VII.

Die Romantik in der Kunst unseres Jahrhunderts.

Ein geschichtlicher Umblick.

Die französische literarisch-romantische Opposition gegen die Klassiker. Ihre Ideale. Historische Stellung der Romantik. Die musikalischen Romantiker Frankreichs; Meyerbeer; Berlioz' Programm zur »Episode« etc. – die Deutschlands: Beethoven, Weber, Schumann. Skizze einer Charakteristik Beethoven's und Berlioz's. Die musikalischen Ideale der Neuzeit.


Mit dem Einfluß der Saint-Simonisten und Paganini's auf den jungen Liszt begannen die wesentlich in seine individuelle Entwickelung und künstlerische Richtung eingreifenden Momente. Noch andere Einflüsse machten sich geltend. Andere Geister traten neben Paganini, andere Elemente bearbeiteten den Boden weiter, den die romantische Pflugschar der Jünger Saint-Simon's aufgerissen hatte. Diese anderen Elemente, der Luft der Zeit angehörend und von Allen geathmet, die Theil und nicht Theil an ihr nahmen, verdichteten sich in der Wendung, welche die romantische Poesie auf französischem Boden in dem Kampf der Romantik mit der Klassicität nahm – einer Wendung, deren Charakter durch die sturmreichen Nachwehen der 1830 er Julitage bestimmt wurde und in Gestalt und Richtung von diesen durchtränkt erscheint. Auch hier hieß es: Sturm!

Der Kampf der Romantik mit der Klassicität – auf dem Gebiete der Kunst ein Seitenstück zu dem dem Staatsleben angehörenden Kampf der republikanischen Idee mit dem Feudalismus – war keineswegs eine nur einer der Künste angehörende Erscheinung. Eine Charybdis der revolutionären Fluthen zog er alle in seinen Wirbel; doch nicht zum Tode, sondern als Durchgang zu neuem Kunstleben. Die Dichtkunst, die Musik, die Malerei – alle[176] betheiligten sich an ihm und führten ihn, die Poeten als Wort- und Heerführer an ihrer Spitze, mit Wort, Ton und Bild auf Leben und Tod. Die neuen, kühnen, die Herrschaft der historischen Tradition brechenden Gedanken der Poeten hatten die Sturmglocken aller Kunstgebiete in Bewegung gesetzt – ein Appell gegen die Macht, welche im Begriff war die Lebensader der Kunst zu unterbinden. Das »philosophische Jahrhundert« hatte dem Gedanken den Blick in neue Welten geöffnet, die dem »goldenen Zeitalter« unter Louis XIV. noch verschlossen gewesen; es hatte den Werken des letzteren, den Werken Corneille's, Racine's, I.B. Rousseau's, Lafontaine's, Ch. Rollin's, Bossuet's, Fontenelle's u.A. die Werke seiner Hauptrepräsentanten, die Voltaire's und I.I. Rousseau's entgegen gesetzt; das »philosophische Jahrhundert« hatte unter dem Sturm der ersten Revolution die Gedanken seiner Philosophen mitten hinein in das Leben der Völker gestellt, dem Absolutismus auf dem Thron wie in der Kirche, im Staats- wie im Privatleben, im Wissen und in der Kunst, welchem Gebiet er auch angehören mochte, das Scepter theils zerschlagen theils entrissen; es hatte unserem Jahrhundert die Schleusen geöffnet zu einem neuen Weltinhalt – und dennoch standen die den Klassikern entnommenen Gesetze des »goldenen Zeitalters« der Literatur nicht nur in Kraft, sie spannen sich auch durch ihre historische Tradition zu einem Nessosgewand, das dem nach künstlerischer Verdichtung verlangenden neuen Inhalt den Athem preßte. Ohne diese Gesetze, die in der »Académie française« die Verkörperung literarischer Staatsmacht geworden, konnte kein Lyriker, kein Dramatiker und selbst der gottbegnadetste nicht sein Haupt erheben, ohne daß er es vordem gebeugt unter ihre Regeln formeller Glätte und konventionellen Inhalts. Noch 1829 kam de Vigny's »Othello«, das erste romantische Drama der französischen Literatur, wegen des von der Akademie nicht sanktionirten Wörtchens »mouchoir«, welches der wüthende Mohr entgegen allem tragischen Anstand im Munde führte, zum Fall.

Die literarische Opposition der französischen Romantiker war gegen die stereotypen todten Formen der klassischen Schule gerichtet, gegen ihre Leben und Fortschritt hemmenden Sprachgesetze, gegen die Beschränkung der Stoffe, des Inhalts, der Bewegung, kurz gegen das unter staatsakademischem Schutz und Schirm stehende[177] Formelwesen der Dichtkunst, welches der Mittelmäßigkeit Vorschub leistete, aber das Genie unterdrückte. Die Opposition accentuirte das Leben und die Freiheit der Bewegung, sowohl nach Seite des Inhalts wie nach Seite der Form, Accente, die, ein Nothschrei verkümmernder Poesie, einen Widerhall auf allen Kunstgebieten der am höheren Kulturwerk thätigen Nationen fanden.

Diese kräftige und gewaltsame Bewegung auf dem Gebiet der Poesie übertrug sich in Paris, dem Centrum Frankreichs, auf das Gebiet der andern Künste und so entwickelte sich eine allgemeine Opposition gegen die französische Akademie und die klassischen Satzungen überhaupt. Vergeblich suchten die Männer des Herkommens den andrängenden Stürmern Stand zu halten: das stolze Gebäude akademisch – klassischer Doktrinen schwankte bis auf seinen Grund. Ohne zum vollständigen Sturz aber kommen zu können, hat es sich bis zur Stunde, wenn auch gegenwärtig mehr Gespenst als Lebenskraft, zwischen zwei aus dem Kampf der Zeit immer klarer und sichtbarer sich erhebenden einer innigen Verschmelzung zustrebende geistige Mächte zu drängen und ihre Einigung wehrend, zu erhalten gesucht. Diese geistigen Mächte sind das gereinigte Wesen der Klassicität und die geläuterten Ideen der Romantik. –

Man hat die französische Romantik der dreißiger Jahre oftmals als eine wilde Marotte des specifisch-französischen Zeitgeistes aufgefaßt, als eine Erscheinung, die dem Kunstgebiet mehr von Außen angeflogen sei als sich organisch aus dem Stamm der Kunst entwickelt habe, die ihrem Wesen und ihrer Form nach mehr dem Gebiet der Pathologie als dem gesunden Fortschritt der Kunst angehöre – Anschauungen, welche wahr und irrig zugleich nur eine relative Bedeutung in sich tragen. Es ist wahr, die französische Romantik scheint angeflogen von Außen, eine Windsbraut, gejagt von dem nicht allein über Frankreich, sondern auch über andere Staaten und Völker des civilisirten Occidents dahin brausenden Sturm entfesselter Leidenschaft und Phantasie. Es ist wahr, ihre dem Boden der Kunst angehörenden Gebilde, die unmittelbar unter dem Brausen und Wehen des Sturmes der Zeit entstanden waren, tragen alle Merkmale erschütterter Ordnung, alle Zeichen revolutionären Geistes, so daß sie mehr krankhaften Grimassen als organisch – gesunden Gebilden gleichen. Das gilt von den derzeitigen Werken der Dichtkunst (Viktor Hugo, George[178] Sand), von den Werken der Malerei (Delacroix, Boulanger, Horace Vernet), wie von denen der Musik (Meyerbeer, Berlioz). Aber sie waren der Ausdruck einer geschichtlichen Stunde, welche gewaltsam das Princip eines neuen Kunstideals dem Genius des Fortschrittes zu entreißen suchte. In diesem Gewaltakt liegt ihre Bedeutung. Er stellte dem im Formalismus erstarrten klassischen Geist ein anderes Extrem zur Seite: die entfesselte Phantasie. Alle Banden schienen gesprengt, die Aufregung die einzig behagende Kost und die Übertreibung Lebensbedingung.

Die sociale Situation jener Stunde, durch den Revolutionsschwindel auf die Spitze getrieben, gab hinreichend Motive zu diesem Zustand. In den Händen der vom Bürgerkönigthum gekrönten. Bourgeoisie lagen die regierenden Zügel; neben der früher alleinherrschenden Macht des Adels erhob sich zu gleichen Rechten ein bis dahin ihm untergeordneter Stand. Reichthum, Ehre, Ruhm bewegten sich ohne Ständezwang; auch die Liebe sollte ohne Zwang vernünftiger Sitte vor der Macht dämonischer Naturgewalten in den Hintergrund treten: welche Quelle kontrastirender Motive, geboten von der Unmittelbarkeit damals gegenwärtiger Verhältnisse! Die Dichter schürzten die Knoten des Reichthums, der Ehre, des Ruhms, der Liebe mit der Souveränität der Phantasie, der Leidenschaft, der Willkür, der Gesellschaftsklassen, der sich bekämpfenden hohen und niedrigen Geburt. Die schreiendsten Kontraste standen an Stelle logischer Entwickelung und die Unmöglichkeit hatte den Platz der Naturwahrheit eingenommen. So konnte es kommen, daß, wie Liszt mit pikantem Humor jene Zeit geißelt,1 »Viktor Hugo keusche Kourtisanen, hingebende Mütter und Giftmischerinnen in einer Person schuf, daß Nodier mit seinem ›Sbogar‹ paradirte, die schönen Comtesses et Duchesses für den Helden in Eugen Sue's ›Salamander‹ schwärmten und keine unter ihnen der Dorval in Dumas' ›Antony‹ ihren Beifall verweigerte«.

In den französischen Romantikern feierte die moderne Kunst ihre Walpurgisnacht. Das Publikum aber schaukelte sich mit Entzücken auf den nervenprickelnden Wellen des Gruselns. Nichts war ihm zu bunt, nichts zu willkürlich, nichts – zu moralisch häßlich.

Trotz alledem entbehrten die Werke der französischen Romantik[179] nicht des künstlerischen Werthes. Um einen solchen Umschwung im Kunstleben hervorbringen zu können, wie es bei ihren Repräsentanten der Fall war, bedarf es nicht nur der korrumpirenden Phantasie, nicht nur eines zertrümmernden Hammers, nicht nur der aufgezogenen Flagge und des Lärmens der Partei. Es brauchte große künstlerische und geniale Gewalten, um die Dogmen klassischer Doktrin außer Kraft setzen zu können, es brauchte urschöpferische Kräfte, um einem der historischen Sanktion gegenüberstehenden Neuen unbestrittenes Bürgerrecht zu erlangen. Ein berauschender Glanz, ein hinreißender Zauber, eine sinnbethörende Leidenschaft strömten ihre Werke aus und bei aller Entfesselung der Thorheit, des Übermuths, der Leidenschaften und Greuel, tauchte aus ihnen ein Adel der Gesinnung, eine Macht der Überzeugung, ein Glaube an die Unfehlbarkeit der neuen Kunstideen hervor, die eben so bestechend wirkten, wie ihre Phantasie berückend. Es waren große Geister, die an der Spitze der französischen Romantik standen. Gehörten sie auch nicht zu jener Reihe von Genien, welche herrschen durch die Kraft sittlicher Wahrheit, durch den zwingenden Glanz der dem Born geläuterter Ideale entsteigenden Schönheit, so gehörten sie doch zu denen, deren dichterische Kraft ihnen den Stempel des auf seinen Schultern eine neue Welt tragenden Genies aufdrückt.

Die Hauptbedeutung der Romantiker aber ist nicht in ihren Kunstwerken an sich zu suchen – trotz ihres genialen Stempels sind diese doch nur ein in Glanz getauchtes Abbild wilder Gährungen und bunter Leidenschaften –: sie liegt in dem sie leitenden Princip. Der an die traditionellen Regeln gebundenen Kunst stellten sie eine frei der Phantasie entsprungene gegenüber; dem beschränkten Inhalt klassischen Ideals den unbeschränkten Inhalt des modernen Geistes; dem objektiven Absolutismus die Souveränität des Ichs. Sie appellirten nicht mehr an das Gefühl wie die Dichter und Künstler des siècle de Louis XIV. und die des folgenden, des philosophischen Jahrhunderts: sie appellirten an die Unmittelbarkeit der Phantasie; sie sprachen nicht mehr durch konventionelle Formen, sondern durch das im freien Schwung sich bewegende dichterische Bild. Hier liegt ihre Bedeutung für uns. Sie haben, wenn auch zunächst nur für die französische Kunst, die Wendung zum Lebensinhalt der Neuzeit vollbracht und unter allen künstlerisch gebildeten Nationen am entschiedensten den Hebel an[180] die Idee gesetzt: den Kunstinhalt zum Zeit- und Weltinhalt zu erweitern. Zu Gunsten der letzteren Idee haben sie dem »Jahrhundert der Revolutionen« den Sieg errungen. In dieser That ist ihr historischer Schwerpunkt zu suchen, nicht in ihren Werken.

So erscheinen die französischen Romantiker nicht als eine zufällige, der Kunst von Außen angeflogene, sondern als eine mit der allgemeinen Entwickelung der Kunst im Zusammenhang stehende Erscheinung, nur daß dieser Zusammenhang eine der Ordnung des Werdens entgegengesetzte Methode einschlug: die Idee trat in da künstlerische Bewußtsein und Wollen der praktischen Entwickelung voraus, während nach dem Gesetz organisch-geschichtlichen Werdens sich aus und mit der Entwickelung – mit den Werken – die Idee unbewußt schafft. So war der Weg z. B. Shakespear's, so war der Weg Beethoven's und vieler anderer Genien. Jenes methodische Verfahren jedoch, so sehr es außerhalb der Idee höherer Gesetzmäßigkeit zu stehen erscheinen mag, steht darum nicht außerhalb der höheren geschichtlichen Nothwendigkeiten und seine Resultate verlieren dadurch nichts an ihrer Bedeutung für die Fortentwickelung der Kunst. Revolutionen im Staats-, Kultur- und Kunstleben sind nur im Kleinen Wiederholungen jener großen Umwälzungen, durch welche die Natur sich selbst zur Erscheinung gerufen.

Die Romantiker waren Pioniere der Zukunft. Aber nicht der französischen Kunstgeschichte allein angehörend. Nicht nur jenseits des Rheins, auch diesseits desselben wirkten die Kämpfe der Zeit auf die Kunst zurück und führten sie in neue Bahnen. Wie dort auf romanisch-gallischem Boden die Sturmfluth der Zeit im Kampf der Romantiker auftrat, so trat sie hier auf germanischem Boden in der Gestalt der Sturm- und Drangperiode der jungdeutschen Dichter auf. In ihrer Literaturrichtung zeigt sich ein verwandter Geist. Derselbe Kampf gegen die Schablone, gegen die geistige Verengung, gegen den klassischen Dogmatismus, dieselbe der Zukunft entgegen eilende Richtung, im Grunde genommen dasselbe Princip, nur modificirt durch den germanischen Geist, welcher jedoch dem romanischen nicht gegenüber, sondern ergänzend neben ihm stand. Die französische Romantik zeigt sich auch nach dieser Seite hin weder als eine Marotte noch als eine außerhalb der geschichtlichen Entwickelung stehende Erscheinung; sie steht vielmehr im Kreis der großen universellen Kulturbewegung der dreißiger Jahre.[181]

Mit dem französischen Romanticismus sind wir am Entwickelungsknoten der künstlerischen Richtung Franz Liszt's angekommen. Von ihm nahm er die Idee des Fortschrittes der Kunst auf, welche in seinem Phantasie- und Gedankenleben lebendige Wurzeln faßte; von ihm lernte er, daß in dem Hinwenden an die bewegenden Ideen der Zeit und der Nationen der ewige Verjüngungsquell der Kunst zu finden, daß nur das Leben selbst ihr Leben sei. Mit ihm setzte er über die engherzige Technik und über die Typen der in den klassischen Werken wurzelnden Kunstformen hinüber in das anti-klassische Lager.

Liszt's Kunstideale, durch die bis jetzt genannten Einwirkungen – die Saint-Simonistischen und die Paganini's – bereits entflammt, gewannen an Ausdehnung, Weite und Freiheit. Der Anschluß an die Romantiker tritt bezüglich derselben gewissermaßen ergänzend zu seiner Periode ausschließlich religiöser Richtung. Was diese ihnen an Höhe erreichte, das erreichte ihm sein Anschluß an die Romantiker an Weite und Freiheit. Der Einfluß aber, den letztere auf ihn ausübten, koncentrirte sich in der specifisch-musikalischen Richtung derselben. Sie trat entwickelnd zu dem Fundament, welches die deutsche Tonkunst seiner künstlerischen Bildung bereits gegeben hatte und das mit seinem Wesen unlösbar verbunden war. Die deutsche Tonkunst, richtiger noch gesagt: die von Beethoven gegebene klassisch-romantische Richtung derselben war auf dem künstlerischen Webstuhl seiner Entwickelungselemente der Zettel, die französisch-romantische der Einschuß. – Ein Blick auf die letztere, auf die nationelle Verschiedenheit beider und doch wieder ihr historisches Zusammenwirken zum Ganzen wird uns die Leitfäden zu Liszt's Künstlerindividualität nur sicherer in die Hand geben.

Die französisch-romantische Richtung der Tonkunst hatte in zwei Hauptvertretern, in dem deutschen Giacomo Meyerbeer auf operistischem und in dem Franzosen Hektor Berlioz auf symphonischem Gebiet sich Bahn gebrochen. Wie bereits gesagt, traten die neuen Ideen der Literaten umgestaltend in sämmtliche Künste. Während sie diese aber theils durch ihre Werke vertraten theils ihre Advokatur polemisch führten und auch die Maler heftige Angriffe gegen die Akademie geschleudert hatten, standen die Musiker außerhalb polemischer Fragen. Aber sie nahmen die Klänge der Zeit, welche phantastisch verworren, edel und frivol, zügel- und zuchtlos, Neues mehr ahnend als klar ans Licht ziehend, durchdrungen von[182] kunstrepublikanischem Verlangen und doch noch gehemmt von der Zucht der Regel waren – sie nahmen die Klänge der Zeit und pflanzten sie in ihre Formen und Harmonien. Meyerbeer geführt von Scribe war der erste, der das Wort mit seinem»Robert le Diable« ergriff und der Welt in einer ihr bis dahin unbekannten musikalisch-glanzvollen Bühnensprache von einem neuen Inhalt und einer neuen Form der Oper vordemonstrirte. Beide, der Musiker wie der Dichter, hatten jedoch weniger die Principien der Romantiker verarbeitet als ihr verworren aufflackerndes Phantasiespiel in sich aufgenommen: Scribe, indem er dasselbe wie in einem Prisma künstlich und mit Raffinement auffing und im Libretto des »Robert« verarbeitete, Meyerbeer, indem er das Libretto mit enormem musikalischen Talent für Glanz und Effekt in Musik setzte.

Im »Robert« tritt an Stelle der lyrischen und deklamatorischen Gefühlsergüsse, wie die Arien, Duette u.s.w. der früheren Oper sie brachten, die Situation, ein Wort, mit welchem Liszt in seinem über »Robert den Teufel« geschriebenen Aufsatz in treffendster Weise jenes Moment für die Oper bezeichnet, von dem wir in Beziehung auf die französische Romantik im allgemeinen sagten, daß sie nicht mehr durch die konventionellen Formen, sondern durch das frei sich bewegende dichterische Bild gesprochen – »frei sich bewegend« hier allerdings in dem Sinn der Rücksichtslosigkeit auf dramatische Wahrheit und ästhetische Gesetze. Die »Situation« war die Scribe-Meyerbeer'sche Erfindung für die Oper: ein scheinbar dramatisches Bild, bei dem die alles überbietende Kunst der Maschinerie, die höchste Pracht der Dekorationen und Scenerie, das stark gewürzte Ballett, der Reiz üppiger, leidenschaftlich erregter Musik, glanzvoller und prickelnd pikanter Instrumentation und pomphafter Chöre zusammentraten, um durch eine plötzliche und unerwartetste Wendung des Textes oder der Musik das Publikum in die höchste Spannung zu versetzen und zu überraschen. Auf einem solchen Boden konnten im Tanze wirbelnde Nonnen gedeihen und der Teufel zum zärtlichen Vater werden.

Noch ein anderes Moment ist hier zu erwähnen, welches ein geistig charakteristisches Merkmal jener Epoche ist und insbesondere durch den Einfluß des brittischen Dichters Byron einen grotesken Stil in Frankreich angenommen hatte: nämlich die weltschmerzliche Ironie und Skeptik. Alle Verhältnisse hatten[183] die Stimmung der fluthentreibenden Geister auf jenen Punkt hingetrieben, von welchem Louis Blanc in seiner »Histoire de dix ans 1830–1840« ein ebenso lebendiges wie trostloses Bild entwirft. »Die im Juli geträumte Republik – sagt er – kam auf das Gemetzel in Warschau und auf das große Schlachtopfer in der Straße St. Méry (5. 6. Juni 1832) hinaus. Die Menschheit war durch die Cholera niedergedrückt. Der den Gemüthern für einen Augenblick einigen Schwung gebende Saint-Simonismus wurde verfolgt und erwies sich als Fehlgeburt, ohne die große Frage der Liebe gelöst zu haben. Auch die Kunst hatte durch beklagenswerthe Verirrungen die Wiege ihrer romantischen Reform besudelt. Entsetzen und Ironie, Bestürzung und Schamlosigkeit erfüllten die Zeit. Der eine Theil weinte auf den Trümmern großherziger Illusionen, der andere lachte im Beginn eines unreinen Triumphes. Kein Glaube war an irgend etwas, bei dem einen nicht aus Muthlosigkeit, bei dem andern nicht aus Atheismus.«

Diese das ganze Decennium 1830–1840 füllende Atmosphäre, bei welcher religiöse Schauer und Skeptik dicht nebeneinander lagen und die Glaubenslosigkeit vollends den Gemüthern allen Halt geraubt hatte, trug sich in die Kunstwerke der französischen Romantik. Sie sind alle getränkt von diesen Elementen, allen ist von ihnen das Gepräge der Zeit und der Romantik gegeben, »Robert der Teufel« enthält diese sämmtlichen Ingredienzien. Der Weltschmerz, die Ironie und Gottlosigkeit bahnen sich überall nicht nur ihre Luken – nein, offen treten sie hervor: »Der Wein, das Spiel, die Liebe« etc. »O Glück auf deine Launen« etc., der lascive Nonnentanz – diese Partien des »Robert« sind nach dieser Seite hin von der ächtesten französischen Romantik geprägt.

Als er über die pariser Bühne ging, war musikalischerseits noch keine Opposition in polemischer Form gegen die Zwingherrschaft der Klassicität aufgetreten. »Robert« wirkte mehr wie eine solche. Er verwüstete gleich einer Bombe die pariser Opernnachspiele der klassischen Epoche, deren Phasen theils in dem melodischen Element der italienischen theils in dem deklamatorischen der französischen Oper sich bis jetzt auf der Höhe erhalten hatten. Die Romantik hatte mit ihm über die Klassicität gesiegt. Aber vergebens würde man in den frappanten, bestechlichen und genialen Zügen dieser epochemachenden Oper Meyerbeer's nach den untereinander korrespondirenden Linien eines künstlerischen[184] Ideals suchen. Dieses Künstlers Gott war der Erfolg, sein Mittel der Effekt.

Meyerbeer war es nicht, welcher auf Liszt einen tiefen in sein künstlerisches Leben eingreifenden Eindruck machen konnte. Er lernte wohl durch ihn die große Bedeutung des Effekts für die Kunst kennen und mit großer Aufmerksamkeit erhorchte er sich Meyerbeer's musikalische Faktur, ebenso wie er mit großem Fleiß seine Partituren studirte; aber er fühlte auch, daß der Effekt um seiner selbst willen im Kunstwerk und nicht aus der höheren Idee desselben gleichsam herauswachsend eitel Lüge ist und mit den höheren Aufgaben desselben nichts gemein hat. Er konnte sich am »Robert« berauschen, wie alles rings um ihn her – aber nur mit den Sinnen.

Höher stehend in seinen Kunstidealen als der Vertreter der französisch-romantischen Oper, ein ächter Künstler, frei von jeder Spekulation der Eitelkeit, frei von der Sucht nach Effekt, aber bis ins Herz hinein – im Guten wie im Schlimmen – durchdrungen von den Bestrebungen und dem herrschenden Geist der Romantik war Hektor Berlioz, der große französische Romantiker und Repräsentant der französischen Instrumentalmusik der Neuzeit. In seinem ebenso phantasiereichen wie originell gearteten Geist fingen sich die Funken, welche elektrisch, die Luft füllten, und entluden sich in dem wild-phantastischen Epos seines Liebesleides, in seiner Sinfonie fantastique: »Episode de la vie d'un artiste«. Meyer beer's »Robert« hatte die europäische Welt verblüfft, in Staunen versetzt und mit einem solchen Heißhunger nach gewürzter musikalischer Speise erfüllt, daß derjenige Theil der Kritik, dessen Auge frei blieb von dem Staub, den des Beifalls Trubel aufgewirbelt hatte, ihn nicht auf sein berechtigtes Maß zurückführen konnte, aber doch das bezweckte, daß Meyerbeer mit seinen »Hugenotten« sich selbst zu korrigiren strebte. Berlioz's Werk hingegen, von seinen Zeitgenossen weniger begünstigt, drang nicht in die europäische Welt. Hieran hinderte ihn, abgesehen von den Dämmen, welche in der Form der Tradition und Gewohnheit vor neuen Kunstprincipien sich aufstauen, die exklusive Richtung der Instrumentalmusik, deren geistiges Wesen sie nur auf kleine, wir möchten sagen, geistig distinguirte Kreise beschränkt, ebenso wie gegensätzlich der Oper, »der Welt im Kleinen«, alle und die allgemeinsten Kreise offen stehen. Nur die Oper appellirt an die[185] Welt und wird von ihr verstanden. Die Klänge der Berliozschen Symphonie drangen damals kaum über Paris hinaus, aber das Werk selbst wurde der Bannerträger einer neuen Phase der historischen Entwickelung instrumentaler Musik.

Berlioz hatte mit ihr eine Kunstrichtung eingeschlagen, welcher in einzelnen Momenten allerdings schon Jahrzehnte vorher ihre geistige Weihe durch den größten Genius deutscher Tonkunst, durch Beethoven, geworden war, die aber jetzt, heraustretend aus dem Schooß der Zeit und unter ganz anderen Voraussetzungen, auch ganz andere Keime in sich barg.

Diese Richtung war die Programm-Musik. Mit ihr pflanzte Berlioz die Ideen der Romantiker in die Symphonie. Keiner war hiezu mehr geeignet als er. Sein leidenschaftliches Naturell, sein zur Ironie und Excentricität geneigtes Wesen, seine Erziehung, sein Bildungsgang – alles das prädestinirte ihn zu dem Posten, auf welchen ihn die Entwickelungsgeschichte der Tonkunst gestellt und zum bewußten Bruch mit dem Bestehenden getrieben hatte. Sein Kampf um seinen Beruf, sowie sein Liebeskummer trugen ebenfalls nicht wenig dazu bei, seine Phantasie zu erhitzen und in die äußersten Extreme zu führen. In dem Stadium seiner Liebesleidenschaft waren die literarischen und politischen Revolutionsideen Thautropfen auf seinen wunden Geist. In ihnen athmete er auf, in ihnen fand er für seine Stimmungen die verwandte Nahrung und endlich die leitenden Gedanken zu seinen Kunsterzeugnissen und Principien.

Nach letzteren sollte das leere Formenwesen, die Schablone vergehen und Kunstgebilden weichen, die frei von der Bindung klassischer Form, frei von dem stereotypen Aufbau ihrer Sätze, frei von der Fessel ihrer harmonischen Formel aus der ungehemmtesten Bewegung der Phantasie hervorgehen und ihren Inhalt steigern zur Höhe der Dichtkunst. Unbestimmtes sollte zur Bestimmtheit werden, die Lyrik das spannende Moment der Dramatik erreichen und die ganze symphonische Kunst sich umstimmen von den allgemeinen Gefühlen der Lyrik zu dem Pointirten menschenbeseligender und verzehrender Leidenschaft. Die Instrumentalmusik sollte der Ausdruck des Ichs werden, die Sprache, durch welche der Komponist sich äußert, Selbstgedachtes, Selbstempfundenes und Selbsterlebtes zum Ausdruck bringt; sie sollte mit einem Wort nicht nur ein Organ sein für allgemeines und unbestimmtes[186] lyrisches Empfinden wie bisher, sondern auch ein Organ dichterischer Poesie und Gedanken.

Durch Berlioz tauchte das Princip auf, welches Freiheit des Inhalts und Freiheit der Form erstrebt, ein Princip, dessen Verwirklichung er in dem Anschluß an die Dichtkunst sah. Aber gefangen in eigenen Leidenschaften, die ihre Schlingen über sein Haupt geworfen, kam er nicht über sich selbst hinaus: seine Liebesverzweiflung wurde der Durchgangspunkt zu diesem Anschluß. Die Leidenschaft des Herzens mischte sich mit den Paradoxien der allgemeinen geistigen Atmosphäre und dichtete sich zu phantastischen Scenen und Situationen – ein Roman in Tönen, bei welchem er selbst der Held war. Das frei von formeller Schablone sich bewegende poetische Bild, durch welches die Romantiker sprachen, ward hier zum Programm, das die Grundzüge der musikalischen Schilderungen in Worte faßte und dem Hörer das Verständnis der Musik vermitteln sollte. Berlioz's Anschluß an die Dichtkunst vollzog sich durch seine eigenen inneren Erlebnisse, welche er in seiner Symphonie »Episode de la vie d'un artiste« schilderte.

Ein wild-phantastisches Werk! Ohne das Programm dieser Symphonie zu kennen, würde es unglaublich erscheinen, welche Unschönheiten und sinnverbrannte Ideen jene der französischen Geschichte angehörende Epoche der Romantik in einer Musikpartitur zusammendrängen konnte! Berlioz's Programm, in fünf Partien (fünf Symphoniesätze) getheilt, war folgendes:


Program

der »Episode eines Künstlerlebens«

der phantastischen Symphonie von Hektor Berlioz.


I. Abtheilung. »Rêveries-Passions – Der Komponist nimmt an, daß ein junger Musiker von der von einem berühmten Schriftsteller»le vague des passions« genannten moralischen Krankheit ergriffen zum erstenmal ein Weib erblickt, welches alle Zauber des von seiner Phantasie geträumten Ideals in sich vereint. Eine seltsame Laune des Zufalls taucht das geliebte Bild in der Seele des Künstlers nur verbunden mit einem musikalischen Gedanken auf, in welchem er einen gewissen leidenschaftlichen[187] Charakter findet, der doch edel und sanft dem gleicht, welchen er dem geliebten Gegenstand zuschreibt.

Dieser melancholische Widerschein mit seinem Urbild verfolgt ihn unablässig gleich einer sich verdoppelnden fixen Idee. Das ist der Grund der in allen Sätzen der Symphonie sich wiederholenden Melodie, welche das erste Allegro eröffnet. Die Steigerung dieser nur durch einige schwache Versuche gegenstandsloser Freude unterbrochenen melancholischen Träumereien zur rasenden Leidenschaft mit ihren Aufwallungen in Wuth und Eifersucht, mit ihrer Rückkehr zu zärtlichen Empfindungen, ihren Thränen und religiösen Tröstungen bildet den Gegenstand der ersten Abtheilung.


II. Abtheilung. »Un Bal.« – Der Künstler wird in die verschiedensten Lebenslagen versetzt: mitten in das Getümmel eines Festes wie in die friedliche Betrachtung der Naturschönheiten; aber überall, in der Stadt wie auf dem Lande, erscheint ihm das geliebte Bild und streut Unruhe in seine Seele.


III. Abtheilung. »Scène aux Champs.« – Eines Abends befindet er sich auf dem Lande. Er hört aus der Ferne zwei Hirten, die sich im Kuhreigen Frage und Antwort geben. Dieses Hirtenduett, die Scenerie des Ortes, das leise Säuseln der sanft vom Winde be wegten Bäume, einige Hoffnungsaussichten, die sich vor kurzem eröffnet haben, alles das vereint sich sein Herz in ungewohnte Ruhe zu wiegen und seinen Ideen eine lachendere Färbung zu geben. Er denkt über sein vereinsamtes Leben nach, bald hofft er nicht mehr allein zu stehn. – Aber wenn sie ihn täuschte?! – Diese Mischung von Hoffnung und Furcht, diese Vorstellungen des Glücks, die von schwarzen Ahnungen durchkreuzt werden, bilden den Gegenstand des Adagio. Am Schluß stimmt der eine Hirt den Kuhreigen wieder an, aber der andere antwortet nicht mehr. – Fernes Donnerrollen – Einsamkeit – Schweigen.


VI. Abtheilung. »Marche du Supplice.« – Nachdem er die gewisse Überzeugung erlangt hat, daß seine Liebe verschmäht wird, vergiftet sich der Künstler mit Opium. Aber die narkotische Dosis ist zu schwach, um ihn zu tödten, und versenkt ihn nur in einen Schlaf, der von fürchterlichen Visionen begleitet wird. Er träumt, er habe seine Geliebte getödtet, sei deßhalb zum Tode verurtheilt, werde jetzt zum Richtplatz geführt und wohne so seiner eigenen Hinrichtung bei. Der Zug bewegt sich unter den bald[188] düsteren und wilden, bald glänzenden und feierlichen Klängen eines Marsches, in dem ein dumpfes Geräusch schwerer Tritte plötzlich unvermittelt in den lautesten Lärm übergeht. Am Schluß des Marsches ertönen wieder die vier ersten Takte der fixen Idee wie ein letzter Liebesgedanke, um durch den verhängnisvollen Hieb des Beiles abgebrochen zu werden.


V. Abtheilung. »Songe d'une Nuit du Sabbat.« – Er sieht sich beim Sabbat mitten in einer schauderhaften Schar von Schatten, Hexen und Ungeheuern aller Art, die sich versammelt haben, um sein Leichenbegängnis zu halten. Seltsames Getöse, Seufzerlaute, Gelächter, ferne Wehrufe, denen andere Rufe zu antworten scheinen. Noch einmal erklingt die geliebte Melodie; aber sie hat ihren edlen und schüchternen Charakter verloren und ist nur noch ein unedles, gemeines und grobsinnliches Tanzlied: die Geliebte kommt zum Hexensabbat – Freudengebrüll bei ihrer Ankunft – sie nimmt Theil an den teuflischen Orgien – Geläute der Todtenglocken – Burleske-Parodie desDies irae, Ronde des Hexensabbats, zum Schluß die Sabbatsronde und das Dies irae zusammen. –


Dieses das Programm der Symphonie – ein Stoff, nebenbei bemerkt, welcher der »Ästhetik des Häßlichen« für das symphonische Gebiet manchen Anhaltspunkt geben dürfte. Nach dieser Seite hin hält die »Episode« dem »Robert« die Wage. Da sind dieselben Absurditäten, dieselben charakteristisch-grimassirenden Züge des französisch-romantischen Geistes: nur in der abstrakten Form der Instrumentalmusik. In dieser Form aber erscheinen sie weniger kraß als in der lebendigen Form scenischer Darstellung. Ohne Programm würde das Ohr eine für damals ganz abnorme Musik vernehmen, welche das ästhetische Gefühl wohl verletzen kann, jedoch das ethische nicht direkt berührt; das Programm aber, verlegt in die Phantasie des Hörers, bohrt sich in die vorüberrauschende Musik und holt die Bilder und Scenen heraus, mit denen ihre Rhythmen im engen und weiten Sinn, ihre melodischen und harmonischen Formationen, ihre dynamischen Wendungen, ihr instrumentales Kolorit sich gesättigt. Das geistige Ohr wird sehend – und alle jene Momente der französisch-romantischen Kunst, welche wir als nur der Zeitgeschichte angehörend bezeichnen möchten, treten hervor in ihrer trostlosen Wirklichkeit. Auch [189] Berlioz's Symphonie trägt den ausgeprägtesten Stempel derselben, aber nicht gemacht, sondern ächt. Hierin liegt es, daß sie höher steht als ihr Zeitgenosse »Robert«. Berlioz hat die Leidenschaften nicht – man nenne gemacht oder naturwahr gezeichnet, kopirt oder photographirt; er hat sie gegeben ohne spekulative Künsteleien und, wenn auch ungebändigt von sittlichen Idealen und versetzt mit wild-phantastischen Launen, waren sie doch der vollste und wahrste Ausdruck seines inneren Lebens in jener Periode. In diesem Moment hat er der Musik trotz aller Übertreibung naturwahre Laute und Farben gegeben, welche nie ihre Wirkung verlieren können und seinem Werk einen tieferen künstlerischen Werth verliehen haben, als das Werk Meyerbeer's ihn besitzt. In seinem »Teufel« hatte der letztere eine Maske vorgenommen. Das Lamm aber im Wolfskleid schreckt nicht oder nur im ersten Moment gegenüber dem Unwissenden. Darum hat »Robert der Teufel« auch keine Gewalt mehr über die Gemüther, was sich von der »Episode de la vie d'un artiste« nicht behaupten läßt. Ist auch die Zeit ihres historischen Einflusses vorbei, so wird die phantastische Gewalt ihrer Harmonien, Rhythmen, ihrer Melodie und Instrumentation schwerlich an ihrer Wirkung einbüßen. In der französischen Zeitgeschichte ist sie das symphonische Piedestal, auf welches die der sittlichen Zügel entbehrende phantastisch-dämonische Leidenschaft ihr Ideal gestellt.

Bei Berlioz's Symphonie liegt der Schwerpunkt in der Malerei subjektiver Leidenschaft und subjektiver Phantasie. Durch Hinzuziehung objektiver Momente, wie beispielsweise in der dritten Abtheilung des pastoralen Flötenduetts der Hirten, erweitert sich die Lyrik zum Stimmungsbild, welchem das Duett gleichsam die Staffage zu geben scheint. Die Malerei subjektiver Leidenschaft aber geht über die Grenzen der Lyrik hinaus und mündet in die dramatische Bewegung. Mit dem Flötenduett schürzt sich zugleich der dramatische Knoten der »Episode«. Der zweite Hirte schweigt, als nach seligem Träumen der andere sein Frag- und Antwortspiel von neuem beginnt. Gewitter steigen auf, Donner grollen durch die Berge, Blitze zucken am Himmel, endlich Einsamkeit und Schweigen ringsum: die Gewißheit des Unglücks tritt ein. – Diese Partie, diese Malerei enthält Momente ächt musikalischer Schönheit, welche außerhalb der ästhetischen Korruption jener Periode französischer Geschichte stehen. In ihnen[190] liegt ein Theil der Keime, welche zur ideellen und formellen Fortentwickelung symphonischer Kunst wesentlich beigetragen haben.

Mit dem Gedanken, die symphonische Malerei als lyrisches Steigerungsmittel der Dramatik, sowie als Hilfsmittel zur dramatischen Idee zu verwenden hat Berlioz ein bedeutendes Samenkorn zur ideellen Erweiterung der Instrumentalmusik gegeben, das bereits nicht nur hier auf diesem, sondern auch auf ganz anderem Gebiet reiche Frucht getragen hat. Auf operistischem Gebiet. Hier auch hat die Instrumentalmalerei zum ersten Mal ihren allgemein gültigen Sieg gefunden, gerade da, wo man ihr zu begegnen nicht erwartete: in Richard Wagner's »Nibelungen«. Die Instrumentalpartieen der letzteren, welche in Bayreuth 1876 alle Parteien zum Entzücken hingerissen, gehören ihr an. Sie sind ein Kind der Tonmalerei, die, obwohl germanischen Ursprungs, ihre höhere Entwickelung Frankreich verdankt. Das vor mehr als zwanzig Jahren von R. Pohl ausgesprochene, aber Vielen dunkel scheinende Wort: »daß H. Berlioz der Vorläufer R. Wagner's und das historische Verbindungsglied zwischen letzterem und Beethoven sei«, findet hier eine Bestätigung.

Die Tonmalerei ist nicht Zweck der Komposition, sie ist ein technisches Hilfsmittel Ideen auszudrücken – Dinge, die oft verwechselt worden sind. Berlioz hat sie zu demselben gemacht. – Noch ein anderes technisches Hilfsmittel stammt von ihm. Seine »Idée fixe«, jenes melodische Motiv, das die Geliebte seiner Träume symbolisirt und das unverändert in allen Theilen der Symphonie auftaucht – der spottsüchtige Heine nennt es »eine in dem bizarren Nachtstück hin und her flatternde sentimentalweiße Weiberrobe« – ist der Ahnherr des von Richard Wagner bis zur äußersten Linie entwickelten Leitmotiv-Systems. Von Berlioz nahm es Meyerbeer auf in seine »Hugenotten« (der Choral »Ein feste Burg« etc. als Leitmotiv Marcel's), nach diesem Wagner. – Diese motivische Behandlung ist ein technisches Hilfsmittel für dramatische Charakteristik. Beide, die Tonmalerei, wie das erst in neuerer Zeit so genannte »Leitmotiv«, sind von der Symphonie in die Oper übergegangen.

Weiter und tiefer in das gesammte Wesen der Tonkunst eingreifend als diese Dinge ist der von Berlioz gegebene Gedanke: die Instrumentalmusik selbst als Darstellungsmittel dramatischer Ideen zu verwenden. In diesem Gedanken[191] koncentrirt sich die musikhistorische Bedeutung Berlioz's; hier sind musikalischerseits die bleibenden Resultate der französischen Romantik zu suchen, hier auch liegen die Momente, welche von Einfluß auf Liszt wurden. Dieser Einfluß ist jedoch – worauf wir schon hingewiesen – nicht von dem zu trennen, welchen die deutsche klassisch-romantische Richtung auf ihn ausgeübt hat. Wir nannten diese bereits den Zettel auf dem Webstuhl seiner künstlerischen Entwickelung, jene den Einschuß. Werfen wir darum noch einen Blick auf den Zettel, auf das Woher und Wohin beider, ehe wir dieser Einflüsse weiter gedenken! Aus dem geschichtlichen Verlauf des künstlerischen Schaffens Liszt's wird sich dann zeigen, wo die Einflüsse von seiner Eigenartigkeit sich scheiden und er selbständig eingreift in die Arbeit und das Rad späterer Zeit.

In der Entwickelung deutscher Tonkunst sind zwei Phasen der Romantik zu unterscheiden: die klassisch-romantische, vertreten durch Beethoven und Weber, und die jung-romantische, welche durch Schumann repräsentirt wird. Beide stehen im Zusammenhang mit den romantischen Literaturepochen Deutschlands, von denen die eine unter der Chorführung der Gebrüder Schlegel und Ludwig Tieck's ihre poetischen Blicke deutscher Vergangenheit zuwandte, während die andere im Sturm und Drang der Jungdeutschen angeführt von Gutzkow und Laube (deren erste Epoche) ihrer Gegenwart voraus und der Zukunft entgegen stürmte. Beide ferner stehen im Zusammenhang mit den von Frankreich kommenden Umwälzungen der Ideen und Ziele der Lebensarbeit der Völker. Eigenthümlich aber ist es, daß, während in Frankreich wie in Deutschland zwei literarisch-romantische Entwickelungsphasen sich gebildet – denn auch Frankreich hatte in Chateaubriand seinen Poeten, dessen Romantik in ihrem eigensten Kern der Vergangenheit zugewandt war –, nicht beide Phasen sich auch in Musik umsetzten, wohl in Deutschland, jedoch nicht in Frankreich. Hier trat nur die große Viktor Hugo und George Sand an ihrer Spitze tragende romantische Literaturepoche zurückwirkend auf die Musik vor das kunsthistorische Forum. Interessant aber bleibt es, daß das erste Auftreten der Romantiker beider Nationen sich der Vergangenheit hingiebt. Nicht der klassischen. Wie der romantische Geist Chateaubriand's getrieben von der Wendung, welche durch die Philosophen das Leben Frankreichs genommen, sich an die Quelle französischer[192] Geisteskultur, an das kirchliche Rom gelegt hatte, so suchte auch die ältere romantische Richtung Deutschlands gegen den andringenden Geist der Neuzeit Schutz im Heraufbeschwören der alten Geister Germaniens. Sie lagerten sich an die Urtiefen germanisch-mystischer Schachte, aber ihre Wünschelruthen wußten nur für einen Moment die märchenbevölkernden Elfen und Kobolde in das neunzehnte Jahrhundert zurückzuzaubern. – Chateaubriand's römisch-mystische Romantik hatte keinen musikalischen Widerhall gefunden, wenigstens keinen, der auf das allgemeine musikalische Schaffen von Einfluß gewesen wäre. Hatte sich auch ein schwacher Ton derselben in der Leier Urhan's gefangen: er pflanzte sich nicht fort und blieb ohne historische Resonanz. Anders aber war es mit den von Schlegel und Tieck zurückgerufenen Berg- und Luftgeistern. Ihr Athem drang in die musikalischklassischen Formen und hauchte ihnen einen Frühling ein, welcher in Weber und dessen Schule seine unvergänglichen Blüthen getrieben.

War Weber's Romantik der unmittelbarste musikalische Ausdruck der specifisch germanisch-romantischen Richtung der Literatur und hatte in ihr der anti-klassische Geist, nicht die Form sich eine Richtung gebahnt, so hatte nicht minder die große weltgeschichtliche Geistesbewegung, welche an der Grenzscheide des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts eine neue Welt verkündet hatte, einen kraftvollen und erhabenen musikalischen Ausdruck gefunden: in Beethoven klopfte der Finger des Weltgeistes an die musikalische Pforte des Jahrhunderts.

Aber beide Geister, Beethoven wie Weber, waren gekommen ohne Sturm und Gewalt, ohne bewußte Doktrinen, auf einer Seite ein noch ungeahntes Prophetenwort, auf der andern eine auf klassische Formen gepflanzte Blüthe deutsch-romantischer Poesie. Diese Romantiker hatten zu ihren Lebzeiten weder einen Umschwung noch überhaupt einen Sturz der bestehenden Tonkunst weder gewollt noch hervorgerufen. Die mit ihnen verknüpfte musikalische Romantik trat sich selbst unbewußt auf, ohne Kampf gegen klassische Form und Gebundenheit. Beethoven war selbst Klassiker und stand mit beiden Füßen in klassischem Formgesetz. Und selbst da, in den Werken seiner sogenannten dritten Schaffensperiode, wo er dem Drang seines Genius folgend den Fuß erhebt, um über dasselbe hinauszuschreiten in die freie weite Welt, da[193] läßt es wohl freierer Bewegung Raum gebend etwas nach, aber es bleibt hängen, selbst als sein Geist mit kraftvollem Ruck sich zu befreien die Bewegung machte. Seine Romantik war frei von Tendenz und ohne Parteikampf aus seiner Innerlichkeit hervorgebrochen. In seinen letzten Werken, einem Mene Tekel, welches über den formellen Kunstgesetzen des achtzehnten Jahrhunderts schwebte, kündeten sich zugleich, aber noch ein Mysterium jener Zeit, neue zukünftige Kunstgesetze an. Mit Bewußtsein spitzte Beethoven keine Pfeile gegen die Väter. Sagte er auch beispielweise über die feststehenden Regeln der Fugen-Kadenzen:


»Es kann ja kein Teufel mich zwingen

Nur solche Kadenzen zu bringen!«


– so waren derartige Worte Ausdruck seines Selbstbewußtseins. Er fühlte sich als ein Souverän im Tonreich, berechtigt Gesetze zu geben und zu erweitern, aber den klassischen Formen waren sie keine Kriegserklärung. Ähnlich war es mit Weber. Obwohl er in seiner »Euryanthe« neue Wege betrat, so waren diese doch keineswegs der Ausdruck einer Opposition gegen die klassischen Formen als solche, sondern Keime organischer Entwickelung der dramatischen Tonkunst.

Durch diese Romantiker erweiterte sich der Inhalt der Instrumentalmusik – bei Beethoven: indem die Tiefe seines Gemüthes zur Welt-Weite sich ausdehnte, bei Weber: indem er poetische Gebilde der Dichtkunst, die Elfenwelt, in die Musik hineinzog und hiedurch die musikalische Stoffwelt erweiterte, während Beethoven dem Gebiet der Lyrik die Perspektive zum Universellen eröffnete.

Die Konstruktion der musikalischen Werke beider Meister gehört der früheren Zeit an. Beide geben nicht romantische Kunstwerke, sondern klassische, versetzt mit romantischen Elementen. Klassische Form – romantische Elemente. Hier scheint ein Widerspruch zwischen den Hauptfaktoren der Kunst zu liegen! Und in der That ist ein solcher da, aber er tritt nicht in Extremen auf und stört darum nicht die Einheit des Kunstwerkes. Der subjektive Überschuß, welcher z.B. bei einem Theil der Werke Beethoven's bezüglich des lyrischen Gehaltes über die Form sich ausspricht, ist gehalten durch die klassische Form. Er drängt sich in Folge dessen zusammen und erscheint als eine gesteigerte, sogar als eine höchste[194] Kraft, die selbst auf der Spitze der Leidenschaft angekommen die Selbstbeherrschung nicht verliert. Hier liegt das Moment, welches den Werken Beethoven's das Gepräge des höchsten Ethischen aufdrückt und jenen Widerspruch, welcher zwischen Subjektivität und klassischer Form liegt, gleichsam aufhebt und die Einheit des Kunstwerkes trotz der Gegensätzlichkeit der Elemente nicht stört. Bei dieses Meisters neunter Symphonie besteht allerdings ein positiver. Bruch, welcher große Meinungsverschiedenheit, ja Kampf bei Musikern und Ästhetikern, hervorgerufen hat. Aber dieser Bruch liegt weniger zwischen der Konstruktion des Satzes und dem subjektiven Gehalt des Werkes als in der gegen die klassische Einheitsidee des Materials verstoßenden Mischung des Materials. Wie die klassische Tragödie fest an ihren aristotelischen Einheiten hält, so hält die Klassicitätsidee der Symphonie fest an der Einheit des Materials. Beethoven aber hat mit seiner neunten Symphonie diese Einheit aufgehoben: das Wort – die Vokalmusik – tritt in die Instrumentalmusik hinein. Hier war er Romantiker, aber nicht im Sinne subjektiver Willkür, sondern im Sinne des modernen Geistes, welcher die Innerlichkeit zur Universalität ausdehnt.

In dem Aufheben der Einheit des Materials innerhalb symphonischen Gebietes seitens Beethoven's ist das Hinbewegen der Innerlichkeit zur Universalität deutlich ausgesprochen. Wie sich dem Chaos der Haydn'schen »Schöpfung« das: »Es werde Licht!« entringt, so entringt sich hier der Brust des Einzelnen der Millionen umschlingende Liebesruf, so gilt sein Ruf »der ganzen Welt«. – Die Lyrik der Symphonie hat hiemit, dramatisch erregt, sich hinaufgeschwungen in das Reich des Bewußtseins, des Gedankens, der Idee. Hier liegt das Prophetenwort des deutschen Meisters. Es deutet mit dem Finger den Weg an, welchen die Instrumentalmusik zu ihrer eigenen Entwickelung gehen sollte, es weist auf das in der Höhe und Weite liegende Ziel derselben hin. Welt-Inhalt – Idee: in diesen zwei Worten liegt die der Instrumentalmusik vorgezeichnete Entwickelungsaufgabe, ihr historischer Inhalt im neunzehnten Jahrhundert.

Beethoven wie Weber, jener mit dem Seherblick des gereiften Mannes, dieser mit der Frühlingslyrik germanischer Poesie, haben die Anzeichen eines neuen Inhalts der Instrumentalmusik insbesondere und der Tonkunst im allgemeinen gegeben – aber[195] es waren nur Anzeichen. Dieser Inhalt mußte erst erobert werden; ebenso wie eine von der Freiheit des Inhalts bedingte Freiheit der Form noch zu erringen war. Gegenüber dieser Aufgabe trat, nicht sie lösend, aber ihr den Weg freimachend, die musikalische Romantik nach der Julirevolution diesseits wie jenseits des Rheins ein. Sie trat nicht mit dem Gedanken auf die Ideen Beethoven's auszuspinnen oder sein Prophetenwort zu lösen; sie knüpfte auch nicht da an, wo er aufgehört. Ein unmittelbarer Ausdruck ihrer Zeit schien sie dem ganzen Klassicismus, nicht nur seinem Formalismus entgegen zu stehen. Letzterem gegenüber stand sie im offenen Kampf. Dieser Kampf der französischen Romantiker gegen die Klassiker war heftig und ging über alles Maß und alle Schranken hinaus. Sie setzten den Kunstgesetzen die Republikanermütze auf und proklamirten die Kunst als Republik. Mußten mit der Zeit auch derartige Proklamationen der höheren Vernunft weichen, so erreichten sie doch in Verbindung mit den dichterischen und musikalischen Erzeugnissen der Romantiker die Wendung zu dem der Kunst vordem verschlossenen Gedanken- und Gefühlsinhalt der Neuzeit, wie der an der Spitze der literarischen Opposition stehende Viktor Hugo triumphirt:


»Ich wußt' es wohl, nach den zerstörten Schranken

Befreite mit dem Wort ich den Gedanken.«


Wie Viktor Hugo mit dem funkelnden Dichterschwert dem geknechteten Wort die Fesseln zerhieb, so gab Hektor Berlioz der klassisch-gebundenen Bewegung der Instrumentalmusik die Freiheit und machte ihr, wie jener der Dichtkunst, die Bahn frei zum Inhalt der Zeit, des Lebens und der Poesie.

Sein Princip der Programm-Musik war nur theilweise ein neues. Es stellt den geschichtlichen Zusammenhang zwischen den späteren Zeiten und Beethoven her. Des Letzteren Pastoral-Symphonie, seine Esdur-Sonate opus 81, sein Quartett mit dem Schlußsatz: »Muß es sein? – Es muß sein!« – und andere seiner Werke haben dieser Musikgattung, deren Anfänge bekanntlich weit hinter Joh. Seb. Bach zu finden sind, den Geist höheren Lebens eingehaucht und die spätere programm-musikalische Phase theils eingeleitet theils ausgesprochen.

Aber einleitend wie aussprechend, in beiden Fällen ergeben sich im Vergleich zur Programm-Musik große Unterschiede. Beethoven[196] stellt an die Spitze seiner hierhergehörigen Werke kein Programm, sondern nur eine Überschrift: »Les Adieux, L'Absence«, »Le Retour« etc. etc. Hier sind seine Sätze lyrische Stimmungsbilder, die nur im Gefühl wurzeln und nicht über dieses hinausgehen. Die Sätze seiner Pastoralsymphonie hingegen: »Erwachen heiterer Empfindungen bei der Ankunft auf dem Lande«, »Lustiges Zusammensein der Landleute« etc., obwohl auch lyrische Stimmungsbilder, wurzeln nicht wie jene im Gefühl an sich, sondern im Gefühl der Anschauung objektiven Lebens. Das Gefühl ist die Quelle beider Richtungen. Während es aber dort nur Stimmung ist, ist es hier eine solche, welche von der Außenwelt hervorgerufen sich von dieser nicht ablöst, sondern sie als Vorstellung mit der Stimmung verbindet. Abgelöst von ihr wären sie der Erinnerung angehörende Nachklänge, aber nicht jene Stimmung selbst. Diese kann nur mit dem Moment, der sie erzeugt, auftreten, sie liegt in der Gegenwärtigkeit, nicht im Nachher. Hier tritt die Tonmalerei ein, macht das Vergangene zum Gegenwärtigen und stellt die Einheit her zwischen dem Empfindenden und der Ursache seiner Empfindungen. Sie, die Ursache, giebt der Empfindung selbst die charakteristische Färbung. Sie fängt nicht an: »Es war einmal etc.« – nein! die Quelle rieselt jetzt, der Moment ist gegenwärtig und macht die Stimmung zur unmittelbaren. Hätte z.B. Beethoven nicht das Murmeln des Baches gemalt und mit jenem Symphoniesatz verwebt, so würde er eine allgemeine träumerische Stimmung ausgedrückt haben, aber keine Scene am Bach. Das Hineinziehen der Außenwelt in das lyrische Tonbild überschreitet jedoch bei Beethoven nicht die Linien des Bildes selbst. Es bedarf darum keiner weiteren Erklärung, keines Programms: die Überschrift genügt.

Anders bei Berlioz. Er bleibt nicht im Bilde, er erweitert den Symphoniesatz zur dramatischen Scene, zum Akt, und die Momente, welche dort nur im Gefühl wurzeln, treten bei ihm aus der romantischen Phantasie hervor: die Quellen beider sind verschieden. Das Erweitern des lyrischen Bildes aber zur dramatischen Scene, zum Akt verlangt das Programm. Nach dieser Seite liegt ein Fortschritt über Beethoven hinaus. – Wie das lyrische Bild, das zur dramatischen Scene oder zum Akt wird, den Moment abstreift und zu einer Reihe von Momenten innerhalb eines Satzes[197] vorschreitet und sich auseinander breitet, so nimmt auch die Tonmalerei den Charakter der Vielgestaltigkeit an. Sie nimmt nicht nur die Rhythmik der Naturlaute auf, die im Bachesmurmeln und Baumesrauschen, im Kukukruf und Wachtelschlag, im Lerchen- und Nachtigallengesang, sogar im Donnerrollen und Blitzeszucken, wir möchten sagen, typisch gegeben sind: sie geht weiter und den Stimmungen, den Bewegungen, den Bildern der Phantasie folgend, erweitert sie diese typischen Rhythmen zu dem Umfang der Unendlichkeit des Geistes. Und nicht nur die Rhythmik! Sie zieht auch durch die Individualität der Instrumente die charakteristische Farbe in das Tonbild und erschließt so die Pforte zum Ausdruck sowohl poetischer als der im Kreise des Gefühls und der Stimmung liegenden Ideen überhaupt.

Hat Berlioz mit seiner Programm-Musik nach dieser Richtung hin einen großen Schritt über Beethoven hinausgethan und auch darin ihn überholt, daß er die Konstruktion des musikalischen Satzes und die Verarbeitung der Motive von dem jeweiligen poetischen Bild, der dramatischen Scene, der Idee u.s.w. abhängig machte – das moderne Princip der Form –, so bleibt er als Symphoniker doch wieder hinter Beethoven zurück. Dieses bezieht sich zunächst auf die schon vorhin angegebenen. Quellen ihrer Musik – Gefühl, Phantasie –, wodurch Inhalt und Bewegungslinie der beiden sehr verschiedene werden.

Beethoven's Instrumentalmusik entspringt der reinen Lyrik. Sein Gefühl erweitert sich zum Bild, zur Idee und mündet bei der universellen weltumfassenden Liebe, bei der göttlichen Versöhnungsidee. Berlioz's Musik entspringt der dramatischen, aber nur subjektiven Phantasie. Er bewegt sich von hier zum Gefühl, zum Bild, zur Idee, aber immer auf derselben subjektiv-dramatisch-phantastischen Grundlage. Er endet darum nicht wie Beethoven mit der Hingabe an die Welt, mit dem göttlichen Über uns im Herzen, eine Hingabe, welche zugleich ein Hinbewegen zur Objektivität ausdrückt: er endet auf dem Boden subjektiver Willkür – mit dem Hexensabbat. Hierin spricht sich der ächte Romantiker, die Souveränität des Ichs aus, dort aber haben wir es mit einer höchsten Erscheinung modernen Geistes zu thun; denn letzterer sucht das Ich mit den objektiven Gesetzen höherer Wahrheit zu verbinden, während dort das Ich sich von ihnen loszureißen und auf sich selbst zu stellen strebt.

[198] Berlioz's Ausgehen von der dramatischen Phantasie deutet – abgesehen von ihrer Subjektivität – auf eine andere Gattung der Tonkunst hin als die symphonische: auf die Oper. Der früher erwähnte Ausspruch, daß »Berlioz der Vorläufer R. Wagner's sei«, geht von demselben Gesichtspunkt aus und findet in dieser Phantasieart des französischen Komponisten, welche nebenbei gesagt romanisch-gallischem Wesen entspricht, seine Begründung. Die symphonische Kunst aber, die gesammte Instrumentalmusik hat ihren Urquell im Gefühl. Sie gehört der Lyrik der Tonkunst an, sie ist das Herz dieser Lyrik. Nichtsdestoweniger hat jeder andere Quell seiner vollste Berechtigung. Auf den verschiedenen Mischungen der dramatischen, der poetischen, der verschiedenen Phantasiearten überhaupt mit der Lyrik beruht abgesehen von den historischen Aufgaben, zu welchen sie wie bei Berlioz berufen sein können, die unendliche Mannigfaltigkeit instrumental-musikalischen Seins, welches das geistige Farbenspiel des Universums gleichsam widerspiegelt.

Die Unterschiede, welche sich nach ideeller Seite und nach Seite des Ausdrucks der Ideen zwischen Beethoven und Berlioz als Instrumentalkomponisten ergeben, dürften demnach im Großen und Ganzen genommen folgende sein: ersterer giebt seine Ideen in Bildern, dieser in dramatischen Scenen und Akten: Überschriften – Programm; bei Beethoven sind sie auf das Gefühl zurückzuführen, bei Berlioz auf die subjektiv-dramatische Phantasie: lyrisch – dramatisch; jener ging von den gegebenen klassischen Formen aus, dieser suchte nach Formen, welche der dramatisch-instrumentalen Darstellung seiner Ideen keinen Widerspruch brachten: klassisch – romantisch; und während Beethoven sich auf Grundlage subjektiver Empfindung zur höheren objektiven Gesetzmäßigkeit hinbewegt, trat Berlioz aus dieser heraus und überließ sich der Laune der Phantasie: die Idealität modernen Geistes – die subjektive Romantik modernen Geistes. In Beziehung auf die göttliche Weltordnung erscheint die geistige Richtung des deutschen Meisters sich einreihend in dieselbe, bei dem französischen erscheint sie mehr zerfahren, pessimistisch.

Beethoven's mit dem bisherigen bezeichnete Stellung zur Musik unseres Jahrhunderts war zur Zeit seines Lebens eine kaum geahnte. Das programm-musikalische Princip der französischen Romantik fing erst an seine historische Aufgabe zu entsiegeln. In[199] der Programm-Musik setzten sich die Bestrebungen der Zeit, speciell der dreißiger Jahre fest, in ihr fanden sie ihren Ausdruck, ihr Princip, ihr Ideal. Die geschichtliche Aufgabe, welche sie löste, bestand darin, daß sie den an die Gesetze klassischer Formen gebundenen Inhalt der instrumentalen Tonkunst frei machte von jenen und ihn zum Inhalt subjektiven Lebens und der Poesie ausdehnte. Ihr Gedanke, diesen Inhalt zu einem Welt-Inhalt zu erweitern trat allerdings durch die ihren Jahren angehörenden Werke noch nicht sogleich deutlich und greifbar an das Licht – aber er war gegeben, ein Kompaß ihrer weiteren Entwickelung. Was Beethoven nur angedeutet, war zum Princip erhoben und konnte in das allgemeine künstlerische Bewußtsein übergehen.

Das allgemeine Kunsturtheil aber konnte sich da mals und für die nächste Zeit nicht an die noch unentwickelte und ungezeitigte Idee halten, es hielt sich an das Kunstwerk, dabei den geschichtlichen Faden, der sich in dessen Hintergrund fortspann, übersehend. Es konnte das um so leichter geschehen, als die Ideen selbst in ihrem weltumfassenden Ziel viel zu weit waren, um durch ein Kunstwerk oder durch einige zur Erscheinung gebracht werden zu können; denn das ist Sache einer ganzen Epoche. Erst spätere Jahrzehnte konnten sie erkennen, nicht aber eine Zeit, die über sich selbst im größten Unbewußtsein lebte und mit so vielen erschreckenden Erscheinungen auftrat, daß es leicht begreiflich war, wenn geregelte Köpfe dem Neuen gegenüber, namentlich da selbst seine wahr und heiß empfundenen Ideale überwiegend als vom Wahn geschaffene Zerrbilder in das Auge objektiven Urtheils traten, die Thomasitenrolle senza exceptione übernahmen. Sie haben die Zerrbilder für die Sache selbst genommen und in diesem Irrthum, ergriffen von panischem Schrecken, die Programm-Musik bekämpft. In ihr erblickte die gegnerische Kritik die Usurpation aller zukünftigen Entwickelung der Instrumentalmusik, welche sie überhaupt mit den rein-klassischen, nämlich mit den auf Mozart'schem Boden sich befindenden Werken Beethoven's als abgeschlossen erachteten. Wie groß der Irrthum war, konstatirt sich immer schärfer durch die verschiedenen Phasen der Entwickelung, welche die Tonkunst inzwischen genommen hat. Die historische Bedeutung der französisch-musikalischen Romantiker ist zu trennen von dem absolut-ästhetischen Werth ihrer Werke. Die historische Bedeutung des gesammten französischen Romanticismus liegt in der Idee, welche durch ihn zur Entwickelung kam.[200] Sein Begehr: Einlaß dem modernen Gedanken in das Kunstwerk! eroberte der Kunst die Freiheit des Inhalts und der Form. Das Princip der Programm-Musik erscheint hiermit nicht mehr als ein Princip, welches an der Spitze der Instrumentalmusik steht oder dorthin gestellt werden soll, sondern als historisches Mittel, welches dazu berufen war der Instrumentalmusik den Weg zu jener Idee: zu einem Weltinhalt anzubahnen.

Die Romantiker standen im vollsten Bruch und Gegensatz zu den Klassikern. Dieser Bruch scheint ihnen zum Verhängnis geworden zu sein. Auch der deutsche Robert Schumann, dessen wir nur ganz vorübergehend erwähnt haben, mußte denselben theilen. Seine Musik ist ein Widerhall der Bestrebungen der jungdeutschen Dichter. Allerdings kein so kräftiger und kein sich so ganz in den Rahmen seiner Zeit stellender, wie der zwischen Berlioz und den französischen Poeten. Heinrich Laube's mensur- und paukverwandtes Wort: »Was nicht von selbst sterben will, muß todt geschlagen werden!«, fand musikalisch keinen Ausdruck. Robert Schumann war damals wohl musikalisch-romantischer Stürmer, ein Künstler, der mit Wort und Werk dem herrschenden inhaltsleeren Formenwesen und der gehaltlosen Produktion des Tages mit Bewußtsein entgegen arbeitete, aber ohne doktrinäre Dialektik und ohne Umsturztheorien. Die »Davidsbündler« bewegen sich immer auf ästhetischem Boden und seine mehr phantastisch-brütende als wild-romantische »Kreisleriana« ist zu sehr mit echt germanischer Lyrik durchtränkt, als daß sie ein Opfer der Hofmann'schen Barockheiten hätte werden können. Später ist Schumann erschrocken, daß seine Beurtheiler ihn mit den französischen Romantikern in gleiche Linie stellen wollten und geblendet von einer andern Erscheinung, die dem Klassischen zugewandt bei der deutschen Nation Hoffnung auf eine Musikreform im klassischen Sinn hervorrief, von Mendelssohn, irre an sich geworden. Auf halbem Weg stehen bleibend wurde er reaktionär. Er hatte Freiheit des Inhalts gewollt, aber die Freiheit der Form nicht finden können. Unglücklich – versenkte er sich in Nacht.

Auch Schumann's Werke verfielen dem Verhängnis, welches über den Werken der Romantiker schwebte. Die musikalischen Klassiker hatten den Schwerpunkt ihres Schaffens in der objektiven Form gefunden. Die musikalischen Romantiker aber legten den[201] Accent auf den subjektiven Inhalt und französischerseits zugleich auf Freiheit der Form. Der durch Beethoven's letzte Werke gegebene Ausgangspunkt des subjektiven Inhalts der Instrumentalmusik, ein Ausgangspunkt, der mit seiner Hingabe an die Menschheit und seinem nach dem Sternenzelt gerichteten Blick Anfang und Ziel der Entwickelung moderner Tonkunst andeutete, war noch nicht entdeckt, viel weniger entziffert. Der klassische Instrumentalsatz war in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts trotz Beethoven in das inhaltsleere Stadium formalistischer Schulreitekunst übergegangen. Ein unabänderliches Formgefüge, dessen Kitt der Kontrapunkt war und dessen äußere Anordnung sich »im Vierecksystem nach Kubikfüßen messen ließ«, wie Liszt diese Form charakterisirte, dazwischen ein Formenspiel, das in leeres Tongeklingel ohne Gedanken und mit nur flacher Empfindung, ohne eigentliches Leben und innere Wärme, auslief, – das war so im allgemeinen die Instrumentalmusik der nach-klassischen Epoche. In die Zeit 1800–1830 fällt, mit Ausnahme der symphonischen Werke Beethoven's, auch nicht eine Symphonie, die trotz der »Ausgrabesucht« unserer Zeit sich auf dem Koncertrepertoire der letzteren befände. Die symphonische, wie die Gesammtmusik jener Jahre überhaupt war keine, die der einem neuen Lebensgehalt zustrebenden, bis auf ihren tiefsten Grund aufgeregten Zeit der dreißiger Jahre Sympathie hätte erwecken können. Heterogen, wie ihr Geist und der der früheren Zeit, mußten Romantik und Klassicität sich gegenüber stehen, im ersten Moment ohne jede Vermittelung. Der neue Geist aber, dessen Inhalt selbst noch voll gährenden Schaums und ohne höhere Gestaltung war, konnte nur in künstlerischen Thaten sich heimisch fühlen, die ihm verwandt waren. Er rief sich die Romantik ins Dasein, deren ungesattelter Pegasus unbekümmert um Satzungen und Vorfahren, kühn und frei seinen phantastisch-wilden Galopp durch die civilisirte Welt machte, seine Hauptspuren auf musikalischem Boden in dem Kampf hinterlassend, welcher subjektive Meinungen zu Parteischilden schmiedend noch in unserer Gegenwart nicht verhallt ist.

Über rechts und links der streitenden Parteien jedoch bildete sich allmählich auf praktischem Weg ein drittes Moment, welches geleitet von dem höheren Instinkt geschichtlicher Entwickelung die lebensfähigen Strömungen beider zur organischen Einheit im[202] Kunstwerk zu verflechten strebte. Auch die Theorie kam zu der Erkenntnis, daß weder im subjektiven Inhalt der Romantiker noch in der formellen Schönheit der Klassiker das letzte Ziel der Kunst zu finden sei, daß der subjektive Inhalt nicht ohne formelle Gesetzmäßigkeit und die Form nicht ohne die Tiefe und Macht der Subjektivität zu dem sich stets kräftig erneuernden und unversiegbaren Lebensborn der Kunst vordringen könne; daß überhaupt die höchste musikalische Kunstaufgabe da liegt, wo die subjektive Empfindung sich zum Allgemeinen erweitert und sich aus dem dunkeln Punkt der Unfaßbarkeit zum Lichte des Bewußtseins empor ringt; daß das dieser reinen Geistigkeit entsprungene Kunstwerk den Inhalt des Lebens und der Welt in seiner reinsten und höchsten Idealität widerstrahlt. Mit dieser Erkenntnis war die geistige Spirale gefunden, deren Linie die zukünftige Entwickelung der Tonkunst zum Universellen führt. Mit ihr hatte Beethoven's Prophetenwort seine volle Deutung gefunden.

Jene Linie selbst fand den Punkt ihrer spiralförmigen Kreise in der subjektiven Empfindung und Phantasie. Die Arbeit der Romantiker liegt noch innerhalb dieses Punktes. Wohl zogen sie Linien aus ihm, dem höheren Ziele zu. Aber einestheils senkten sie dieselben in die Tiefe, wo sie sich verloren – Robert Schumann –, anderentheils aber blieben sie hart am Rand des Punktes stehen, zogen den Kreis wohl weiter, aber führten ihn nicht zur Höhe – Hektor Berlioz. Sie konnten das Thor nicht finden, welches zur Universalität und Objektivität führt und in welche der subjektive Punkt sich verflüchtigen soll. Hierin liegt es, daß ihre Werke, obwohl sie ein Vollausdruck ihrer Zeit und ihrer Nationen genannt werden müssen und Momente bleibenden Werthes und bleibender Schönheiten enthalten, nur den Charakter einer Übergangsstufe tragen, der auf ein höheres Kunstziel hinweist, ohne es selbst erreichen zu können.

Fußnoten

1 In seinem 1854 geschriebenen Aufsatz über Meyerbeer's »Robert«. Siehe: Liszt's »Gesammelte Schriften«, III. Band.

Quelle:
Ramann, Lina: Franz Liszt. Als Künstler und Mensch, Band 1, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1880.
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