IX.

Ein Dioskurenpaar.

(Paris 1832–1835.)

Chopin. Sein erstes Auftreten in Paris. Liszt's Enthusiasmus und Liebe für ihn. Charakteristik der äußeren Erscheinung beider. Ihr wahlverwandtschaftliches, sich ergänzendes und gegensätzliches Wesen. Ihre gegenseitigen Einwirkungen. Liszt als Interpret der Musik Chopin's. Die musikalischer Ornamentik beider. Liszt's Buch über Chopin.


In jener überreichen Zeit, wo Paris das geistige Firmament der Erde schien, dessen Kometen, Wander- und Fixsterne die hervorragenden Geister bildeten, welche sich in der Wunderstadt bewegten, trat unter diese eine jugendliche Erscheinung, deren äußere Schönheit nicht minder bezauberte als das Wesen, deren Hülle sie war.

Der Duft der ersten Jünglingsjahre, durch keine Leidenschaften getrübt und gestört, lag in unberührter Reine über sie gebreitet und nichts war von dem Bilde verwischt, welches eine seelenkundige dichterische Hand von ihr entworfen, sie in dem reizvollen Stadium schildernd, wo Physis und Psyche in geheimem Weben ihr Zauberwerk der Umgestaltung des Knaben zum Jüngling vollbrachten.

»Sanft und gefühlvoll« nennt diese Feder Frédéric Chopin's Erscheinung, »mit der Anmuth der Jugend die Würde des reiferen Alters verbindend«. Sein Gesicht nennt sie: »schön, weder einem bestimmten Alter noch einem bestimmten Geschlecht« angehörend. »Er hatte nicht – schildert sie seine Erscheinung in Bezug auf seinen polnischen Ursprung – die männlich kühne Miene eines nur trinkenden, jagenden und Krieg führenden Abkömmlings der Magnaten; eben so wenig besaß er die weibisch-weibliche Lieblichkeit eines rosenfarbigen Cherubims. Vielmehr schien sein Äußeres jenen idealen[216] Wesen verwandt, welche der Poesie des Mittelalters zur Ausschmückung christlicher Gotteshäuser dienten. Ein Engel von schönem Antlitz, von reinem geschmeidigen Bau gleich einem schlanken Weibe, ein jugendlicher Gott des Olymps, dem als Krone des Gesammtbildes der Geistesstempel des Zärtlichen und Strengen, des Keuschen und Leidenschaftlichen zugleich aufgedrückt ist.«1

Jetzt, als Chopin einundzwanzig Jahre zählend, auf einer Reise nach England begriffen Paris betrat – nur »en passant«, wie er damals wähnte –, war seine zarte Figur wohl höher geworden, aber nichts war von dem Zauber und nichts von den charakteristischen Einzelzügen desselben verwischt, welchen seine geistige Natur seiner ganzen Erscheinung verliehen hatte und der jener Beschreibung entsprach. Dieser Zauber, sowie seine charakteristischen Einzelzüge, die der Dichter mit »zärtlich und streng, keusch und leidenschaftlich« so trefflich bezeichnet, waren der ureigene Typus seiner Künstlerindividualität.

Es war gegen Ende des Jahres 1831 – in demselben Jahr, in welchem Paganini seine dämonische Gewalt an den Parisern erprobt hatte –, als Chopin im Salon Pleyel vor einem Publikum, welches sich vorzugsweise aus der Elite der Künstlerwelt gebildet, seine erste Soirée gab. Seine Zuhörer zählten nicht wie bei Paganini nach Tausenden, waren aber die maßgebendsten von Paris. Als sein wunderbares Spiel erklang – er spielte sein Emoll-Koncert, Mazurkas und Nocturnos –, in welches er voll Anmuth und poetischen Feuers sein Hoffen, Träumen und Erinnern ergoß, dazwischen aus den Tönen der Passionsgeschichte seines Volkes schmerzdurchglühte Hymnen an die Heimat webend: da herrschte wieder einer jener viel verheißenden und viel verschweigenden Momente der Stille, wie sie außergewöhnlichen Leistungen zu folgen pflegen und vor Monaten Paganini's Spiel begleitet hatten, um in lauten Beifallssturm überzugehen.

Die Wirkung von Chopin's Spiel war jedoch anders als die des großen Geigers. War auch den anwesenden Musikern die musikalische Sprache des Polen, welche ebenso reich an neuen Reizen wie nationell in ihren Grundtönen sich zeigte, nicht durchaus verständlich, so waren doch alle von einem Etwas ergriffen, das jedoch nicht wie bei Paganini in den Wundern der Technik[217] lag. Des letzteren Kunst war realistisch und dämonisch zugleich. Sein Spiel hatte die Phantasie der Hörer mit Grauen und Bewunderung erfüllt, die Seele hatte es weniger berührt. Die Töne Chopin's hingegen, mehr Geist als Körper, eben so naiv-heiter wie schmerzlich-erregt und männlich-ernst, so glühend wie keusch, entzündend und doch bannend in sinnigem Traum, drangen in der Seele Innerstes und erschlossen eine musikalisch neue ideale Welt: die Welt schwärmerischer Poesie.

Dem jungen Künstler wurde die lebhafteste Bewunderung entgegen gebracht. Aber nicht sie, nicht der rauschendste Beifall konnte, wie Liszt in Erinnerung an dieses erste Auftreten Chopin's in Paris erzählt, dem Entzücken Genüge thun, welches er selbst angesichts dieses Talentes empfand, das »eine neue Phase in der poetischen Empfindung und die glücklichsten Neuerungen in der Gestaltung seiner Kunst offenbarte«.

Diesem Moment entsprang die unwandelbare Liebe und Bewunderung, welche der feuergeistige Liszt von da an immer für Chopin gehegt hat. Letzterer wirkte nicht auf ihn wie Berlioz, dem gegenüber sich Geist an Geist entzündete; Chopin, trotz männlichen Feuers mehr weiblich – der lyrische Poet unter dramatischen Dichtern –, übte eine Attraktion auf Liszt aus, gleich wie das Zarte sie auf das Starke übt. Liszt zog ihn liebend in sein Herz, ihn umhüllend mit den Blüthen seines künstlerischen Empfindens und dabei die Räthsel seines Wesens lösend, die nur allein dem Geist sich willig erschließen wollten, der nicht nur wie er selbst, um Heine's auf Chopin bezügliches Wort zu gebrauchen, »dem Traumreich der Poesie« entstiegen war, sondern auch dem Reich entstammte, dem die »Deuter der Gesichte« angehören.

Ein Zug der Wahlverwandtschaft verband die beiden Jünglinge und entlockte ihren Tönen gesteigerten Klang und visionäre Reize, die zu neuen Weisen und neuer poetischen Sprache sich entwickelten. In der Geschichte der Klaviermusik jener Epoche und auf pariser Boden erscheinen beide, je mehr man sich in ihr Wesen und in ihre Leistungen versenkt, als ein Dioskurenpaar, das sich ergänzend die Hand gereicht.2 Ohne Chopin zur Seite würde Liszt's[218] Erscheinung, so wie sie in jener sturmvollen Zeit uns entgegen tritt: individuell sich entwickelnd und doch zu gleich bahnbrechend für die Kunst, eine große Lücke kaum verbergen können, ebenso wie die Chopin's ohne Liszt den Mangel einer treibenden Kraft und eines Licht gebenden Gegensatzes unverkennbar lassen würde.

Schon die äußere Erscheinung beider deutete auf diese Wahlverwandtschaft und Ergänzung, aber auch auf ihre Verschiedenheit hin. Man denke sich neben der am Eingang dieses Kapitels beschriebenen mehr seraphischen Erscheinung Chopin's die Liszt's! Sie besaß nicht jenes Gemisch von Jugend und Reife, nicht, was bei Chopin's Jugend so merkwürdig war, das Abgeschlossene und Fertige in sich. Liszt's Wesen wurde in jener Zeit mehr und mehr flammend, lechzend, flüssigem Feuer gleich. »Wild, wetterleuchtend, vulkanisch und himmelstürmend nannte es Heine. Seine Figur, welche eine ansehnliche Höhe erreicht hatte, überragte die Chopin's, war aber schlank wie diese; ebenso waren seine Gliedmaßen, wie die des letzteren, zart und fein. Trotz dieser Feinheit des Körperbaues aber durchdrang, den außergewöhnlichen Menschen sogleich verrathend, eine geistige Energie jedes Glied seiner Figur – ein Ausdruck, welchen die Chopin's nicht besaß. Dieser ausgeprägt geistigen Energie entsprach Liszt's Haltung. Sie war frei, edel, ritterlich, die Chopin's mehr zurückhaltend, distinguirt. Der Kopf faß bei Liszt leicht und stolz auf dem Nacken. Ungemein starkes Haar von dunkelblonder Farbe fiel ohne Scheitel von der Stirn geradeaus zurückgeschlagen auf ihn herab, in gerader Linie hier abgeschnitten. Chopin's Haar war ebenfalls dunkelblond, aber seidenweich und an der Seite gescheitelt. Bei ihm war alles mehr weiblich. »Ein Engel von schönem Antlitz«, mit braunen Augen, aus denen mehr Geist als Feuer leuchtete, mit einem Lächeln mild und fein, einer Nase sanft gebogen, einem Teint, dessen Zartheit entzückte, – sprach aus ihm eine Harmonie, die keines Kommentares bedurfte.3 Anders bei Liszt. Jede Linie, jeder Zug des Gesichtes sprach von besonderer Bedeutung, ohne jedoch die Harmonie des Ganzen aufzuheben. Der Typus seiner Physiognomie war ungarisch. Die Züge stark ausgesprochen; das Profil scharf[219] und kühn geschnitten; die Stirn hoch, breit und zurückfliegend; tiefliegende, von Brauen stark überzogene Augenhöhlen, aus denen in dunkler genialer Tiefe erglühend und doch unbeschreiblich mild und versöhnend graublaue Augen hervorbrachen, die in Momenten der Erregung verschiedene Farben anzunehmen und hellbraun, grün und durchsichtig zu werden schienen, wie der »Tropfen einer Welle des Baltischen Meeres«;4 die Nase gebogen, mit kräftiger Wurzel und weiten leidenschaftlichen Nüstern; der Mund groß; das Kinn thatkräftig breit – das war so im allgemeinen die Physiognomie Liszt's. Nichts an ihr war gewöhnlich, nichts sich widersprechend, alles bis zur Wurzel scharf ausgeprägt und doch nirgends scharfe Ecken und Kanten. Sprach das feste Gefüge der Form von Kraft und Kühnheit, so sprachen ihre Linien von Adel der Seele und des Gedankens, sein Muskelleben von Bewegung und Leidenschaft. Das Gesicht, sein Ausdruck, der ganze Kopf trug das Gepräge höchster Idealität. Was aber seinem Blick die Macht, seinem Gesichtsausdruck einen unwiderstehlichen Zauber verlieh, das war die Wärme der Empfindung, welche unmittelbar und unbewußt ihm gleichsam entstrahlte. Merkwürdig war seine Gesichtsfarbe. Lebenswarm und doch von eigenthümlicher Blässe, nicht unähnlich dem Timbre des Elfenbeins. Und in der That! dieser Farbe wegen und wegen seines scharfgeschnittenen Profils gab man ihm in den pariser Salons den Beinamen: »le profil d'ivoire«.

Die innigen einer tiefen Verwandtschaft des Geistes entsprungenen Beziehungen, welche sich in jener Zeit, wo Chopin im Saale Pleyel seine ersten Künstlerproben in Paris ablegte, zwischen Liszt und ihm zu entspinnen begannen, wurden zu Wechselwirkungen voll geistigen Einflusses auf beide.

Künstlerisch trafen sie sich zunächst in ihren Beziehungen zum Klavier. Während aber Liszt's weiter und feuriger Geist dieses Instrument gleichsam beflügelte und es über seine Grenze hinaus zu einem Orchester erhob, während es ihm zu einem Pegasus ward, auf dessen Rücken er sich in fremde Regionen schwang, versenkte sich Chopin mit seiner in den Grenzen subjektiver und polnisch-nationaler Lyrik sich bewegenden Phantasie in die Klänge desselben, sie mit seinen Träumen und mit seinem Lieben, mit seinem heitern Hoffen und verborgenen Leiden zu einer Intimität[220] seelischen Zaubers verwebend, die eben so einzig und ungekannt dastand, wie jene Feuersbrunst, welche Liszt über seine bisherigen Grenzen hinaustrieb. In dem Feuer, der Kraft, dem Stimmungsreichthum, der Kühnheit und pianistischen Omnipotenz des einen und in der poetischen Träumerei, der Innigkeit des Gefühls und dem seelischen Zauber des andern lagen die Momente, aus welchen ihre Wechselbeziehungen sich schufen und durch welche beide als Künstler sich gegenseitig steigerten.

Chopin's in sich abgeschlossenes und fertiges Wesen, das in allen seinen Grundzügen schon ausgeprägt war, als er noch im angehenden Jünglingsalter stand, hat im allgemeinen wenig Einflüssen sich hingegeben. Sein geistiges Leben bewegte sich in engen Grenzen und strebte nicht wie das Liszt's der Erweiterung nach allen Seiten zu: nach der Weite, nach der Höhe und nach der Tiefe. Universalität, wie sie sich in Liszt Bahn schuf, war ihm fremd. Die Eindrücke, welche Chopin in seiner Knaben- und ersten Jünglingszeit empfangen hatte, sind ihm zu allen Zeiten die Quellen seiner wunderbaren Poesie geblieben und das, was später hinzutrat, sein gesteigertes Empfindungsleben, hat ihnen wohl erhöhten Glanz und größere Intensivität verliehen, die Ringe seiner geistigen Bewegung jedoch hat es kaum erweitert. Das seiner Natur Ureigene, das zauberhaft Schillernde, sowie die Formen, durch die es sich äußerte, waren bereits ausgesprochen, bevor er Paris betrat.

Paris mit seiner großen geistigen Bewegung der dreißiger Jahre, welche die jugendlichen Geister wie mit Feuers Gewalt ergriff, hat auf Chopin's geistige Erweiterung nicht eingewirkt. Diese Bewegung mit ihren revolutionären Elementen wirkte nur störend und antipathisch auf sein Inneres. Die Demokratie stellte in seinen Augen, wie Liszt von ihm erzählte, ein Agglomerat fremdartiger und qualvoller Elemente einer zu wilden Gewalt dar, um seine Sympathie erwecken zu können. Als das Auftauchen der socialen und politischen Fragen einer neuen Barbareninvasion verglichen wurde, ergriffen ihn die in diesem Vergleich dargestellten Schrecknisse auf das peinlichste. Er bezweifelte, daß von den modernen Attilas das Heil Roms kommen werde, und befürchtete die Zerstörung der Kunst – die Zerstörung ihrer Monumente, ihrer Verfeinerung, ihrer Civilisation. Mit einem Wort, er bangte die elegante, verfeinerte, wenn auch dabei etwas indolente Leichtigkeit des Lebens, wie sie Horaz besingt, zu verlieren. Er hielt sich[221] zurück von allen politischen, theologischen und philosophischen Diskussionen; er folgte ihnen nur aus weiter Ferne. »Il mondo va da se« schien er sich zu sagen, vielleicht, wie Liszt feinfühlig den Freund entschuldigt, vielleicht »um seine müßige Hand zu trösten und mit seiner Laute Saiten zu versöhnen«.

Die Strömungen der Zeit rauschten an Chopin vorüber, ohne ihn mit fortzureißen oder ihn in weitere Bahnen zu lenken als die, welche bereits in seiner Erfahrung lagen. Ihnen gegenüber zeigte er sich abgeschlossen und schweigsam im vollsten Gegensatz zu dem auf das heftigste von ihnen erfaßten Liszt, welcher, wie Heinrich Heine ihn seinen Landsleuten diesseits des Rheins zu schildern suchte, »von allen Nöthen und Doktrinen der Zeit in die Wirre getrieben das Bedürfnis fühlte sich um alle Bedürfnisse der Menschheit zu bekümmern und gern die Nase in alle Töpfe steckte, worin der liebe Gott die Zukunft kocht«.

Wie gegen die politischen und socialen Fragen, war Chopin, obwohl ein gläubiger Katholik wie Liszt, doch im Gegensatz zu ihm auch gegen die theologischen und kirchlichen Diskussionen jener Tage verschlossen, während Liszt im beständigen Drang nach religiösem Schauen hier überall Momente zur Entflammung fand. Chopin's Wesen und Phantasie waren nicht ergriffen, wie das Wesen und die Phantasie Liszt's; ebensowenig durchtränkte sein religiöses Gefühl alle Elemente seines Gedankenlebens, wie es bei diesem der Fall war. Chopin's Religiosität war ein abgeschlossener Theil für sich und während Liszt beständig in einer religiösen Aspiration sich befand, der Kirche und ihres Kultus bedurfte, bewahrte Chopin seine Gläubigkeit für sich, ohne sie durch äußeren Apparat zur Schau zu bringen.

Diese Zurückhaltung und innere Abgeschlossenheit überwand Chopin selten. Nur in zwei Punkten wich er von seiner Theilnahmlosigkeit gegen die Fragen der Zeit und des Lebens ab – Ausnahmen, die seinem Vaterland und der Kunst galten.

So abgeschlossen sein Inneres nach Außen hin war, so war es offen für Liszt's Künstlerwesen, welches in das seinige Eingang gewann. Das spielende Schaffen seines Genies, der spiritualistische Zauber seiner Improvisationen in Verbindung mit männlich-stürmischer Kraft und Leidenschaft, das wunderbare Gelingen, das ihm zu Gebote stand, reizten Chopin nicht wenig zur Steigerung seiner selbst und seiner eigenen wunderbaren Fähigkeiten. Chopin's[222] Muse, welche erst in Paris zu ihrer vollen Schönheit und Eigenartigkeit sich zu entfalten begann, zeigt sich mehrfach getrieben von Liszt's Einfluß, was insbesondere von dem Aufflug gilt, den sie mehrfach zu dem Gebiet höchster männlicher Kraft und Leidenschaft nahm. Nach dieser Richtung hin ist sie von Liszt entschieden herausgefordert und unterstützt worden. Nicht, daß Chopin der Kraft ermangelt hätte. Aber an und für sich eine zart besaitete Natur, nicht unähnlich jener tropischen Pflanze Noli me tangere, die ihre Blätter schließt, sobald ein anderes Element sie berührt, aufgewachsen in hohen aristokratischen Kreisen, auf einem Boden, wo die Beherrschung innerer Regungen Lebensregel ist und nur der höfisch geschulte Mensch nach Außen tritt, zu gleicher Zeit von zarter Konstitution, die ihm gebot heftige Erregungen in Schranken zu halten, war ihm der unmittelbare Ausdruck kräftiger Empfindung, wir möchten sagen, gehemmt, aber er glimmte gleich Funken in der Asche.

Bei Liszt dagegen war ein unmittelbarstes Sichgeben, unbekümmert um alles neben und um sich, um das Wie und Wo, halb unbewußt auch der Vorgänge des eigenen Innern. Er kannte nicht und lernte nicht die Zurückhaltung und Beherrschung seiner Empfindungen und Gedanken wie Chopin. Sie strömten nach Außen, überschäumend, stürmisch und kräftig bis zum Maßloßen, je nachdem der Augenblick es mit sich brachte, sie mußten sich ausschwingen. In diesem Feuer des Sichgebens riß er Chopin musikalisch mit sich fort und trieb den oft nur glimmenden Funken zum Ausbruch seiner Kraft. Viele Stellen der Musik Chopin's, die voll Feuer und leidenschaftlichen Aufschwungs mehr kraftvoll schwellendem Strom als ruhigem Fließen gleichen, tragen die Spuren dieses Einflusses Liszt's unverkennbar an sich. Hierher gehören vor allem die Etüden Nr. 9 und 12 der »Douze Etudes, dédiées à son ami Liszt« (opus 10), die Etüden Nr. 11 und 12 der Madame d' Agoult gewidmeten »Douze Etudes« (opus 25) und Nr. 24 der »Vingt-quatre Preludes« (opus 28) – Kompositionen, welche sämmlich in Liszt's Stil und Ausdrucksart gegeben sind. Zu ihnen zählen ferner das ebenfalls zur Zeit innigpersönlichen Verkehrs mit Liszt entstandene erste Scherzo, sowie die Asdur-Polonaise. Auch der Schluß seines Asdur-Nocturne (opus 32) gehört hierher.

Chopin's Einfluß auf Liszt's Kompositionen war weniger[223] hervortretend, aber erstreckte sich um so stärker auf musikalischpoetische Momente, welche Liszt insbesondere am Klavier zum Ausdruck brachte. Zunächst jedoch machte er sich nach kunst-principieller Richtung geltend – einer der Punkte, wo Chopin von seiner Neutralität und Schweigsamkeit gegenüber den Fragen der Zeit abwich. Als 1832 durch Hektor Berlioz der musikalisch-romantische Kampf mit dem klassischen Formalismus begonnen, stand auch er auf Seite des Fortschritts. Konnte er auch den Übertreibungen der Romantik, wie sie auf dem Tagesprogramm jener Zeitperiode standen, nur Antipathie entgegenbringen, so war doch sein eigenes Wesen dem Klassischen viel zu sehr abgewandt und anderseits das Bedürfnis nach Freiheit der Form und der Bewegung, sowie nach neuen harmonischen, seinem eigenen Stimmungsleben entsprechenden Ausdrucksmitteln viel zu lebendig in ihm ausgeprägt, als daß er dieser Übereinstimmung seines Wesens mit der Forderung der Zeit sich hätte entziehen können. Mit klarem Auge und sicherem Denken erfaßte er die Fragen des Kampfes, ihnen in einer Reihe mit leidenschaftlichem Eifer entworfenen Plaidoyers, Gewicht und Fassung zu geben versuchend. Das war so ohngefähr zu derselben Zeit, als Liszt die »Sinfonie fantastique« dem Klavier einverleibte und der Technik des Klavierspiels neue Bahnen schuf. In dieser Periode ward Chopin durch das Beispiel von Beharrlichkeit, Festigkeit und Klarheit, das er gab, von nicht geringem Einfluß auf Liszt's Anschluß an die Romantiker. Trotzdem letzterer ein geborener Neuerer war und dieser wie ein plötzlich entfesselter Naturgeist in ihm herum zu spuken begann, konnte er doch auch die klassische Zucht nicht verleugnen und die tiefe Bewunderung, die er vor den Meistergebilden vergangener Genien empfand, wollte sich momentan doch auflehnen gegen den Enthusiasmus, den die Romantiker in ihm weckten und der doch wieder momentan gewillt schien den Umsturztheorien in radikalster Weise zu huldigen. Unsicher tastete er. Hier stand ihm der allem willkürlichen Effekt und aller romantischen Zügellosigkeit abgewandte und doch von dem Zauberblick der Göttin freier Kunst getroffene Chopin zur Seite. Wie einflußreich in jenem Moment innerer Unsicherheit die Überzeugung desselben auf ihn wurde, erzählt Liszt selbst in seinem dem Andenken Chopin's gewidmeten Buch. »Unseren Versuchen, sagt er, unserem damals noch so sehr der Sicherheit entbehrenden[224] Ringen, das zu jener Zeit mehr ›kopfschüttelnden Weisen‹ als ruhmvollen Gegnern begegnete, verlieh er die Stütze einer ruhigen, gleich gegen Erschlaffung wie gegen Verlockung gewappneten unerschütterlichen Überzeugung.«

In der Sicherheit Chopin's, in seiner Ruhe, seiner besonnenen Gelassenheit lagen die Eigenschaften, welche auf Liszt's Wesen, das auf jedem Punkt brennfertig war, beruhigend zurückwirkten. Den französischen Zeitgenossen jener Epoche ist diese Rückwirkung Chopin's auf Liszt nicht entgangen und selbst ferne Stehende wie Robert Schumann haben sie instinktiv gefühlt. Schumann machte die Bemerkung:5 »es schiene, als habe der Anblick Chopin's ihn wieder zur Besinnung« gebracht. Bezog sich dieses Wort auch speciell auf Liszt's Kompositionen, denen gegenüber es sich nicht behaupten kann, so hat es doch im allgemeinen das Richtige getroffen.

Eingreifend wie das Beispiel, welches ihm Chopin durch seine Entschiedenheit angesichts des Kampfes um den Fortschritt der Kunst gab, war seine künstlerische Individualität als solche auf Liszt. Die schwärmerische Gefühlsrichtung seiner Phantasie, »eine neue Phase in der poetischen Empfindung offenbarend«, war es, welche verwandte Saiten Liszt's innig vibriren machte. Wie Liszt's Kraft, die Chopin's aus sich herauszwang, so hat die zart-poetische Leier Chopin's auf Liszt Eindruck gemacht. Die Momente specieller Einwirkung sind jedoch nicht wie die Liszt's auf Chopin an einzelnen Kompositionen nachweisbar: sie kamen bei Liszt am stärksten als Klavierspieler zum Ausdruck. Der Einfluß, den Chopin hier auf Liszt ausgeübt, war aber in jener Epoche innerster Erhitzung tief gehend genug, um ihn, trotzdem er sich in ganz entgegengesetzter Weise äußerte, neben den Paganini's zu stellen. Paganini hatte dem Suchenden den Weg zu einer neuen Technik des Klavierspiels gezeigt, vielleicht auch den Dämon der Inspiration ihm geweckt; Chopin hingegen machte ihm das Ebenmaß des Schönen in den Grenzen subjektiver Lyrik fühlbar. Der Eine entfesselte, der Andere band: jener trieb ihn über die damals bekannten Grenzen des Klaviers hinaus, dieser hielt ihn mit seiner Innigkeit und seinem holdseligen Spiel mit Träumen zurück. Liszt's Natur, die über[225] alles Maß hinausstrebte, bedurfte momentan und namentlich in jener Zeit, wo er der Reife entbehrend inmitten widerspruchsvollster Geistesströmungen sich bewegte, solcher bindender Elemente, um sich nicht zu verlieren an das Ungeheuerliche. Aber eine solche Bindung, ein solches Zurückhalten seiner selbst konnte ihm nur durch eine Natur gewährt werden, die ihm geistig verwandt war und zugleich den göttlichen Funken des Genies gereifter in sich trug.

Am Klavier war Chopin's Einfluß auf Liszt am ersichtlichsten. In einem der wirkungsvollsten Effekte seines Vortrags ist er ihm sogar Vorläufer geworden und zwar nach einer der Seiten hin, welche das Klavierspiel zur freien Sprache des Geistes erhoben, so wie sie von Chopin und Liszt – am eindringlichsten und über alles erhaben aber von Liszt gesprochen ist. Dieser Effekt war das tempo rubato, jenes eigenthümliche, dem zählenden und messenden Verstand zu entfliehen scheinende momentane Vibrato der Rhythmen, das der Zeit vergißt und doch ihr sich einfügt, die Form aufhebt und sie dennoch nicht verliert.

Vor Chopin wußte man nichts von ihm: es schien an die Seele der lyrischen Tonpoesie gebunden. Seinem Spiel aber verlieh es einen magischen Zauber – halbgestaltete Träume, Schatten, die seinen Fingern entglitten. Chopin's tempo rubato war kein äußerer Effekt: es war gleichsam aus dem Herzen seiner Muse herausgeflossen. Was seinen Kompositionen einen so eigenartigen unwiderstehlichen Reiz verlieh: das poetisch Schillernde, hatte sich in ihm einen Ausdruck geschaffen. Von Chopin schlüpfte es hinüber in Liszt's Spiel. Seinem so leicht in tiefster Erregung erzitternden Innern ward es ein Vortragsmittel, das im Sturm wie im Säuseln der Gefühle in Vollendung zu Gebote stand.

Noch eine andere Saite wurde im Spiele Liszt's durch Chopin zum Klingen gebracht, welche bis jetzt, wir möchten sagen, in jugendlicher Unbefangenheit geschwiegen hatte. Er lernte von ihm, wie eine polnische Aristokratin es uns treffend bezeichnete: »die Poesie der aristokratischen Salons in Musik besingen«. Der Genius Chopin's hatte diese Sprache bereits gefunden – in Spiel und Komposition –, als er noch in seinem Heimatland in jenen Kreisen polnischer Aristokratie sich bewegte, wo Frauenschönheit und edle Ritterlichkeit in anmuthigem Reigen sich schlangen und geschmückt mit allem Zauber, den die Tradition wie[226] die Poesie auf den Scheitel des alten polnischen Adels gehäuft, ihre Festlichkeiten begingen. Diese Sprache war ihm ureigen. Kein Musiker hat sie gesprochen vor ihm, kein Dichter sie überflügelt an poetischem Glanz, an träumerischer Schönheit und ritterlicher Bewegung. Chopin's Mazurken und Polonaisen sind nicht nur dichterische Gebilde nationalen Gepräges, sie sind zugleich eine künstlerische Verdichtung des poetischen Äthers, welcher im Spiele des Herzens und der Phantasie durch den nationalen Tanz nur in jenen exklusiven Kreisen in der von Chopin besungenen Weise dem Salon entströmte, um wohl für immer von der Wirklichkeit sich in die Kunst geflüchtet zu haben. Diese Klänge der Lyrik Chopin's sind ein Nachhall der Zeit, wo Polen noch nicht tödlich getroffen von dem es verheerenden Weltsturm dem Traum Nation zu sein mit Feuer und Anmuth sich noch hingab. – Ein Aperçü nannte Chopin's Valses nur für Komtessen komponirt. Bezüglich seinen Polakken und Mazurken ließe sich das gleiche sagen, jedoch mit dem Zusatz: aber nur für polnische Komtessen.

Liszt, welcher Chopin's Sprache ihm abgelauscht, hat diese Geheimnisse seiner Muse tausendfach am Klavier reproducirt, in so vollendeter Weise, daß er den Schöpfer derselben überflügelte. Chopin's zarte körperliche Konstitution vermochte nicht immer dem Feuer und der Kraft seines Geistes zu genügen; seine Poesien konnte er darum nicht immer in dem ausgeprägten Wechsel von Glanz und Anmuth, von Feuer und Zartheit, wie sie in seiner Seele glühten, seinen Hörern übermitteln. Er wußte das auch und zog sich darum mehr vom Koncertsaal in die Salons, ausschließlich in die der in Paris lebenden vornehmen polnischen Aristokratie zurück. »Ich passe nicht dazu Koncerte zu geben«, sagte er zu Liszt; »das Publikum macht mich scheu, sein Athem erstickt mich, ich fühle mich paralysirt von seinen neugierigen Blicken und verstumme vor den fremden Gesichtern. Aber Sie, Sie sind dazu berufen; denn wo Sie die Gunst des Publikums nicht gewinnen, haben Sie die Kraft es anzugreifen, zu erschüttern, zu überwältigen und zu leiten.«6

Während Chopin mit seinem Spiel sich in die Salons der Polen geflüchtet, vertrat ihn Liszt im Koncertsaal, sowie in den Salons der französischen Aristokratie. Liszt's stürmisches und[227] doch so unendlich zartes Wesen bildete zu dem ruhigen, immer höflichen Chopin's einen großen und auffallenden Kontrast, durch welchen der Reiz seiner Sprache erst zur vollen Geltung gelangte. Für die pariser Welt war Liszt damals die nothwendige Folie der Musik Chopin's; ohne ihn wäre sie zu jener Zeit auf die polnischen Kreise beschränkt geblieben. Niemand hat jemals wie Liszt die Chopin'sche Musik so als vollendetes Wesen Chopin's wiederzugeben vermocht, aber auch Chopin liebte niemand so sehr als Interpreten seiner Poesien wie ihn, der ihm oftmals erst deutlich machte, was er erstrebt, und es verstand dem von ihm nur Angedeuteten ungewollt die höhere Farbe zu geben. – In Chopin's Zimmer schmückte nur ein Bild dessen Wände; vielsagend hing es dem Flügel gegenüber – so, daß es auf den Spielenden herabsah: es war Liszt's Bild. –

Liszt hat aber nicht nur am Klavier Chopin vertreten: er hat auch später durch das Wort sein Wesen verdeutlicht. Die schon mehrfach citirte Schrift des ersteren hat die Individualität Chopin's mit ihren vielen schwebenden Momenten mit seltenster psychologischer Feinheit und Schärfe dargelegt. Ganz Musiker hat Liszt es verstanden dem Unsagbaren, unmittelbar sich nur durch den Ton Enthüllenden einen Ausdruck durch das Wort zu finden. Er hat Musik in Sprache übersetzt.

Auch die nationale in seinen Tänzen vertretene Seite des polnischen Künstlers hat Liszt erschlossen, wie sie nur dem in sein persönliches Leben und in das Heiligthum seines Innern Eingeweihtesten sich erschließen konnte und wie bis in die letzte Falte zu dringen nur dem Auge des Genies vorbehalten ist. Das der Poesie des polnischen Tanzes bestimmte Kapitel ist nicht nur ein Blatt dem Geiste Chopin's gewidmet: es ist auch ein Blatt, das der polnischen Geschichte gehört; denn die Formen, in denen die Poesie eines Stammes, eines Volkes, einer Nation sich verkörpert, gehören ebenso zu ihr, wenn auch auf eine andere Seite geschrieben, als das Verzeichnis ihrer Helden und ihrer Heldenthaten. Es läßt sich behaupten, daß ohne dieses Kapitel Liszt's die Muse Chopin's sich nur halb der Nachwelt enthüllt haben würde.

Damals, als er das Idiom Chopin's zu sprechen anfing, erweiterte es sich zugleich in seinem Geiste. Es wurde ihm die Sprache, »die Poesie der aristokratischen Salons in Musik zu besingen«, überhaupt die Sprache diese Poesie unmittelbar auszudrücken,[228] besonders da, wo sie ihn selbst mit umspann. Seine Stellung in diesen Kreisen hatte begonnen eine andere zu werden. Er war nicht mehr das viel bewundertepetit prodige, die Gunst der Frauen ließ ihn als amoroso sich hier bewegen. Der schöne, feurige Künstler und stets liebenswürdige Kavalier erfreute sich ihrer besonderen Beachtung. Als man eines Tages die polnische Gräfin Plater, in deren Salon Chopin und Liszt in Begleitung des Kölner Ferdinand Hiller, der sich ersterem innig angeschlossen, häufig zu sehen waren, um ihre Meinung über die drei Jünglinge fragte, entgegnete sie rasch: »Hiller würde ich mir zum Hausfreund wählen, Chopin zum Gatten, Liszt – zum Geliebten!«

In jener Zeit fingen die Frauen an ihn als Menschen zu necken und zu reizen, ihm zu trotzen und zu schmeicheln – Beziehungen herüber und hinüber, die sich in seinem Spiel gleichsam dramatisirten. Denn sein ganzes Wesen war zu originell und poesiereich und er zu hoch als Künstler, als daß es ihm möglich gewesen wäre, sich auf dem gewöhnlichen Boden der Salonverhältnisse, in der Grenze banaler Phrase und formeller Höflichkeit zu bewegen. Es setzten sich diese Beziehungen in ihm um in Poesie. Sie wurden am Klavier zu Monologen und Dialogen und alle die Reibungen, die ihm als Menschen entgegentraten, erblühten im Sturm und Sonnenschein innerer Erregung zu dem geistigen Zauber, der sein Spiel so einzig charakterisirte. Chopin's Musik war ihm nach dieser Seite die erste Dolmetscherin im Salon. Durch sie lernte er die Sprache reden, deren Mysterien ihn von Frauen vergöttert, von Männern beneidet werden ließ.

Chopin der Komponist berührte List weniger als Chopin der Poet. Als Komponist berührte er ihn eigentlich kaum, und doch stark nach einer bis dahin mehr als unwesentlich in der Musik erachteten Seite. Läßt sich auch das von Liszt über Chopin Gesagte, »daß er an tausend Phantasmen und himmlischen Visionen« sich hingab, auf ihn selbst in Anwendung bringen, so liegt das in einem verwandtschaftlichen Theil ihrer Naturen begründet, nicht in dem Einfluß des einen auf den andern. Bei diesen folgte Liszt eigenartig dem Zuge seines Wesens, wie Chopin dem seinigen. Seine breiten Fittige trugen ihn jedoch bald über die Grenzen Chopin's, dessen »innere Erlebnisse die Ereignisse seines Lebens« bildeten. Sie erhoben sich zur Welt;[229] nach dieser Seite war Liszt Mann, Chopin weiblich. Jener gemeinschaftliche Zug beider gehört auch mehr dem Poeten an als dem Komponisten. Bezüglich des letzteren sind ihm durch Chopin nur in einem Moment Anregungen zugeflossen, die nachhallend auf ihn gewirkt haben. Er betrifft den eigenthümlichen ornamentischen Theil der Chopin'schen Kompositionsweise, welcher traumgespinnstartig die Melodien zu umschweben scheint und nicht mehr Schmuck, sondern integrirender Bestandtheil des Kunstwerkes ist – ein Moment, welchem wir in der Klaviermusik Chopin's überhaupt zum ersten Mal begegnen. Seine Ornamentik ist ebenso neu wie einzig. Liszt sagt von ihr, daß Chopin »dieser Schmuckart, deren Vorbild man bisher nur in der Fioriture der alten großen Schule italienischen Gesangs gefunden, das Unerwartete und Mannichfache verliehen, das außerhalb des Vermögens der menschlichen Stimme liegt, während bis dahin nur die letztere von dem Piano in den stereotyp und monoton gewordenen Verzierungen sklavisch kopirt worden war. Chopin erfand jene bewundernswürdigen harmonischen Progressionen, die selbst den durch die leichte Natur ihres Sujets auf irgend eine tiefe Bedeutung keinen Anspruch erhebenden Blättern einen werthvollen ernsten Charakter verliehen«.

Chopin's Ornamentik, bei der die strenge Feile ihres Meisters sich niemals verwischte und architektonische Logik niemals entschwand, rief in Liszt's Erinnerung die merkwürdigen, jedoch Chopin's Wesen vollständig entgegengesetzten Fiorituren wach, die der fidelnde Zigeuner seiner Heimat der Geige in so wunderbarer Freiheit entlockte und die ihn als Kind auf heimatlichem Boden so magnetisch angezogen hatten – eine Ornamentik so anders als die aller Nationen und Volksstämme der Welt! Ureigen, üppig, wild und zart umschlang und umschmiegte sie die Melodie, bald deren seelischer Hauch scheinend und bald wieder sich gesättigt zeigend vom Zigeunerwesen mit seinem Trotz und seiner Verachtung, mit seinem Schmerz und seiner Lust, sei nem Stolz und seiner Schwermuth. Chopin's Ornamentik hatte nichts mit diesem Zigeunerwesen gemein als die eine charakteristische Seite derselben, die halb Seufzer der Liebe halb Seufzer des Schmerzes dem einzelnen Melodieton zu entsteigen scheint. Aber selbst diese Gemeinsamkeit trug bei Chopin einen andern Stempel: den der Kunst, während dort alles unmittelbaren Quellen aus der Erde Schoß glich. – [230] Chopin's Ornamentik entwickelte nicht die ganze Skala slavischer Empfindung: sie blieb in den Grenzen des polnischen Nationalcharakters. Ritterliches Sporengeklirr in der Mazurka glich sie im Walzer und Nocturne geschmeidigen Ranken, in welche die Sehnsucht und die Elegie, der historische Schmerz der Polen, sich hineinstahl.

Sie wirkte zweifellos auf Liszt ein. Als dieser auf seinen späteren Kreuz- und Querzügen sich jener Unmittelbarkeit bemächtigte, mit welcher die ungarischen Zigeuner, dieser urmusikalische Volksstamm, seine Fiorituren schuf, machte sich die Disciplin Chopin's bemerkbar, seiner Ornamentik künstlerischen Werth und künstlerische Gestaltung verleihend. Auch bei ihm wurde sie im schärfsten Sinn des Wortes und in ausgebreitetster Weise integrirender Bestandtheil des Kunstwerks.

Nach dieser Richtung war Chopin's Einfluß auf Liszt als Komponist. Im ganzen begnügte sich letzterer die Werke desselben am Klavier zu reproduciren. Nur zu jener Zeit, als beide noch Jünglinge den pariser Salons angehörten, komponirte er einige Kleinigkeiten im Stile Chopin's: seine »Apparitions«, drei Klavierstücke (siehe Kapitel XIV), die damals keine weite Verbreitung gefunden haben. Nach kompositorischer Richtung wurden nur Hektor Berlioz's Einwirkungen schwer wiegend für ihn. Nichts destoweniger waren die ihm durch Chopin gewordenen Anregungen, so verflüchtigt sie auch scheinen mögen, doch so eindringlich poetischer Art, so zaubervollen Charakters, daß sie neben jene sich stellen. Liszt hat die historische Bedeutung beider Künstler, des einen für den Fortschritt der Klavier-, des andern für den Fortschritt der symphonischen Gattung der Musik erkannt. Hektor Berlioz hatte die Romantik in der Poesie dramatischphantastischer Scenen, Chopin in der Poesie lyrischer Empfindung gefunden – zwei Richtungen, welche ideell Liszt gleich stark berührten und in seinem Feuergeist zu einer verschmolzen am Klavier und durch dasselbe damals zum Ausdruck kamen.

Der Zauber der Muse Chopin's aber zusammengehalten mit dem Zauber des Wesens Liszt's, das verwandtschaftliche poetische Element beider, ihr sich ergänzendes Genie, ihre sich ergänzende bahnbrechende Künstlerschaft, der Umschwung, welchen sie auf dem Gebiet der Klaviermusik hervorgerufen, die neuen Phasen, welche sie der Musik überhaupt entwickelten, selbst ihre äußere Stellung[231] zu den pariser Salons, kurz ihre ganze Künstlererscheinung lassen Chopin und Liszt in jener Zeit künstlerischer Hexenküche, wo der Boden unter den Füßen brannte und Blitze über den Häuptern zuckten, als ein Dioskurenpaar erscheinen, das – auf der einen Seite Chopin träumerischen Blickes, auf der andern Liszt mit kühn empor gewandtem Haupte – auf seinen Händen göttliche Funken der Zukunft entgegen trug.

Wie ihr verwandter Genius zwischen ihnen die innigsten künstlerischen Beziehungen geknüpft, so walteten zwischen ihnen die innigsten menschlichen Beziehungen. Und wenn in späteren Jahren seitens Chopin's eine Verstimmung gegen Liszt sich bemerkbar machen wollte7, so lag das nicht in ihren eigenen gegenseitigen Beziehungen; denn nie hat künstlerischer Neid oder künstlerische Eifersucht ihre Liebe und Bewunderung entweiht8 und ihr persönlicher Verkehr war stets getragen von diesem Gefühl. Aber Chopin's empfindliches und überreiztes Seelenleben konnte sich namentlich da, wo er liebte, verletzt fühlen in dem Andern. Sein liebendes Herz war parteiisch. Liszt hat sich ihm gegenüber nie verändert und Chopin's Gefühl für Liszt ist nie erloschen, wenn es auch momentan getrübt sich äußern mochte.

Als der in der Blüthe menschlichen Lebensalters stehende Chopin, wie eine Silbertanne vom Sirocco getödtet, ins Grab sank, setzte ihm Liszt mit seinem Epitaph »Chopin« ein bleibendes Denkmal. So konnte über ihn nur Einer schreiben, der ihn geliebt, ihn verstanden und – über ihm stand. –[232]

Nur zweimal in seinem Jünglingsleben hatten Liszt innige Beziehungen der Freundschaft mit Männern verbunden. Der eine und zuerst heimgegangene Freund war Chopin, der edle Pole, der lyrische Tonpoet unter den Musikern, um dessen verstummte Harfe sein tiefbewegter Freund kein Welken kennende Cypressen und Immortellen gewunden. Liszt's Buch über Chopin – geschrieben in Weimar 1849 – gehört zu den bedeutendsten Schriftstücken der musikalischen Literatur. Nicht nur, daß es uns in die Mysterien des Geistes Chopin's einführt: es giebt uns auch eine Ahnung von den Mysterien des Genies überhaupt, von des letzteren Denken, Fühlen und Walten, von dem Zauberkreis, dem sein Bewegen gehört, aber auch von seinen tiefen Leiden und Schmerzen, von der Agonie der Seele, die der göttliche Funke über dasselbe verhängt, gleichsam zur Sühne seines höheren Vorzuges gegenüber den andern Menschenkindern. Denn so gewiß kein Menschenleben dahin sinkt, ohne von einem Strahl der Freude getroffen zu sein, so gewiß senkt kein Genie seine Fackel ohne Martyrium.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Fußnoten

1 G. Sand's »Lucrezia Floriani«.


2 Die Musikgeschichte der neuen Zeit hat dieses Verhältnis noch nicht so recht gewürdigt und kaum eine seiner weit über die Historie der Klaviermusik hinausgehenden Konsequenzen gezogen, eine Aufgabe, welche nebenbei bemerkt für den Scharfsinn des auf diesem Gebiete heimischen Historikers und Theoretikers sehr lohnend sein dürfte.


3 Nach Liszt.


4 Dem Brief einer hochbedeutenden Persönlichkeit entnommen.


5 Schumann's Gesammelte Schriften: III, 162.


6 Liszt's »Chopin«.


7 Karasowsky macht in seiner Chopinbiographie die Bemerkung, daß sich Chopin in Briefen an seine Verwandten »bitter über Liszt beklagt habe«, ohne den Grund der Klagen anzugeben. Solche halbe Bemerkungen werfen immer auf den einen oder den anderen Theil verdächtigende Schatten, und man hat hier das Gefühl, als habe Liszt gegen Chopin irgend ein Unrecht begangen, während doch keines vor lag: es war die Nohant-Luft, die für Liszt nicht günstig wehte.


8 So manche Anekdoten, welche während der letzten Jahre deutsche Blätter brachten – Nacherzählungen aus einem in »Le Temps« erschienenen und von Rollinat verfaßten Aufsatz über Chopin, Liszt und das Leben in Nohant – sind theils Erfindungen theils ganz veränderte Thatsachen. Das vortreffliche Gedächtnis Liszt's kann sich z.B. des musikalischen Echospiels auf der Terrasse in Nohant in keiner Weise erinnern, so wenig wie jenes Abends, wo er bei ausgelöschten Lampen Chopin's Spiel – als Revanche für eine kleine Niederlage – so täuschend imitirt haben soll, daß die Zuhörer alles Ernstes wähnten, Chopin sitze vor dem Piano.

Quelle:
Ramann, Lina: Franz Liszt. Als Künstler und Mensch, Band 1, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1880.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Lessing, Gotthold Ephraim

Miß Sara Sampson. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen

Miß Sara Sampson. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen

Die tugendhafte Sara Sampson macht die Bekanntschaft des Lebemannes Mellefont, der sie entführt und sie heiraten will. Sara gerät in schwere Gewissenskonflikte und schließlich wird sie Opfer der intriganten Marwood, der Ex-Geliebten Mellefonts. Das erste deutsche bürgerliche Trauerspiel ist bereits bei seiner Uraufführung 1755 in Frankfurt an der Oder ein großer Publikumserfolg.

78 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon