohne daß es möglich wäre ihrem Fortschritt irgend eine Grenze anzuweisen.«4

»Die Kunst drückt demnach Gott aus: ihre Werke sind sein unendlich mannichfacher Widerschein.«

»Da aber das Wahre und das Gute, weil sie wesentlich identisch sind, nur ein und dasselbe Gesetz haben, so folgt, daß dieses einige Gesetz zugleich das Gesetz des Wahren, des Guten und des Schönen ist, und endlich, daß die Grundgesetze der Kunst mit den sittlichen und geistigen Gesetzen in ein und dieselbe Einheit zusammenfließen.«


Liszt's Kunstanschauungen, die zerstreut da und dort ihre Anhaltspunkte gefunden, gewannen durch diesen Ideengang Lamennais' an Klarheit, Festigung und Einheit. Und die einzelnen Momente, welche durch die Saint-Simonisten und Romantiker sich in ihm zusammen getragen, erschienen mehr einer Kette gleich, wo Perle und Perle sich aneinander reihen zu einem Ganzen.[242] Die religiösen, die weltlichen und künstlerischen Momente seiner geistigen Anlagen fanden eine Einigung insbesondere durch die christliche Richtung der Philosophie Lamennais', eine Einigung, welche sich bei Liszt auf künstlerischer Basis zu einer freien christlichen Idealität gestaltete. Stürzten auch noch die Wellen jugendlichen Ungestüms und Sturmes über die Einheit, aus welcher diese Idealität hervorwuchs, so konnte sie doch nur verdeckt, aber in ihrer geheimen Arbeit nicht gestört werden.

Ein glühender Glaube an die Aufgaben und die Mission der Tonkunst loderte in ihm auf und brach in heißen Lohen aus ihm hervor. In dem Drang sein eigenes Wollen sich zur Klarheit zu bringen konnte dem jungen Musiker nur das Wort dienen. Er griff zur Feder. Wie ein Lavastrom entstiegen Gedanken und Gefühle seinem Innern – aber auch alles gestaltungs- und ordnungslos wie ein solcher. Dazwischen tauchten strahlende und düstere, der Vergangenheit und Gegenwart angehörende, von dem gebrochenen Geist der Zeit bewegte Bilder hervor, aus denen eine heiße Sehnsucht nach noch ungestalteten Zielen sprach; und dazwischen leuchteten Ahnungen auf über Inhalt und Gestalt einer noch ungelösten heiligen Musik – Ahnungen des Genies über sein eigenes künftiges Wirken.

Ein Fragment eines Aufsatzes, welches von damals erhalten geblieben, zeichnet diesen Zustand, in dem sich Liszt befand. Er hatte ihn für die eben ins Leben getretene (1834) Gazette musicale de Paris geschrieben, diese aber hatte ihn, wohl aus Gründen einer ihm anhängenden zu großen, gegen die Censur verstoßenden Redefreiheit, vielleicht auch aus Gründen ihm mangelnder Reife, nicht gedruckt. Ein Jahr später erst brachte sie ein Bruchstück des Aufsatzes in Verbindung mit andern Aufsätzen seiner Feder. Mag auch im ersten Moment der Redepomp, der übrigens nicht nur dem jugendlichen stürmischen Neuling auf dem Gebiet der Feder, sondern so ziemlich sämmtlichen an der Spitze der französischen Zeitbewegung stehenden Geistern eigenthümlich war und ihrem Stil ein deklamatorisches Gepräge gab, frappiren, so trägt gerade er dazu bei das innere Gähren und Brennen eines den geistigen Höhen zugewandten jugendlichen Genies zu bezeichnen. Bei diesem Fragment tritt jedoch nicht nur das schon vorhin angedeutete sich auf eine zukünftige Kirchenmusik beziehende Moment der Ahnung[243] hervor, sondern noch ein anderes spricht sich entschieden aus und zeigt, wie die von den Saint-Simonisten empfangenen Eindrücke über die menschenveredelnde Aufgabe der Kunst einer praktischen Lösung zustrebten und sich mit den humanbildenden Ideen der Zeit überhaupt verbanden.

Um diesen Punkt des Liszt'schen Fragments voll zu verstehen, muß man sich ins Gedächtnis zurückrufen, daß gerade in jenen Jahren getrieben von den demokratischen Elementen der Julirevolution nicht nur die höheren Bildungsanstalten Frankreichs im Begriff einer Neuorganisation standen. Die Bestrebungen für Volksbildung hatten auf der Tages- und Zeitbill ebenfalls ihren Platz gefunden, ein Paragraph, um den sich mit bald reiferem, bald unreiferem Enthusiasmus die Wünsche und Vorschläge der fortschreitenden Demokratie gruppirten. Namentlich, als der große Staatsmann und Gelehrte Guizot am Ruder des öffentlichen Unterrichtswesens als Minister stand (von 1832 mit wenig Unterbrechungen bis 1837) und unterstützt von den deutschpreußischen Studien seines treuen Mitarbeiters Cousin mit redlichem Willen und kräftiger Hand das Unterrichtswesen in seiner vielfachen Verzweigung von der Dorfschule bis zur Akademie den Bedürfnissen der Zeit gemäß zu gestalten suchte und Guizot auf sein für die französische Kulturgeschichte merkwürdiges Rundschreiben, welches 93,300 Elementarlehrern die Bedeutung ihrer Pflichten und Rechte erklärt und an das Herz gelegt, von 13,850 Schulmeistern Belehrung gegen Belehrung zur Vermehrung5 des schätzbaren Materials seiner Archive erhalten hatte, – namentlich in dieser Zeit, mit den Straßengefechten und Aufwiegelungen der Arbeiter, mit den Deklamationen der Demagogen über »christliche Brüderlichkeit« und »Unterdrückung der Armen« im Hintergrund, hatten die Bestrebungen für Volksbildung einen großen Aufschwung genommen. Die Vertreter der Bildung waren voll Enthusiasmus für sie, und wer, mochte er Künstler, Gelehrter oder ein Mann einfacher Praxis sein, sich einen Funken heiligen Glaubens an den eigenen Beruf gewahrt und von den Interessen des Fortschrittes und den Humanitätsidealen der Zeit ergriffen war, suchte eifrig sein Scherflein auf ihren Altar niederzulegen. Nicht nur[244] theoretisch, sondern auch praktisch. Die Musiker blieben hiebei nicht zurück und mancher, opferfreudig und thatbereit, stellte sich in die Reihe derer, die thatsächlich Hand anlegten ans große Werk. Ein Beispiel hiefür ist Joseph Mainzer, ein unbemittelter in Paris lebender deutscher Musiker, der in den Vorstädten die armen Arbeiter unter großen Opfern zu Gesang verband und so auf ihre Veredlung einzuwirken suchte, während wieder andere Musiker – unter ihnen Liszt – sich zu Petitionen an die Regierung vereinten, um Gesang in die Volksschule einzuführen. Wie sehr aber diese Bestrebungen Einzelner, obwohl sie im ersten Moment nicht frei von dem Anschein philanthropischer Spielereien sind, der Ausdruck eines wahren Bedürfnisses der Zeit waren, hat inzwischen viele Belege gefunden. Die »Concerts populairs« für die Arbeiterklassen, wo man für einen halben Franc vortreffliche Orchester- und Vokalmusik hören kann, die »Société Orphéonique«, wo man das Volk singen lehrt, – diese und alle jene der Volksbildung gewidmeten Einrichtungen in Paris haben jenen Bestrebungen geantwortet. Letztere waren die Vorläufer derselben. In der Idee der Volkserziehung hatte sich eine der den humanen Zielen entgegenkommenden Aufgaben jener Tage zusammengefaßt. Sie gab selbst unmündigem, mehr idealem Wünschen als praktischem Erkennen angehörendem Vorgehen eine allgemeinere und höhere Bedeutung, als Ideen erlangen können, welche in dem isolirten Menschlichschönen allein liegen.

Solche Bestrebungen treten uns auch in Liszt's Fragment mit dem damaligen und inzwischen so vielfach variirten Schlagwort: »Fürs Volk!« entgegen. Dieses Fragment hier wiedergebend möchten wir die Aufmerksamkeit des Lesers besonders auf den bereits angedeuteten Passus über die Kirchenmusik lenken, zu welchem Zweck er mit gesperrter Schrift wiedergegeben ist. Das Fragment lautet:


»Dahin sind die Götter, dahin die Könige, aber Gott bleibt ewig und die Völker erstehen: verzweifeln wir darum nicht an der Kunst.

Nach einem von der Kammer der Abgeordneten genehmigten Gesetz soll die Musik wenigstens demnächst in den Schulen gelehrt werden. Wir beglückwünschen uns zu diesem Fortschritt und betrachten ihn als ein Unterpfand eines noch größeren, eines Fortschritts von wunderbarem, massenbezwingendem Einfluß.

[245] Wir wollen von einer Veredelung der Kirchenmusik sprechen.

Obwohl man unter dieses Wort gewöhnlich nur die während der gottesdienstlichen Ceremonien in der Kirche übliche Musik stellt, so gebrauche ich es hier in seiner umfassendsten Bedeutung.

Als der Gottesdienst noch die Bekenntnisse, die Bedürfnisse, die Sympathien der Völker mitunter ausdrückte und befriedigte, als Mann wie Weib noch in der Kirche einen Altar fanden, wo sie in die Kniee sinken, eine Kanzel, wo sie sich geistige Nahrung holen konnten, und er noch dazu ein Schauspiel war, welches ihre Sinne erfrischte und ihr Herz zu heiliger Verzückung erhob – da brauchte die Kirchenmusik sich nur in ihren geheimnisvollen Kreis zurück zu ziehen und ihre Befriedigung darin zu suchen, der Pracht katholischer Liturgien als Begleiterin zu dienen.

Heutigentags, wo der Altar erbebt und wankt, heutigentags, wo Kanzel und religiöse Ceremonien dem Spötter und Zweifler zum Stoff dienen, muß die Kunst das Innere des Tempels verlassen und sich ausbreitend in der Außenwelt den Schauplatz für ihre großartigen Kundgebungen suchen.

Wie sonst, ja mehr als sonst muß die Musik Volk und Gott als ihre Lebensquelle erkennen, muß sie von einem zum andern eilen, den Menschen veredeln, trösten, läutern und die Gottheit segnen und preisen.

Um dieses zu erreichen, ist die Erschaffung einer neuen Musik unumgänglich. Diese Musik, die wir aus Ermangelung einer andern Bezeichnung die humanistische (humanitaire) taufen möchten, sei weihevoll, stark und wirksam, sie vereinige in kolossalen Verhältnissen Theater und Kirche, sie sei zugleich dramatisch und heilig, prachtentfaltend und einfach, feierlich und ernst, feurig und ungezügelt, stürmisch und ruhevoll, klar und innig.

Die Marseillaise, die uns mehr als alle sagenhaften Erzählungen der Hindus, Chinesen und Griechen die Macht der Musik bewiesen, die Marseillaise und die schönen Freiheitsgesänge sind die furchtbar prächtigen Vorläufer dieser Musik.

Ja, verbannen wir jeden Zweifel: bald hören wir in Feldern, Wäldern, Dörfern, Vorstädten, in den Arbeitshallen und in den Städten, nationale, sittliche, politische und religiöse Lieder, Weisen und Hymnen erschallen, die für das Volk gedichtet, dem Volke[246] gelehrt und vom Volke gesungen werden, ja gesungen werden von Arbeitern, Tagelöhnern, Handwerkern, von Burschen und Mädchen, von Männern und Frauen des Volks!

Alle großen Künstler, Dichter und Musiker werden ihren Beitrag zu diesem volksthümlichen, sich ewig verjüngenden Harmonieschatz spenden. Der Staat wird öffentliche Belohnungen für solche aussetzen, die dreimal wie wir bei den Generalversammlungen waren, und alle Klassen werden sich endlich verschmelzen in Einem religiösen großartigen und erhabenen Gemeingefühl.

Dieses wird das fiat lux der Kunst sein!

So erscheine denn, du herrliche Zeit, wo sich die Kunst in jeder ihrer Erscheinungsformen entfaltet und vollendet, wo sie sich zur höchsten Vollkommenheit emporschwingt und als Bruderband die Menschheit zu entzückenden Wundern vereint. Erscheine, o Zeit, wo die Offenbarung dem Künstler nicht mehr das bittere und flüchtige Wasser ist, welches er kaum zu finden vermag im unfruchtbaren Sand, den er durchwühlt, komme, o Zeit, wo sie strömen wird gleich einem unerschöpflichen, lebenspendenden Born! Komme, o Stunde der Erlösung, wo Dichter und Tonkünstler das ›Publikum‹ vergessen und nur Einen Wahlspruch kennen: Volk und Gott?«


Das schrieb Liszt im Jahr 1834 – Deklamationen, welche sich einreihen in den Schmerz und die Sehnsucht, in die Emphase und die Orakelsprüche der französischen wie deutschen Romantiker und die, obwohl in Wermuth und Weltschmerz getaucht, doch in sprungkühner Phantasie den Himmel zur Erde und die Erde zum Himmel zu tragen suchten und nicht nur leere Phrasen waren. Liszt's Ergüsse bargen Samenkörner, die, so gefühlsumhüllt sie auch auftraten, doch entschieden auf Zukünftiges hindeuteten und vorempfinden lassen, daß er nicht im Fluge der Ahnungen und Sehnsucht bleiben und seine Schwingen ihn bald auf feste Punkte tragen würden, wo er thatkräftig die Träume in Wirklichkeit verwandeln werde.

Aus dem ganzen Fragment aber tritt unverkennbar der Früheres zu einem Abschluß bringende Einfluß Lamennais' hervor. Für alle Zeiten stand es fest in dem Jüngling: daß »Gott die Lebensquelle aller Kunst« und der Selbstzweck nicht ihre Bestimmung sei, daß sich in allem Schönen Gott wiederspiegele und er sich in diesem weltumfassend äußere, – der Punkt, aus[247] welchem ahnungsvoll sein Gedanke einer neuen, zukünftigen Kirchenmusik, welche »weihevoll, stark und wirksam, in kolossalen Verhältnissen Theater und Kirche vereinige, welche zugleich dramatisch und heilig, prachtentfaltend und einfach, feierlich und ernst, feurig und ungezügelt, stürmisch und ruhevoll, klar und innig«, empor quoll. Daß eine solche Kirchenmusik sich außerhalb musikalischer und kirchlicher Dogmatik bewegen werde, kam ihm nicht zum Bewußtsein, – der Gedanke lag in seinem religiösen Gefühl, welches diesen Drang nach freier Bewegung nicht nur durch das Wort, sondern auch musikalisch andeutete.

Es ist interessant zu wissen, daß die bereits besprochene Komposition des Jünglings »Pensée des Morts« zu derselben Zeit, wie jenes literarische Fragment, und zwar während eines Besuches im Herbst 1834 bei Lamennais in La Chênaie in der Bretagne entstanden ist; interessant zu sehen, daß die religiösen Momente dieser Komposition keine Spur von musikalisch-dogmatischer Form, vom Kontrapunkt – worauf wir schon hingewiesen – an sich tragen. In diesen Momenten und in jenem Wort zusammen liegen die ersten Spuren einer neuen von Liszt eingeschlagenen Richtung religiöser Tonkunst.

Lamennais' vielseitiger und weittragender Einfluß auf Liszt erstreckte sich jedoch nicht nur auf Religion und Kunstideale: er beeinflußte auch seine Anschauung gegenüber der Hierarchie der Kirche. Die begriffliche Unterscheidung zwischen ersterer und ihr war ihm, als er Lamennais kennen lernte, noch keineswegs geläufig. Dieser erst hatte ihm den Unterschied zwischen Religion und Kirche deutlich gemacht. Das Bewußtsein, daß diese beiden Dinge, obwohl zusammengehörend wie Inhalt und Form, doch begrifflich zwei sind und auch in der Praxis einander ganz entgegengesetzt auftreten können, ward auf das lebhafteste in ihm rege. Der Bannstrahl Roms, welcher Lamennais, den gläubigen Katholiken, traf, klärte ihn hierüber noch deutlicher auf. Seine Sympathien waren mit seinem väterlichen Freund und entrüstet wandte er sich, wie dieser selbst, gegen die Kirche. Worte, wie folgende, geschrieben im Frühjahr 18356, drücken diese Antipathie, bei welcher unverkennbar der exkommunicirte Abbé mit dem Priesterhaß seiner »Paroles d'un croyant« im Hintergrund steht, deutlich genug aus;[248] sie verrathen aber auch ganz und gar den Ungestüm und die Unreife der Jugend, in welcher Liszt sich zur Zeit noch befand. »Die katholische Kirche«, sagt er, »einzig beschäftigt ihre todten Buchstaben zu murmeln und ihre erniedrigende Hinfälligkeit im Wohlleben zu fristen, nur Bann und Fluch kennend, wo sie segnen und aufrichten sollte, baar jedes Mitgefühls für das tiefe Sehnen, welches die jungen Geschlechter verzehrt, weder Kunst noch Wissenschaft verstehend, zur Stillung dieses qualvollen Durstes, dieses Hungers nach Gerechtigkeit, nach Freiheit, Liebe nichts vermögend, nichts besitzend – die katholische Kirche so, wie sie sich gestaltet hat, so, wie sie gegenwärtig in Vorzimmern und auf öffentlichen Plätzen dasteht, geschlagen auf beiden Wangen von Völkern und Fürsten – diese Kirche, sagen wir es ohne Rückhalt: sie hat sich der Achtung und Liebe der Gegenwart völlig entfremdet, Volk, Leben, Kunst haben sich von ihr zurückgezogen und es scheint ihre Bestimmung zu sein erschöpft und verlassen unterzugehen.« –

»Nur Bann und Fluch kennend« – erschien die katholische Kirche damaliger Gegenwart dem jungen Künstler. Sein religiöses Gefühl und seine religiösen Anschauungen konnten sich nicht mit ihr zusammenfinden – diese gingen immer über jene hinaus und konnten auch später, als seine Ansichten den in jenen Worten enthaltenen Radikalismus verwerfen mußten und er noch später als weltlicher Diener des Papstes dessen Kleid trug, sich ihr im strengen Sinn nicht beugen. – Abbé Lamennais hat der inneren Freiheit, die Liszt allen Mächten gegenüber sich stets bewahrte, nach dieser Richtung hin den Segen gegeben. Sein vielseitiger Einfluß auf Liszt hatte jedoch seinen Schwerpunkt in dessen Kunstanschauungen und seiner religiösen, von kirchlicher Hierarchie abstrahirenden Gläubigkeit.

Diese innerlichen Beziehungen Liszt's zu Lamennais fanden auch nach rein musikalischer Seite einen Widerhall. Daß das schon mehrfach berührte Bruchstück seiner »Harmonies poetiques et religieuses« – Pensée des Morts – während eines längeren Aufenthaltes auf dem Landsitz des Abbé von ihm komponirt wurde, ist bereits erwähnt. Charakter und Richtung der Komposition sprechen deutlich genug von den Stimmungen, die ihn hier beherrschten. Anderer Art jedoch als diese waren diejenigen, welche in dem Klavierstück:


[249] »Lyon«


zum Ausdruck kamen. Mit dieser Komposition steht er auf dem socialen Boden jener Zeit, die Sympathie aussprechend, die er, jedenfalls gesteigert durch seinen Verkehr mit Lamennais, den Arbeiterbewegungen entgegen brachte. Ein durch die Gespräche mit letzterem hervorgerufener Nachhall des im April 1834 mit einem fünftägigen Straßengefechte verknüpften Aufstandes der lyoner Arbeiter trägt es das Motto der damaligen Socialisten:


Vivre en travaillant

ou mourir en combattant.


In geschlossener Marschform, aber in fliegenden Rhythmen, harmonisch mehr dumpf als hell gleicht diese Komposition einem unterdrückten Aufschrei, den wir dem herausgetriebenen Muskelleben der »gefesselten Sklaven« Michel Angelo's vergleichen möchten. – Sie trägt die Chiffre: à Mr. F. de L ... und ist wie die Widmung ein Ausdruck des inneren Zusammenklanges, der gegenüber jenem Ereignis zwischen ihm und dem demokratischen Abbé stattfand.

Dem Besuch in La Chênaie gehört noch eine dritte Kompositionsarbeit Liszt's an, eine »Fantaisie fantastique« über Themen von Berlioz7, welche sowie das Klavierstück »Lyon« das Kapitel »Schöpferische Keime« nochmals berühren wird.

Unser Lamennais-Kapitel abschließend, haben wir noch einer Bemerkung H. Heine's zu gedenken, welche dieser in seinen pariser Briefen über den Einfluß des bretagnischen Abbés auf Liszt's Gedankenrichtung gemacht hat und diesen durch Zusammenstellung mit einer andern hervorragenden Persönlichkeit gleichsam, aber unglücklich, illustrirt. Er stellt ihn neben den Socialphilosophen Pièrre Simon Ballanche, hinzufügend, daß des letzteren spiritualistische Gedanken – »vapeurische« nennt er sie – Liszt ebenfalls eine zeitlang »umnebelt« hätten. Das sind inkorrekte Streiflichter, die Heine über Liszt und Lamennais wirft, die keiner weiteren Berichtigung bedürfen, aber einige erklärende Worte über die Beziehungen Liszt's zu Ballanche nothwendig machen. Letzterer hatte mit seinen Schriften allerdings eine kurze Zeit den Enthusiasmus des jungen Künstlers erregt, blieb aber ohne nachhaltige[250] Einwirkung auf ihn, wie überhaupt die Bedeutung dieses Philosophen für die französische Zeitgeschichte keine tiefgehende war. Auch Liszt's persönlicher Verkehr mit ihm war nur vorübergehend. Aber nicht ohne Interesse bleibt es für uns, daß Liszt als Jüngling sich meist da sympathisch angezogen fühlte, wo geistige Richtungen mehr in der Mitte stehend Neues mit Altem, aber mittels des Christenthums, zu verbinden suchten, da, wo ein versöhnender Zug zwischen den welttreibenden Ideen der Neuzeit und den religiösen Forderungen der Kirche auftrat. Ebenfalls bleibt bemerkenswerth, daß der Schwung seiner Gefühle und Gedanken sich auf Geistesrichtungen erhob, denen ein mystisches Element innewohnte.

Sein Enthusiasmus für die Schriften Ballanche's, welche in schöner Form und edler Fassung die Gedanken dieses Autoren in Poesie und Symbolik gehüllt brachten und hiedurch einen mystischen Schleier über sie breiteten, gehört dem Winter 1836 auf 1837 an.

Ballanche und Lamennais lassen sich in ihrer Einwirkung auf Liszt nicht nebeneinander setzen. Wenn Ballanche ihn »umnebelte«, so hat Lamennais ihm mehr diese Nebel verscheucht, indem er Unerklärtem Erklärung gab und seinen geistigen Anlagen, die nach religiöser, weltlicher und künstlerischer Richtung herumtasteten, durch seine christliche Philosophie den ideellen Einigungspunkt bot.

Fußnoten

1 »Histoire de dix ans.«


2 III. Band, Seite 117.


3 III. Band, Seite 112.


4 III. Band, Seite 376.


5 Fr. Kreyßig's »Studien zur französischen Kultur- und Litteraturgeschichte«.


6 Franz Liszt's »Gesammelte Schriften«, II. Band: »Zur Stellung der Künstler«.


7 »Fant. symphonique pour Piano & Orch.«, siehe Seite 288.

Quelle:
Ramann, Lina: Franz Liszt. Als Künstler und Mensch, Band 1, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1880.
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