VIII.

Hektor Berlioz's Einfluß auf Liszt.

(Paris 1832–1835.)

Individuelle Verwandtschaft zwischen Beethoven und Liszt. Verschiedenheit der Individualität Berlioz's und Liszt's. Des ersteren Einfluß nach Seite der Harmonic. Fétis. – Liszt's »Pensée des Morts« und religiöse Stimmung.


Aus dem geschichtlichen Rückblick des vorigen Kapitels ergiebt sich ganz von selbst, wo Liszt's innerstes Wesen als Künstler seine Anknüpfungspunkte gefunden und wie weit die französischen Romantiker bleibend auf ihn einwirken konnten. Seine Individualität trägt nicht die Grundzüge der letzteren, aber die wesentlichen Momente, welche Beethoven zu einer Erscheinung modernen Geistes stempeln, zeigen sich untrüglich schon in seinen Jünglingsjahren.

Liszt's Wesen wurzelt wie das Beethoven's im Gefühl; von Kindheit an gleicht es einer lyrischen, höher und höher steigenden Flamme. Sodann bei Liszt schon in den ersten Jünglingsjahren jener große nach dem Universellen strebende Zug der Ideenwelt, wie er bei Beethoven erst in dessen Reifezeit auftrat – man denke an den Entwurf der Julisymphonie des neunzehnjährigen Jünglings und vergleiche ihn mit dem Inhalt der neunten Symphonie! –; bei Liszt ferner das tiefe der Menschheit zugewendete Gefühl, das auch den deutschen Meister so gewaltig ergriffen; bei Liszt endlich, aber ausgeprägter und entschiedener als bei Beethoven, die Hingabe an das religiöse Element, dieser weite, nach Objektivität über Erde und Welt hinausstrebende Flug des Gedankens und der Empfindung! Das sind Geisteseigenschaften,[204] welche die Romantik wohl sämmtlich berühren und auch in sich tragen kann, aber nur bruchstückweise und nicht als Grundzüge ihres Wesens.

Liszt's ganze Naturanlage zeigt sich hiemit als eine, welche wohl romantische Elemente in sich trägt, aber über diese hinausstrebt und hinausweist. Wenn nun trotzdem die Romantiker von großer und bleibender Bedeutung für seine künstlerische Richtung wurden, so ist dieselbe nicht in jenen Seiten zu suchen, welche dem Moment der Zeitgeschichte angehören, sondern zunächst in den Momenten, welche der zukünftigen Entwickelung der gesammten Kunst vorarbeiteten; sodann in dem specifisch musikalischen Einfluß, den Berlioz auf ihn ausgeübt hat und den wir schon im all gemeinen bezeichnet haben. Man hat Liszt als zu den französischen Romantikern gehörend bezeichnet. Das ist ein Irrthum. Er hatte eine romantische Periode in den Jahren seiner Entwickelung durchgemacht, ohngefähr so, wie ideal angelegte Naturen eine Weltschmerzperiode durchmachen, aber weiter ging sie nicht. Der reife Mensch schüttelt ab, was in den Jahren innerer Gährungen von Außen kommend sich an ihn gehängt. Nur Verwandtes, das sich ihm assimilirt, bleibt. Wie Paganini's technische Wunder die Wunder seiner Technik entbanden, so entbanden die Ideen der französischen Romantiker seine Ideen bezüglich der Form und Darstellungsobjekte der Instrumentalmusik. Liszt's künstlerisches Fundament war germanisch, wurde aber durch das französische Element erweitert.

In jenen Jahren aber, als die französische Romantik ihren Blocksbergtanz in seiner ganzen Tollheit aufführte, machte er einige ihrer Soli mit. Diese jedoch haben nach künstlerischer Seite überwiegend in seinen pianistischen Leistungen und in seinen Improvisationen am Klavier Ausdruck gefunden; kaum daß ein Schatten derselben auf seine jener Periode angehörenden Klavierkompositionen, viel weniger auf seine späteren symphonischen Werke gefallen wäre. Der Haupttheil seiner romantischen Soli gehört seinem persönlichen Leben an.

Wie einige Zeit vorher in die saint-simonistische Bewegung, so trat der jugendliche Liszt in die musikalische: aufnehmend, sich sättigend an ihrem Inhalt. Mit Enthusiasmus schloß er sich Berlioz an, welcher zurückgekehrt von seiner italienischen Reise am 9. December 1832 seine Symphonie »Episode etc.« in einem von ihm gegebenen Koncert im Saal des Konservatoriums zur[205] Aufführung gebracht hatte. Nach dieser Aufführung war es, daß Liszt die Partitur derselben dem Klavier übertrug.

Berlioz's Einfluß machte sich mit der Zeit nach zwei Richtungen der musikalischen Komposition hin bei Liszt geltend: nach technischer und nach kunstprincipieller.

Berlioz war nicht nur Meister der Instrumentation: hier war er Entdecker, Erfinder, bahnbrechendes Genie. Mit wunderbarer Gewalt wußte er dem Orchester Kraft, Glanz und Schärfe der Charakteristik zu verleihen, wie sie vor ihm kein Meister besessen. Es schien, als habe die Natur ihm das Geheimnis abgetreten den Dialekt jedes Instrumentes verstehen und sprechen zu können.

Ähnlich war es mit seinen Harmonien. Er entriß jeden einzelnen Akkord gleichsam dem Strom allgemeiner Empfindung und legte dessen individuelle Farbe, Sprache und charakteristische Physiognomie dar. – Nach diesen kunsttechnischen Seiten hin hat Berlioz seine Mit- und Nachwelt befruchtet, wie kaum ein anderer Meister. Hier auch liegen Momente höchster Anregung für Liszt. Berlioz's instrumentale und harmonische Kraft hat wesentlich auf Liszt eingewirkt. Ebenso die charakteristische Schärfe derselben. An ihr erstarkte ein verwandter Zug seines Geistes, der insbesondere nach harmonischer Seite immer nach Äußerung seiner selbst gestrebt hatte, aber gehalten durch klassisch-harmonische Disciplin nur in seinen Improvisationen am Klavier nach Außen getreten war. Nach Seite harmonischer Kombinationen und Modulationen hat unter seinen Zeitgenossen. Berlioz Liszt's Geist am eindringlichsten angeregt.

Aber auch ein Musikgelehrter, Franz Joseph Fétis, welcher durch Hypothesen, die er über zukünftige Entwickelungen harmonischer Fortschreitungen und Verbindungen aufstellte, den noch theoretisch ungeprüften Kühnheiten neuer Kombinationen Vorschub leistete, gab Liszt Anregung und ist neben Berlioz zu nennen. Während sich aber die Anregungen des letzteren auf die Praxis beziehen, beziehen sich die des Musikgelehrten auf die Idee der Praxis. Fétis nämlich hielt in Paris im Winter 1832 Vorträge über Philosophie der Musik, welchen – wie er in der »Revue musicale Belge« erzählt – auch Liszt beiwohnte. In diesen Vorträgen hatte er über die Zukunft der Tonkunst in Bezug auf Ton und Harmonie gesprochen und die Ansicht aufgestellt, daß der »Endpunkt dieser beiden in einer gesteigerten Annäherung aller Töne[206] und Tonarten und folglich auch aller harmonischer Fortschreitungen, die bis dahin nicht gebräuchlich waren, bestehen müsse«, welche harmonische Richtung er mit dem Wort »ordre omnitonique« bezeichnete. Fétis sagt weiter, daß diese Idee Liszt sehr frappirt habe und in seinem Geist zu einer unerschütterlichen Wahrheit geworden sei. Fétis' Hypothese war ein dunkles, hingeworfenes Wort, zu gehaltvoll, um vergessen werden zu können, zu wenig bestimmt entwickelt, um für die Praxis unmittelbar brauchbar zu erscheinen, und doch wieder zu sehr im Gefühl der Zeit liegend, um von den fortschreitenden Geistern nicht als eine Wahrheit empfunden zu werden. Liszt empfand das. Er sagte sich, daß eine Omnitonie späteren Generationen vorbehalten sei, und äußerte sich auch, daß es Wahnsinn sein würde in der Gegenwart dieselbe verwirklichen zu wollen, daß man nur Schritt für Schritt vorwärts gehen könne und die Kunst so von selbst ihr Ziel erreiche. Der Gedanke der Omnitonie setzte sich jedoch fest in ihm. Durch ihn bildete sich wesentlich die für die Gestaltung der neuzeitlichen Tonkunst so bedeutungsvolle Überzeugung aus, daß »alles, was unmittelbar einem sich in den Grenzen des Schönen und Erhabenen bewegenden Gefühl entspringt und ihm in seiner Äußerung entspricht, erlaubt und berechtigt sei, daß alles dieser Unmittelbarkeit angehörende – obwohl vom Künstler mehr geahnt als ihm bekannt – ein Ziel habe, dem es zustrebe, zustrebe in jeder Zeit, soweit es in jeder Generation liege, bis allmählich das Harmoniesystem dort ankomme, wo die Grenzen, welche die Diatonik, Chromatik und Enharmonik trennen, fallen und die ordre omnitonique erreicht sei, wodurch jede Empfindungssphäre die ihr entsprechende Tonfarbe finden werde.« Von diesem Ziel harmonischer Entwickelung überzeugt fand Liszt den Muth, was er empfand und wie er es empfand, in seiner Ausdrucksweise fest zu halten. Ein echtes Genie grübelte und spekulirte er nicht. Aber zu sehr Intelligenz, um sich der Empirik überlassen zu können, prüfte er stets den charakteristischen und Empfindungsgehalt seiner neuen harmonischen Kombinationen, er prüfte sie im Lichte der Idee des Wahren.

Die von Fétis aufgestellte Hypothese von derordre omnitonique ward in dieser Weise, wie er selbst sagte, in Liszt's Geist allmählich zu einer unerschütterlichen Überzeugung, welche von großem Einfluß auf sein Schaffen wurde. Interessant aber ist es, daß[207] alle die Funken, welche zündend ihn ergriffen, so ziemlich in ein und dieselbe Zeit fallen. Die von Fétis erhaltenen Anregungen traten ergänzend zu denen von Berlioz – jene zielsteuernd, diese befruchtend. Unmittelbar und lebendig wirkten die Berlioz'schen Klangkombinationen auf ihn. Das Neue derselben lockte bei ihm Neues hervor, die fremde Kraft forderte seine eigene heraus.

Was die Einwirkungen Berlioz's bezüglich Liszt's Instrumentation betrifft, so fallen diese in eine spätere Zeit und machten sich – wie auch die nach harmonischer Seite – mehr indirekt als direkt bemerkbar durch die Berlioz verwandte Schärfe charakteristischer Klanggebung, Wahrheit und Bestimmtheit des Ausdrucks.

Näher liegend und von größerer historischer Tragweite waren jene Einflüsse des Berlioz'schen Geistes, welche mit der Romantik nach Seite des Inhalts und der Form im Zusammenhang standen: die kunstprincipiellen. Berlioz's Ideen über Musik, sein entschiedenes Vorgehen die Form von den klassischen Typen zu befreien und mit poetischen Ideen zu verbinden, sein Bestreben nicht nur die Tonkunst in die Dichtkunst hineinzuheben, sondern auch seine Musik gleichsam aus poetischen Ideen herausfließen zu lassen, gaben Liszt bleibende Eindrücke. Freie Form! poetischer und ideeller Gehalt! mit Feuer und Sturm faßte er diese Ideen auf, sich als Kämpe für sie kühn neben den bereits von der Kritik halb vervehmten halb gefürchteten, von den Musikern wenig verstandenen, aber viel verkannten und von dem Publikum mehr als Kuriosum betrachteten Hektor Berlioz stellend. In diesem Moment sehen wir Liszt, der in den Anschauungen der Klassicität herangebildet war, der nach Seite der Reproduktion, wie der Produktion ihre Formen als Ziel und Maßstab aller Kunstthätigkeit anzusehen gelernt hatte, in dem Augenblick, wo seine Eigenartigkeit nach Gestaltung ringt, den Boden des geschichtlich Sanktionirten scheinbar verlassen und seinen Geist zusammenklingen mit der anti-klassischen Strömung der Zeit.

Aber nicht unvorbereitet trat dieser Moment ein; auch brachte er kein neues Reis, das auf den jugendlichen Stamm gepfropft worden wäre. Blicken wir zurück auf die besonderen Äußerungen seines Talentes als Kind, so zielten sie auf eine Ausdrucksweise hin, die sich frei aus sich selbst schafft. Seine leidenschaftliche Liebe zum Improvisiren, das oft zum Schrecken seines Vaters und seiner Lehrer improvisirende Wiedergeben der Kompositionen anderer, seine[208] Liebe zu dem über die Klassiker hinausgehenden Beethoven, sodann seine entschiedene Antipathie gegen formelle Musik (Czerny, Clementi) – das alles sind Vorläufer der Richtung, welche Liszt's Wege von nun an verfolgen. Er war ein geborener Neuerer, so wie Beethoven »mit einem obligaten Accompagnement auf die Welt gekommen«,1 nur hatte er seine Devise noch nicht gefunden. Es hatte sein Umgang mit Urhan ihr wohl die ersten Anlaute gewonnen, aber es war nur ein Anlaut. Seine subjektive Natur, hierzu sein Alter, das der Periode angehörte, deren Tonika romantisch ist, die Zeit mit derselben Tonika – das alles that das Übrige, und so stürzte er sich, aber auch hier am Steuer eines Gott und die Welt einenden Idealismus in die gährenden Wogen, dem sympathischen Klange folgend, den die romantischen Ideen und Berlioz's Kompositionsart in ihm erweckt hatten.

So zeigt sich Liszt's künstlerischer Ausgangspunkt gleich dem der Romantiker subjektiv. Jedoch trotz seines innigen Anschlusses an Berlioz und trotz des gleichen Strebens die Instrumentalmusik – wenn auch zunächst nur in den engeren Grenzen der Klaviermusik – zu einem bestimmten Inhalt durch Verbindung mit der Poesie vorzuführen, ergaben sich, obwohl anfangs noch verdeckt, inhaltliche und formelle Unterschiede, welche aus der Verschiedenheit der Individualität und des Bildungsganges beider Künstler hervorgehen mußten, aber erst Jahrzehnte später zu ihrer endgültigen Ausprägung gelangten. Man hat Liszt, ebenso wie man ihn noch heutigentags als »französischen Romantiker« bezeichnet, einen »Nachahmer« Berlioz's genannt, was aber so wenig richtig ist, als wenn man beispielsweise Beethoven einen Nachahmer Mozart's nennen wollte. Jeder war ein Ganzes für sich, trotz einer gewissen Zusammengehörigkeit. Schon damals, als Liszt noch Jüngling den eigenen Sturm und Drang in den Sturm und Drang der ihn umgebenden Atmosphäre tauchte, treten Unterschiede zwischen beiden so stark ausgeprägt hervor, daß seine Eigenartigkeit Berlioz gegenüber unverkennbar ist.

Berlioz's Natur war keine so harmonisch angelegte wie die seines jüngeren Freundes und die harten Kämpfe, in welche seine[209] Neigung zur Musik, sowie seine leidenschaftliche, aber anfangs unerwiderte Liebe zu der englischen Tragödin Smithson ihn geworfen, waren keineswegs dazu angethan die Ecken seiner Natur zu mindern. Bei edler Gedankenrichtung, bei scharfem Erkennen des Bedeutenden in der Kunst und bei energischem Ringen nach ihrer Palme war er doch innerlich zerrissen und sein Wesen versetzt mit bitterer Ironie, die ihn durch sein ganzes Leben begleitet hat. Der Gedanke, daß selbst durch alle Widersprüche des Lebens göttliche Ordnung hindurch gehe, hat zu keiner Zeit beruhigend auf ihn eingewirkt. Seine Ironie bohrte sich in die Ausgeburten der Phantasie, wie sie in seinem Programm zur Sinfonie fantastique uns entgegen treten, so ganz verschieden von Liszt's Wesen, von seinen inneren Bedürfnissen und seiner geistigen Richtung. Ein Kontrast tritt uns hier entgegen, der nach menschlicher Seite in dem Liebeszug Liszt's für die Menschheit und seinem Athmen nach göttlichen Dingen gegenüber dem zur Verbitterung sich hinneigenden Wesen Berlioz's am schärfsten hervortritt und auch nach künstlerischer Seite sich nicht verleugnen konnte. Hier ist er, faßbar insbesondere durch das Programm der »Sinfonie fantastique« verglichen mit einem Vorwort, welches Liszt einer Klavierkomposition vorausgeschickt, die, obwohl nur Fragment, doch als sein erster Versuch der Poesie sich anzuschließen zu betrachten ist. Dieses Fragment ist die Grundlage der »Pensée des Morts« überschriebenen vierten Nummer der Klavierstücke: »Harmonies poëtiques et réligieuses«, welche 1834 von ihm komponirt wurde.

Liszt's Vorwort ist nicht von ihm selbst entworfen. Es bringt Worte Lamartine's, keine Lebensepisode wie Berlioz's Programm. Ein lyrischer Seufzer spricht es von Gott suchender, Gott athmender Stimmung. Kann auch der weltschmerzliche Hauch, welcher des Dichters religiöse Harfe umzieht, sich nicht verbergen, so liegt das eben so wohl in der Atmosphäre der Zeit wie in der individuellen Klangsaite Lamartine's. Bei Liszt wie bei Berlioz liegt der Ausgangspunkt in einer inneren Wunde. Während aber Berlioz, es läßt sich sagen, mit ersichtlicher Wollust seinen stark im Diesseits wurzelnden phantastischen Schmerz den Orgien entfesselter Phantasie überläßt, sucht Liszt über seinen Schmerz, welcher einer andern Quelle – Pensée des Morts – entspringt, sich zu erheben durch Hingabe an die Gedankenwelt, die ihr Centrum in der Gottidee fühlt und sieht.[210]

Diese Verschiedenheit geistiger Richtung hat sich seiner Zeit auch im realen Leben ihren Ausdruck geschaffen. Als der Jüngling Liszt seiner Liebe entsagte, gab er sich religiösen Überschwänglichkeiten hin, Berlioz – warf sich wilden Leidenschaften in die Arme. – So tritt bei Liszt in Leben und Kunst im Gegensatz zu Berlioz, dessen pessimistische Richtung unverkennbar ist, ein Optimismus hervor, welcher seiner Subjektivität den Anker warf. Ihm bringt der religiöse Glaube die Lösung geistiger Leiden, dort aber ist ein Hineinwühlen in die wildesten Dissonanzen, denen keine Lösung folgt.

Es ist bedeutsam, daß die Dissonanz von den echten Romantikern untrennbar ist. Byron, Kleist, Hofmann, Heine – sie leben und sterben in ihr. –

Wie durch die Verschiedenheit der Individualitäten ideelle Unterschiede bei beiden Tonkünstlern unausbleiblich waren, so brachte auch ihr verschiedener Bildungsweg Verschiedenheiten mit sich, die allmählich, trotzdem beide die Freiheit der Form accentuirten, sich auch nach formeller Seite hin sehr bemerkbar machen mußten. Während Liszt's künstlerischer Bildungsweg leicht und eben war, war der von Berlioz schwer und uneben. Er war nicht von Kindheit an für die Künstlerlaufbahn bestimmt. Musik nur als Dilettant betreibend stand er bereits in den Jünglingsjahren, als er diesen Beruf vom Schicksal erzwang. Die Zucht klassischer Schule hatte er nicht in seinen Knabenjahren genossen, wodurch sie, trotzdem er später Aufnahme im pariser Konservatorium gefunden, doch für ihn verloren ging. Sie war zu keiner Zeit ein Leitstern für ihn. Wohl eignete er sich hier eine sichere Kompositionstechnik an, aber sein Geist war bereits zu sehr selbständig entwickelt und der Zeitströmung zugewandt, als daß die klassischen Formen ihn tief hätten berühren können. Der formelle Ausgangspunkt seines Schaffens war durch die Phantasie bestimmt. Bei Liszt war das anders. Während seine Jünglingsjahre nur getragen und bewegt von modernem Geist erscheinen, zeigt sich die Verehrung für die Klassicität bereits dermaßen mit ihm verwachsen, daß sie trotz der auf ihn einstürmenden neuen Ideen nicht ausgelöscht werden konnte, wie seine »Fantasien« jener Zeit, welche eines der nächsten Kapitel besprechen wird, hinreichend beweisen. Seine Subjektivität hatte klassische Disciplin zu ihrer Voraussetzung, gerade so wie seine[211] romantisch-poetischen Sympathien die religiöse Disciplin des Glaubens.

In den beiden Punkten sprechen sich die Grundzüge der Verschiedenheit beider Künstler aus und kommen in Form und Richtung ihrer Werke zur Ausprägung. Der Einfluß aber, den die französische Romantik, speciell Hektor Berlioz auf Liszt ausgeübt, faßt sich in dem Princip der Programm-Musik, welches gegenüber den klassischen Doktrinen Freiheit des Inhalts und der Form betonte, zusammen.

Liszt's Anschluß an Berlioz und an die Ideen der französischen Romantiker war zur Zeit, als letztere ihren ersten Aufschwung nahmen. Obwohl er aber von ihnen entzündet war, trat doch ihr Einfluß, als er Paris hinter sich hatte und Europa durchreiste, in den Hintergrund; und als der Moment erschien, wo sie sich ausgelebt hatten und andere Phasen der allgemeinen künstlerischen Entwickelung sich eröffneten – ein Zeitpunkt, welcher sich mit dem Jahr 1848 fixiren lassen dürfte –, waren sie bei ihm ein überwundener Standpunkt, ein abgelegtes Kleid, mit dem seine romantischen Soli hinter ihm lagen.

Der erste musikalische Ausdruck seines Anschlusses an die Romantiker, sowie seiner sich nach dieser Seite entwickelnden Eigenartigkeit ist das vorhin genannte Fragment der »Harmonies poëtiques et religieuses«, welches, wie bereits gesagt, später in die den Titel:


Pensée des Morts


tragende Klavierkomposition, deren Betrachtung wir uns nun zuwenden, übergegangen ist. Damals aber hatte sie keinen Specialtitel, sondern suchte nur durch die eigenthümliche Vortragsbezeichnung: »Avec un profond sentiment d'ennui« den Charakter des Inhalts anzudeuten, wobei aber das Wort »d'ennui«, wie der Komponist uns erklärte, in dem tiefen Sinn zu fassen ist, wie Bossuet es gebraucht: »cet inexorable ennui qui est le fond de la vie humaine« – nämlich als »Trübsal der armen Menschenkinder« (Liszt), oder auch in dem Sinn, wie es im Hiob auf französisch heißt: »Pourquoi, mon Dieu, suis-je contraire à vous et plein d'ennui pour moi-même?« – ein Citat, welches Liszt ebenfalls im Zusammenhang mit dieser Komposition[212] zu geben liebte. – Der Titel des Fragments selbst erschien unter der bereits erwähnten Kollektivbezeichnung: »Harmonies poëtiques« etc., welche der 1830 erschienenen Lamartine'schen Gedichtsammlung gleichen Namens entnommen ist. Dem Dichter war auch diese Komposition gewidmet; die spätere Sammlung trägt eine andere Dedikation.

Wie schon bemerkt, hat Liszt seiner Komposition Worte Lamartine's vorangestellt. Dieses Vorwort trägt die Überschrift: »Ces vers ne s'adressent qu' à un petit nombre« und belegt das über die Verschiedenheit seiner und Berlioz's individuellen Richtung Gesagte. Da wohl nicht alle unserer Leser Lamartine's Schriften zur Hand haben dürften, geben wir demselben hier einen Platz. Es heißt:2


»Il y a des âmes méditatives, que la solitude et la contemplation, élèvent invinciblement vers les idées infinies, c'est à dire vers la religion; toutes leurs pensées se convertissent en enthousiasme et en prière, toutes leurs existence est un hymne muet à la Divinité et à l'espérance. Elles cherchent en elles mêmes et dans la création qui les environne des degrés pour monter à Dieu, des expressions et des images pour se le révéler à elles mêmes, pour se révéler à lui: puissé-je leur en prêter quelques unes!

Il y à des coeurs brisés par la douleur, refoulés par le monde, qui se réfugient dans le monde de leurs pensées, dans la solitude de leur âme pour pleurer, pour attendre ou pour adorer; puissent-ils se laisser visiter par une Muse solitaire[213] comme eux, trouver une sympathie dans ses accords, et dire quelque fois en l'écoutant: nous prions avec tes paroles, nous pleurons avec tes larmes, nous invoquons avec tes chants.«


Die Komposition selbst – sie liegt uns in einer 1835 von Hofmeister in Leipzig gedruckten Ausgabe vor – ist merkwürdig. Hält man sie neben die mehrere Jahre vorher edirten Etudes, so scheint es unglaublich, daß sie von demselben Komponisten stammt. Dort – in den Etüden – alles klassisch-formell, hier alles romantisch-frei. Das Stück ist mitSenza tempo bezeichnet und bewegt sich in den verschiedensten Rhythmen: 8/4, 7/4, 4/4, 3/4 u.s.f.; ebenso wechselt Ausdruck und Tempo. Die Harmonien sind edel, aber im Vergleich zu den klassischen etwas ex abrupto. Kühnheit und schmelzende Hingabe der Empfindung – alles im raschen Wechsel unvermittelt nebeneinander. Die verzierenden Spielformen aber wurzeln noch in denen der traditionellen Technik. Betrachtet man die ganze Komposition vom formell-klassischen Standpunkt aus, so läßt sich die gegen Liszt gerichtete Entrüstung der in Zucht und Ehren des klassischen Kultus Ergrauten leicht begreifen und verzeihen. Vom Standpunkt jener Zeit aber und von dem des Entwickelungsgrades des jungen Komponisten aus ist sie ein nicht zu unterschätzendes historisches Dokument, dem das Siegel romantischer Idealität unverkennbar aufgedrückt ist. Sie spricht Liszt's Bruch mit der formellen Musik entschieden aus und signalisirt, wenn auch noch in Hieroglyphen, die Ziele seiner ferneren Entwickelung.

Die 1853 bei Kistner in Leipzig erschienene Sammlung der »Harmonies poëtiques« etc. (zehn Nummern in sieben Heften) desavouirt vollständig diese frühere Edition. Liszt nennt sie hier »tronquée et fautive«.

Bemerkenswerth bezüglich Liszt's individueller Einheit mit seiner Musik ist bei dieser Komposition, daß sie im Einklang mit dem Grundzug seiner bisherigen allgemeinen geistigen Richtung steht, welcher in schärfster Ausprägung einen Geist bekundet, der aus der Fülle dunkler Empfindung mit seltenster Kraft nach dem Lichte des Bewußtseins ringt und die Innerlichkeit, Weite und Höhe dieses Bewußtseins in einen Punkt – Gottgefühl und Gottidee – zu koncentriren verlangt. Liszt's Wort: »Gewissen Künstlern sind ihre[214] Werke ihr Leben« findet hier seine volle Anwendung. Wir gewahren bei dieser Komposition dasselbe Streben, wie bei seinem Wissensdrang und seiner Gefühlsrichtung – überall die Anzeichen einer Natur, welche die engen Grenzen der Subjektivität aufzuheben trachtet, indem sie nach dem Etwas sucht, was diese Grenzen in das Reich der Ideen legt.

In Bezug auf Liszt's musikalisch-religiöse Empfindung springt bei Betrachtung dieser Komposition noch ein Moment ins Auge, das aber seine Deutung erst durch Werke, welche den Meisterjahren angehören, erhalten konnte. Wie das Vorwort der »Harmonies poëtiques et religieuses« wohl auf den religiösen Kultus des Gemüthes, aber nicht auf den kirchlich-gebundenen sich bezieht, so bewegt sich die Musik Liszt's trotz des »religieuse« nicht auf dem Boden musikalisch-kirchlicher Dogmatik, welche letztere wir in dem sich auf den Kirchentönen erbauenden Kontrapunkt erblicken. Senza tempo tastet sie stammelnd nach unbegrenztem Ausdruck einer Empfindung, die frei ohne Leiter sich zur Höhe schwingt, kraft inneren Bedürfnisses, kraft eigener Flugfähigkeit.

Die Laute, die er stammelt, sind religiös, aber nicht kirchlich im historischen Sinn.

Fußnoten

1 Brief Beethoven's an den Musikverleger Hofmeister in Leipzig, datirt 15. Dec. 1810.


2 Deutsch:

Es giebt beschauliche Seelen, welche sich von der Einsamkeit und der Betrachtung unwiderstehlich zu den unendlichen Ideen, zur Religion entrückt fühlen. Ihre Gedanken verwandeln sich in Begeisterung und Gebet und ihr innerstes Sein ist eine Hymne an die Gottheit und an die Hoffnung. In sich und in der sie umgebenden Schöpfung suchen sie nach Stufen emporzusteigen zu Gott, nach Ausdrucksarten und Bildern, ihn sich und sich ihm zu offenbaren: – könnte ich ihnen einige solche darbieten!

Es giebt Herzen, die gebrochen von Schmerz, zertreten von der Welt sich in die Welt ihrer Gedanken, in die Einsamkeit ihrer Seele flüchten, um zu weinen, zu wachen, zu beten: – möchten diese eine Muse bei sich einkehren lassen, Sympathisches in ihren Harmonien finden und bei deren Anhören dazwischen ausrufen: »Wir beten mit Deinen Worten, wir weinen mit Deinen Thränen, wir flehen mit Deinen Tönen!«

Quelle:
Ramann, Lina: Franz Liszt. Als Künstler und Mensch, Band 1, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1880.
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