XXIII.

Am Lago di Como.

(Reiseperiode mit der Gräfin d'Agoult

1835–1840. II. Italien.)

[454] Lyon. Die Arbeiternoth. Liszt und Nourrit koncertiren zum Besten der Arbeiter. Nouritt und die Alkovenscene in Meyerbeer's »Hugenotten«. Schubert-Kultus. L. de Ronchand. Chembery. Nach Italien. Mailand. In Ricordi's Magazin. Eine Opernanfführung in der Scala. – Bellagio. Neue Kompositionen: Dante-Fantasie. Études d'exéc. transcendante; Chromatischer Galopp; Hugenotten-Fantasie.


Gegen Ende Juli war es, als Liszt und Madame d'Agoult Abschied von Nohant nahmen. Die heiße Jahreszeit ließ sie jedoch noch nicht gleich über die Alpen in das gelobte Land der Dichter und Künstler ziehen. Noch wurde hier und dort Rast gemacht. Ein Aufenthalt in Lyon, in Chambery in Genf – sechs Wochen lagen noch zwischen dem Aufenthalt in der Berry und dem Betreten italienischen Bodens.

In Lyon war der längste; und dieser, wie der in Chambery, war begleitet von künstlerischen Äußerungen und interessanten Begegnungen. Dort war es Liszt's Mildthätigkeit, die ihn auf das Koncertpodium trieb, hier war es eine persönliche, jedoch mehr der Gräfin geltende Beziehung, die Licht und Schatten auf das Leben der Reisenden warf.

In Lyon lastete gerade zu dieser Zeit wieder eine jener trüben Perioden auf dem Arbeiterstand, wie sie von der herbsten Noth begleitet ihn schon öfter heimgesucht hatten. – Das: »Vivant en travaillant ou mourir en combattant« von 1837 war in Liszt noch nicht erloschen. Doch auch ohne dieses und ohne die mit ihm verknüpften socialistischen Ideen würde es keiner anderen Anregung bedurft haben als des Elendes selbst, um in ihm augenblicklich den Entschluß hervorzurufen zum Besten der Nothleidenden[455] in Lyon zu koncertiren. Es war im Salon der Madame Montgolfier, seiner schon erwähnten Schülerin, wo man die Arbeiternoth diskutirte und er seinen Koncertplan faßte. Während man ihn besprach, trat unerwartet Adolphe Nourrit in den Salon. Er schloß sich sogleich Liszt's Idee an.

Die Koncerte beider brachten Tausende von Francs in die Kasse der Nothleidenden. Gegenüber einem Elend aber, dessen Dauer nicht nach Stunden, sondern nach Wochen und Monaten maß, das nicht einen Einzelnen, sondern eine ganze Menschenklasse einer bevölkerten Stadt traf, waren solche Summen ein Wassertropfen im Meer. Liszt empfand das tief, doch schreckte es seinen thätigen Opfermuth nicht zurück. »Ich habe mir immer eine Pflicht daraus gemacht«, schrieb er nach diesen Koncerten an seinen Freund Pictet, »mich bei jeder Gelegenheit Wohlthätigkeitsvereinen anzuschließen. Nur Tags nach dem Koncert, in welchem ich mitgewirkt, wenn die Unternehmer sich beglückwünschten und sich der Einnahme rühmten, entfernte ich mich gesenkten Hauptes; ich dachte daran, daß bei der Theilung auf eine Familie doch kaum ein Pfund Brod käme, um sich satt essen, kaum ein Bündel Holz, um sich erwärmen zu können! Achtzehn Jahrhunderte sind vergangen, seit Christus die Brüderlichkeit den Menschen gepredigt, und sein Wort ist noch nicht besser verstanden! Wohl brennt es wie eine heilige Lampe in den Herzen Einzelner, aber erleuchtet nicht Alle, und diese Generation, welche es verstanden sich zu den lichtesten Höhen des Wissens empor zu schwingen, bleibt dennoch tief versunken in den Finsternissen des unwissenden Gemüthes.«

Wie Liszt dachte Nourrit. Sein Mitgefühl hatte sich ebenfalls an der Flamme christlicher Brüderlichkeit entzündet. Überhaupt gehörte er zu den seltenen Künstlererscheinungen, die ihre Kunstausübung mit ihren religiösen und ethischen Principien zu verbinden suchten. Eine keusche Liebe für seine Kunst im Herzen, hielt er sie heilig wie die Religion – nicht nur in der Idee, sondern auch in der Praxis. Ob gleich Bühnensänger, würde er doch um keinen Preis eine Rolle zu singen übernommen haben, welche seinen Ideen über die Kunst zu nahe getreten wäre. So ist es zum Beispiel noch wenig bekannt, aber charakteristisch für Nourrit, daß er, als Meyerbeer seine Oper: »Die Hugenotten« beendet, deren Raoul zu singen er übernommen hatte, er dem Komponisten das Manuskript dieser Rolle zurücksandte, weil es[456] eine sehr frivole Alkovenscene zwischen Raoul und Valentine enthielt, an welcher er sich nicht betheiligen wollte. Er wolle nur echter Schönheit dienen, sagte er. Meyerbeer und Scribe arbeiteten hierauf diese Scene um und gaben ihr den heroischen Stempel, den sie seitdem trägt – der Glanzpunkt des ganzen vierten Aktes.

Diese kleine Episode hinter den Koulissen der Kunst hatte Liszt mit erlebt. Er als ausübender und der Öffentlichkeit angehörender Künstler wußte zu gut, was es für einen solchen hieß einen Puritanismus künstlerischer Gesinnung selbst auf den Brettern zu behaupten. Erfüllt mit sympathischer Bewunderung für Nourrit's Charakter, war ihm darum die Begegnung mit ihm, abgesehen von ihrem gemeinsamen Koncertiren für die lyoner Arbeiter, eine freudige. Besondern Reiz jedoch gewann sie für Liszt noch dadurch, daß er Gelegenheit fand ihn mit den von ihm so sehr geliebten Liedern Franz Schubert's, welche damals noch keineswegs einen weit verbreiteten Ruhm genossen – es existirte auch noch keine französische Ausgabe von ihnen –, bekannt zu machen. Im Saale der Madame Montgolfier hatte Liszt seine in Nohant gearbeiteten Übertragungen zum großen Entzücken den Anwesenden vorgespielt. Nun sang Nourrit, Liszt begleitete. Es war ein Schubert-Kultus höherer Art. Der mangelnde französische Text der Gedichte veranlaßte auch die Gräfin d'Agoult sich an ihm zu betheiligen. Während die beiden Künstler den »Erlkönig« vortrugen, saß sie mit Papier und Stift in einer Ecke des Salons und paraphrasirte das deutsche Gedicht in das Französische. Der Beifall, den sie damit erntete, war kaum ein geringerer als der, welcher der Dichtung selbst zu theil wurde. Liszt liebte solche Anerkennung ihrer Talente. Und als er dieses Abends in einem seiner für die Gazette musicale geschriebenen Briefe,1 auf Schubert's Lieder aufmerksam machend, erwähnte, fügte er ihre Paraphrase bei – wohl das erste schriftstellerische Début der Gräfin d'Agoult, wohl auch der erste Schritt ihrer Neigung zum Rivalisiren mit der Dichterin in Nohant. Ihr Name ist jedoch in jenem Brief nicht genannt. Liszt bezeichnete ihn mit der Chiffre M., aber in der pariser musikalischen Welt wußte man genau, wer gemeint war.[457]

Unter den Enthusiasten dieses Abends befand sich der jugendliche Dichter Louis de Ronchaud. Ein feuriger Brausekopf, der seine poetischen Rittersporen sich noch zu verdienen hatte, ging ihm in der schönen geistvollen Gräfin ein neuer Musenstern auf. Und als Liszt die Reise mit ihr nach Italien fortsetzte, gab er beiden das Geleit bis Chambery, wo er auch während ihres Aufenthaltes daselbst ihr Gefährte blieb. L. de Ronchaud huldigte der Gräfin ganz im Sinne der Romantik jener Zeit. Im Gegensatz aber zu»Elle et lui« entwickelte sich aus dieser Huldigung im Lauf der Jahre ein echtes Schutz- und Trutzbündnis der Freundschaft, bei welchem die Gräfin die Fähigkeit für Ausdauer und Aufopferung, wie wohl bei keiner ihrer anderen persönlichen Beziehungen, bewiesen hat.2 Mit Liszt war der junge Dichter damals ebenfalls innig befreundet. Zwei Briefe des »Bachelier ès-musique«3 sind Erinnerungsblätter dieses Verhältnisses.–

Den Tagen in Chambery folgte ein kurzer Besuch Liszt's bei dem Staatsmann mit dem eingeborenen Haß gegen die »Herrschaft der Mathematik«, dem Dichter Lamartine, welchen er auf seinem an der Saône gelegenen Landsitz in Mâcon überraschte. Diesem Besuch folgte eine Exkursion nach dem einst schwer zu erreichenden, ringsum von Bergen umschlossenen La grande Chartreuse, der Wiege des Karthäuserordens. Noch ein kurzer Aufenthalt in Genf – und dann ging es mit einem Vetturino über die Alpen nach Mailand.

Die Reise von Chambery bis Mailand hat Liszt in seinem ersten Brief an L. de Ronchaud beschrieben, einem Brief voll geistreicher Apercüs über Lamartine und Chateaubriand, voll reizender Naturschilderungen, sowie voll interessanter Bemerkungen über Kloster und Klosterleben, welche sein Besuch des Klosters Chartreuse hervorgerufen – Bemerkungen, alle gesättigt von den Ideen der Zeit, bei denen seine Theilnahme an den socialen Fragen den Ton angiebt. – Liszt schloß diesen Brief mit dem Bericht seiner Ankunft in Mailand und einer kurzen Beschreibung der kleinen Ereignisse, welche in die wenigen Tage seines Aufenthaltes daselbst fielen.[458]

»So eben komme ich an«, schrieb er. »Gewiß glauben Sie, ich sei sogleich zum Dom, zum Museum, zur Bibliothek gerannt? Mit nichten! Ich bin kein Valery-Leser, ich ignorire vollständig, wie man mit Nutzen reisen und verfahren muß, um in seiner Bewunderung klassisch und methodisch zu Werke zu gehen. Durch »Kapitel« habe ich nie etwas gelernt als höchstens eine ausgesprochene Abneigung gegen die Art und Weise der Touristen, von der ich mich soviel als möglich freizuhalten suche und in Folge deren ich mich beeile der Zeit zu vergessen: was könnte Einer, ›durch eigenen Willen verbannt, mit Vorsatz irrend, zweckmäßig unklug, überall fremd und überall zu Hause‹ auch Besseres thun?«

So schlenderte Liszt durch die Straßen, bis er sich unvermuthet vor Ricordi's Magazin befand und da eintrat. Ricordi war einer der bedeutendsten Musikalienverleger Europas, die nach Liszt's Worten die herrschenden Minister der musikalischen Republik, das salus inferorum und refugium peccatorum, die Vorsehung wandernder Musikanten sind. Ohne Präambulum setzte er sich vor ein offenes Piano und präludirte – »die Art, auf welche er seine Empfehlungsbriefe überreichte« –

»Quest è Liszt o il diavolo!« hörte Liszt den anwesenden Ricordi einem seiner Commis zuflüstern. Keine fünf Minuten waren hierauf vergangen, so hatte ihm Ricordi mit beredter Gastfreundschaft seine Villa in der Brianza, seine Loge in der Scala, seine Equipage, seine Pferde, seine fünfzehnhundert Partituren zur Verfügung gestellt – Herrlichkeiten, von denen Liszt jedoch keinen Gebrauch machte.

Da er der Sonnenhitze wegen nur einige Tage in Mailand blieb, verschob er die Besichtigung der Merkwürdigkeiten dieser Stadt auf eine andere Zeit. Nur das Scala-Theater besuchte er. Man führte gerade zum ersten Mal die Oper »Marino Faliero« auf. Und Liszt bekam einen Einblick, wie man in Italien Opern in Scene setzt. »In diesem überglücklichen Lande«, schrieb er, »ist die Inscenirung einer ernsten Oper durchaus keine ernste Sache. Es genügen gewöhnlich vierzehn Tage dazu. Die Musiker des Orchesters und die Sänger, die sich gegenseitig fremd sind und vom Publikum, das entweder plaudert oder schläft, keine Anregung erhalten – in der fünften Loge wird soupirt oder Karte gespielt –, kommen hier zerstreut, empfindungslos und mit Katarrh[459] behaftet zusammen, nicht als Künstler, sondern als Leute, die für jede Stunde Musik, die sie machen, bezahlt werden. Es giebt nichts Eifigeres als diese italienischen Aufführungen! Trotz der vom italienischen Geschmack diktirten Übertreibung der Accente und Gesten von Nüancen keine Spur, noch weniger von einer Ensemblewirkung! Jeder Künstler denkt nur an sich, ohne sich wegen seines Nachbars zu beunruhigen. Warum sich auch für ein Publikum, das nicht einmal zuhört, abmühen?«

Liszt verließ das Theater mit einer sehr ungünstigen Meinung von dem künstlerischen Geist des berühmtesten Theaters Italis. Doch habe er nur, schließt er seine Schilderung, die Eindrücke wiedergegeben, so wie er sie empfangen; sein Urtheil würde er erst nach längerem Beobachten feststellen. Nach einem halben Jahr kam dasselbe – ein Staub aufwirbelnder Aufsatz über die »Scala«, zu welchem diese kurze Beschreibung seiner Eindrücke gleichsam eine Einleitung bildet. Unser nächstes Kapitel wird davon erzählen.

Die große Hitze hielt Liszt nicht lange in Mailand; sie trieb an den nahegelegenen Lago di Como, wo er in Bellaggio eine Villa miethete, welche er mit der Gräfin d'Agoult bezog. Hier wohnte er bis Februar 1838; dann erst blieb er einige Zeit in Mailand, wohin er inzwischen von Bellaggio aus mehrere Ausflüge unternommen hatte.

Der Aufenthalt in Bellaggio aber war für ihn ein innerlich beglückender. Er gehörte zu den wenigen Perioden seines Liebesbündnisses, über welche ein wolkenloser Himmel sich breitete. Kein Schwarm musenbedürftiger Künstler umdrängte hier die beiden: es war Ruhe in beider Gemüth. Die Gräfin befand sich in einem jener Momente, in welchem die Stimme der Natur weltliche Interessen, selbst bei dem eitelsten Weibe, zum Schweigen bringt. Es war in jenem Augenblick Wahrheit, wenn Liszt an de Ronchaud schrieb:4 »Wollen Sie einen günstigen Schauplatz für die Geschichte zweier glücklich Liebender, so wählen Sie die Gestade des Comersees!« – »Noch nie«, schrieb er weiter – »noch nie ist mir ein vom Himmel so überschwänglich gesegneter Erdstrich vorgekommen, ein Erdstrich, auf dem der volle Zauber eines Liebeslebens natürlicher erscheinen könnte. Die Pracht und Majestät der Alpenländer dient nur dazu, unsere Kleinheit zu beschämen. Durch solche Größe fühlt[460] der Mensch sich gedrückt. Der Gletscherberge Zeiten überdauerndes Sein mahnt ihn an seine Vergänglichkeit; des ewigen Schnees unberührte Reine ist seinem befleckten Gewissen ein stummer Vorwurf. Die über seinem Haupte drohend hangenden Granitmassen, das düstere Tannengrün, die herbe Luft, die Schrecknisse des Lawinendonners, der Abgründe ununterbrochen grollendes Leben –, Sinnbilder sind es, ja streng mahnende Sinnbilder eines von dunklem, unwiderruflichem Verhängnis bedrängten Geschicks. – Aber hier unter dem Ätherblau einer Liebe athmenden Umgebung weitet sich die Brust und alle Sinne erschließen sich den Wonnen des Daseins. Leicht ersteigliche Höhenzüge winken zu grünenden Gipfeln; die Fruchtbarkeit der Abhänge, wo die Kastanie, der Maulbeer- und Ölbaum, Mais und Weinstock Fülle verheißend sich erheben, zeigt die Spuren emsig schaffenden Fleißes; die Frische der Gewässer dämpft den Einfluß der Sonnenhitze; der Nächte üppige Pracht wechselt mit glanzvollen Tagen. Freier athmet der Mensch im Schoße befreundeter Natur! Seine harmonischen Wechselbeziehungen mit ihr sind nicht getrennt durch riesenmäßige Verhältnisse; er darf lieben, er darf vergessen, darf genießen; denn ihm dünkt, er beanspruche nur das Recht der Theilnahme am gemeinsamen Glück.«

»Ja, mein Freund, wenn vor Ihrer träumenden Seele das ideale Bild eines Weibes vorüberzieht, eines Weibes, dessen himmelentstammte Reize kein sinnverlockendes Gepräge tragen, nein, nur die Seele zur Andacht beflügeln! und wenn Sie ihr zur Seite einen Jüngling erblicken, treuen aufrichtigen Herzens: verweben Sie diese Gestalten in eine ergreifende Liebesgeschichte und geben Sie ihr den Titel: »Am Gestade des Comersees«. – –

Gemeinschaftliche Ausflüge in die Umgebungen des reizenden Sees verkürzten die Tage oder füllten sie aus. Manches Volkslied, das sie von ländlichem Mund gesungen hörten, skizzirte Liszt bei dieser Gelegenheit und legte es als bleibendes Erinnerungsblatt in seine Mappe. Bei diesen kleinen Streifzügen konnte man ihn oftmals inmitten der sich um ihn schaarenden Dorfjugend sehen – ähnlich wie in Paris, wo er als Knabe kleine Münzen unter eine Schaar Gamins warf und an ihrem Kampf um sie sich belustigte. Hier aber waren es Körbe voll Feigen und Kuchen, durch welche er sich zu ihrem Abgott machte, indem er sie ihrer Plünderung Preis gab.[461]

Einen großen Theil des Tages brachten beide Reisende auf dem See zu, dessen malerische Gebirgsufer zu immer neuen Exkursionen reizten.

Vor der ärgsten Tageshitze aber flohen sie unter die Schatten der die Villa Malzi umgebenden Platanen und lasen zu Füßen der Bildsäule Bomelli's »Dante geführt von Beatrice«, des italienischen Dichters: »Göttliche Komödie«. Stille Nächte sahen beide nicht selten in einer Gondel bei Fackelschein am Fischfang sich ergötzen oder sich schaukeln auf dem Rücken des sanft sich bewegenden Gewässers. Liszt sah man auch öfter allein, versunken in die Pracht des nächtlichen Himmels und hingegeben an die Stimmungen, in denen die Seele gleichsam »zu entschweben scheint, empor zu den ewigen Quellen alles Schönen«.

Bellaggio und der Lago di Como verwoben sich in seinem Leben zu einem Gedicht, dessen Inhalt Schönheit, dessen Klang Wohllaut war. Als ihm Weihnachten ein Töchterchen geboren ward, nannte er es zur Erinnerung an die harmonisch-poetischen Tage am Comersee Cosima.

Diese Tage des Träumens fanden Liszt nicht allein hingegeben an poetische Stimmungen. Schien ihm auch momentan sein Instrument ein zu unvollkommenes Werkzeug, um zum Dolmetscher seiner Empfindungen werden zu können, so entstanden hier doch für dasselbe kostbare Blüthen weniger lyrischer, als poetisch-charakteristischer Art. Bei ihnen hat ebenso, wie der ihn umgebende Zauber der Natur, seine Lektüre mitgewirkt. Hier entstand der Anfang seines italienischen Wanderalbums, das im Gegensatz zu seinem Schweizeralbum aus Eindrücken hervorgegangen, welche Kunstwerke, nicht die Natur ihm gegeben. Das erste komponirte Stück desselben gehört Liszt's Bellaggio-Aufenthalt an und ist ein Nachklang seiner Dante-Lektüre, welchem er den Titel gab:


Fantaisie quasi Sonata5

après une lecture de Dante.


Diese »Dante-Fantasie« ist eine Komposition von großen Zügen, breiten Dimensionen und geheimnisvoll zauberhaften und doch[462] auch kraftgesättigten Farben, aber mehr Skizze als durchgearbeitetes Bild. Liszt hat die Dichtung Dante's, die ihn hier zur Musik inspirirte, nicht weiter angegeben, aber es ist nicht schwer zu erkennen, daß eine jener religiös-weltlichen Stimmungen vorherrscht, wie sie kaum ein anderer Dichter mehr als Dante gegeben und die irdischem Schmerz und himmlischer Aspiration, göttlicher Sehnsucht und mystischer Verzückung entstiegen scheint, aber immer die Kraft als Impuls hat.

Außer der »Dante – Fantasie« fallen der Zeit am Comersee als Hauptarbeit das innerhalb der Klavierliteratur einzig dastehende Studienwerk: 24 Grandes Ètudes dédiés à Charles Czerny6 zu, welches später noch einmal als »seule éditon authentique revue par l'auteur« unter dem Titel erschienen ist:


Études d'exécution transcendante

pour le Piano.7


No. 1. Preludio. (Cdur).

No. 2. – (Amoll).

No. 3. Paysage. (Fdur).

No. 4. Mazeppa. (Dmoll).

No. 5. Feux Follets. (Bdur).

No. 6. Vision. (Gmoll).

No. 7. Eroica. (Esdur).

No. 8. Wilde Jagd. (Cmoll).

No. 9. Ricordanza. (Asdur).

No. 10. – (Fmoll).

No. 11. Harmonies du soir. (Desdur).

No. 12. Chasse-Neige. (Bmoll).


Diese Ausgabe ist ebenfalls Czerny gewidmet »entemoignage de reconnaissance et de respectueuse amitié de son élève«.

Die Etüden dieser Sammlung, zwölf an der Zahl – nicht vierundzwanzig, wie der frühere Titel sagt – sind ein Riesenwerk durchgeistigter Technik, der Kulminationspunkt aller pianistischen Studien. Alles ist neu in der Erfindung wie in der Bearbeitung, alles von berauschender Klangfülle, kühnen Kombinationen und alles überbietender Technik. Neben ihnen erscheinen ältere Meisterwerke kleinlich und dürftig. Nur Chopin's Etüdes und Prèlüdes können an musikalischem und poetischem Werth ihm gleichgestellt[463] werden, weniger aber in der Breite der Anlage, in der Vielseitigkeit der Stimmung und in technischer Großartigkeit. Die Etüden der älteren Ausgabe tragen keine Überschriften, die der neueren aber sind mit solchen versehen, wodurch ihr Inhalt nahezu greifbar erscheint. Aber auch die Feile ist erkennbar, die eine Meisterhand geführt.

Abgesehen von dem großen musikalischen Werth dieses Werkes ist es auch noch in anderer Beziehung merkwürdig; denn es dürfte kein zweites Werk in der gesammten musikalischen Litteratur aufzufinden sein, das in dem Maß in die Entwickelung und in die Gestaltungskraft der Phantasie eines Komponisten einen Einblick gewährt wie dieses. Liszt hat nämlich als Grundlage seiner »Études d'execution transcendante« die kleinen Etüden genommen, welche er als fünfzehnjähriger Knabe in Marseille komponirt und alsopus 1 herausgegeben hatte. Es ist ebenso genußbietend wie lehrreich diese beiden Werke nebeneinander zu halten und zu forschen, wie aus jenen noch so sehr geschlossenen Keimen jugendlichen Phantasielebens der wild-geniale Ritt des »Mazeppa« die kühne »Eroica«, die großartig düstere »Vision«, das bunte Geflacker der »Irrlichter«, die poetisch-träumerischen »Harmonies du soir« sich gestalten, wie aus Gebilden klassischer Form sich diese Stücke freimodernen Geistes entwickeln konnten.

Diesen Studien reihen sich noch zwei Kompositionen, ein Galopp und eine Phantasie, an. Der:


Grand Galop chromatique (opus 12),8


dem ungarischen Grafen Adolphe Apponyi gewidmet, hat seiner Zeit als Virtuosenstück die Runde durch die Koncertsäle Europas gemacht und verdankt seine Entstehung einer jener Studien. Beim Ausarbeiten derselben nämlich entstand Liszt ein frappanter chromatischer Lauf unter den Fingern, dessen Charakter ihn gleichsam zu diesem Galopp aufforderte und auch sein musikalisches Motiv blieb.

Wie der »Chromatische Galopp« mit seinen blitzenden Läufen, hat auch die Fantasie:


[464] Réminiscences des Huguénots

Grande fantaisie dramatique (opus 11)9


ihren Weg durch die Koncertsäle gefunden, wo sie noch immer ihren Platz behauptet. Es ist die einzige Komposition, welche Liszt der Gräfin d'Agoult gewidmet hat, wobei jedoch die Widmung ihren Namen nur durch ihre Chiffre. – dédiée à Madame la comtesse d'A ... – andeutet: sie blieb aber auch die einzige Komposition Liszt's, welche Gnade vor ihren Augen fand. Als sie später von allen seinen Arbeiten geringschätzig sprach, nahm sie die »Hugenotten-Fantasie« stets aus und nannte sie sein »bestes Werk«.

Fußnoten

1 Liszt's »Gesammelte Schriften«. II. Band, Brief No.4.


2 Die »Mes Souvenires« der Gräfin d'Agoult sind de Ronchaud gewidmet.


3 Liszt's »Gesammelte Schriften«,Reisebriefe No. 5 und 6.


4 Brief No. 6.


5 »Années de Pélerinage. Italie«, No. 7. (Schott's Söhne in Mainz, 1858.)


6 Haslinger in Wien, 1839.


7 Breitkopf & Härtel, 1852.


8 Fr. Hofmeister, Leipzig 1838.


9 Fr. Hofmeister, Leipzig 1838.

Quelle:
Ramann, Lina: Franz Liszt. Als Künstler und Mensch, Band 1, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1880.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Anselm von Canterbury

Warum Gott Mensch geworden

Warum Gott Mensch geworden

Anselm vertritt die Satisfaktionslehre, nach der der Tod Jesu ein nötiges Opfer war, um Gottes Ehrverletzung durch den Sündenfall des Menschen zu sühnen. Nur Gott selbst war groß genug, das Opfer den menschlichen Sündenfall überwiegen zu lassen, daher musste Gott Mensch werden und sündenlos sterben.

86 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon