XXIV.

Liszt und die Milaneser.

(Reiseperiode mit der Gräfin d'Agoult

1835–1840. II. Italien.)

Koncerte in Mailand. Seine drei Akademien. Seine Amprovisati. Großer Enthusiasmus seitens des Publikums. Brief an Massard. Die musikalischen Salons. Rossini. Liszt's Rossini-Transkriptionen. Sein Bericht über das Scala-Theater und dessen Folgen. Milaneser Literaten machen ihm den Proceß. Liszt giebt Satisfaktion – der Milaneser grollt. Abschiedsdiner.


Während seines Aufenthaltes am Comersee gedachte Liszt zurückgezogen und ungekannt zu leben – ein Vorhaben, das ihm jedoch durch Ricordi in Mailand vereitelt zu geschäftskundig, um nicht den Vortheil zu erkennen, den des berühmten Künstlers Nähe ihm bringen konnte, waren die Schaufenster seines Magazins gefüllt mit dessen Kompositionen und als die Zeit nahte, wo die milaneser Nobili ihre Villen mit ihren Palästen vertauschten und die Pforten der Scala und der Koncertsäle nicht vergeblich offen standen, verkündigte die milaneser Zeitung dem »glücklichen Italien, daß es den ersten Pianisten der Welt beherberge«. Mit dem Inkognito Liszt's war es nun vorüber. Die Milaneser, begierig ihn zu hören, hofften auf seinen Besuch Mailands und die Bewohner am Comersee betrachteten ihn mit neugierigen Blicken, namentlich nachdem die Grafen Belgiojoso,1 welche in der Nähe wohnten, den Aufenthalt des Künstlers erspäht und ihn mit einer Serenade auf dem See überrascht hatten.

Liszt konnte sich nicht mehr verbergen. Und bald nach Ricordi's Verkündigung sah er sich in Mailands musikalisches[466] Leben hineingezogen. Diesen Winter waren gerade viele fremde Künstler da. Von Paris aus ein ganzes Kontingent. Und unerwartet traf er mit seinen Freunden Ferdinand Hiller, I.P. Pixis und anderen, auch wieder mit Adolphe Nourrit, welcher in Mailand gastirte, zusammen. Der Weg von Bellaggio nach Mailand wurde von Liszt mehrfach frequentirt, bis er endlich Anfangs Februar ganz dahin übersiedelte und bis nach Mitte März blieb.

Jeder seiner Ausflüge dahin hatte eine musikalische Veranlassung. Er wirkte in Koncerten mit. Ebenso gab er selbst einige. Am 3 December spielte er in einem Koncert des Pianisten Mortier, der in späteren Jahren als Specialist im Vortrag von klassischer Klaviermusik sich einen Namen errang, damals aber noch im allgemeinen brillanten Fahrwasser der Pianisten herumtrieb. Mit ihm spielte Liszt ein Duo für zwei Klaviere von Pixis. Bei einem Klavierensemble, das die guten Mailänder in große Ekstase versetzte, wirkte er ebenfalls mit. Es war die Ouverture zu Mozart's »Zauberflöte« welche für drei Klaviere, jedes zu vier Händen, arrangirt war, folglich sechs Pianisten zu seiner Ausführung bedurfte. Es scheint, als habe nur das Außergewöhnliche das Interesse des Publikums anzuregen vermocht – sechs Pianisten, um einem einen Erfolg zu sichern! Diese sechs waren: Liszt, Hiller, Pixis, Mortier, Schoberlechner, Orrigi – der letztere der einzige Italiener unter ihnen. Der Beifall war ein so großer, daß die Ouverture in einem Koncert Liszt's wiederholt werden mußte.

Liszt gab drei »musikalische Akademien«, welche seinen Ruhm über ganz Italien trugen und hier feststellten. Die erste derselben war am 10. December 1837 im Scala-Theater, die andern beiden am 18. Februar und 15. März im Redoutensaal. Er spielte meist Kompositionen von sich, seine »Niobe« – und »Glöckchen-Fantasie«, eine seiner in Bellaggio komponirten Études d'exécution transcendante, seine Übertragung der Gesänge Rossini's: »La Serenata e L'Orgia«, die Hexameron-Variationen und mit Mortier und den anderen Pianisten abermals das Duo von Pixis und die Ouvertüre zur Zauberflöte. Auch Hummels großes Septett opus 74 führte er vor.

Im Ganzen war man in Italien nicht für Klavier und Klaviermusik[467] eingenommen, ein Indifferentismus, welchem natürlich auch der Vertreter derselben, der Pianist, zum Opfer fiel. War Italien auch das Mutterland aller Virtuosität, so hatte es unter den Virtuosen doch seine Lieblinge und es schien, als habe es ganz vergessen, daß der erste Virtuos auf dem Klavier, Domenico Scarlatti, zu seinen Söhnen zählte. Unter den Virtuosen war der Sänger König, der Pianist aber der letzte ihrer Genossen. Selten verirrte sich darum ein solcher nach Italien. Er wußte, der Lorbeer in dem lorbeerreichen Lande grüne nur selten für ihn.

Ganz gegen diese Tradition des italienischen Geschmackes riß jedoch Liszt gleich dem Sänger zum enthusiastischen Jubel hin. In Mailands Musikleben wußte man von keinem Pianisten, der eine solche allgemeine Aufregung hervorgerufen. Nicht nur die vornehme Welt und nicht nur die musikalische, an ihrer Spitze der vergötterte »Schwan von Pesaro«, strömten in die Hallen des Konsertsaales; auch die ganze bemittelte Einwohnerschaft nahm Theil an dem musikalischen Ereignis, das mit Liszt in die Thore Mailands eingezogen war. Seine Koncerte erhielten je doch ohne seinen Willen ein so wunderliches, um nicht zu sagen abenteuerliches Gepräge, daß sie in der Koncertgeschichte unseres Jahrhunderts gewiß ein Unicum sind. Den Milanesen begeisterten sie aber gerade nach dieser Seite hin so sehr, daß er seine sonst allabendlich unentbehrlichen Unterhaltungen in der Scala, seine Primadonna, ja, seine Unempfänglichkeit für das Klavier vergaß! Anfangs langweilten ihn Liszt's Vorträge; er fand sie zu ernst und machte ihm Vorwürfe darüber. Das brachte Liszt auf den Einfall, die ihm zum Improvisiren vorgeschlagenen Themen nicht selbst zu wählen, sondern vom Publikum wählen zu lassen – ein Einfall, welcher sich als ein vortreffliches Mittel erwies die Pausen unterhaltend auszufüllen, und das Publikum in Spannung zu versetzen und in derselben zu erhalten. Nun war auf einmal die Langeweile vorbei. Die dem Italiener so unentbehrliche Heiterkeit, welche sich in seiner Oper im Baß buffo ihre historische Figur geschaffen, herrschte jetzt im Koncertsaal und der unerträgliche Ernst war verschwunden. Nur merkte das mailänder Publikum nicht, daß es bei den Koncerten Liszt's die Rolle des Baß buffo selbst übernommen hatte.

Über die mailänder Vorgänge berichtete der Bachelier ès-musique in seiner geistreichen, mit seiner Ironie durchzogenen Weise in[468] einem Lambert Massart gewidmeten2 und für die pariser Gazette musicale geschriebenen Brief. Er berichtete:


»Mein erstes Koncert in Milan gab ich im Teatro della Scala, das, wie Sie wissen, eines der größten der Welt und ganz dazu gemacht ist, um selbst einer Stimme wie der Lablache's oder den mächtigen Klängen eines Orchesters wie des pariser Konservatoriums, Trotz bieten zu dürfen. Aufrichtig gesagt, muß ich in demselben eine seltsame Figur gespielt haben – ich, so hager, so »étrigué« mit meinem treuen Erard allein, ganz allein gegenüber einem Publikum, das an glanzvolle Lärmstücke und stark aufgetragene musikalische Effekte gewöhnt ist. Wenn sie diesen Lokalverhältnissen noch hinzufügen, daß die Italiener allgemein die Instrumentalmusik nur als eine untergeordnete Sache betrachten, die mit der Gesangmusik sich nicht messen darf, werden Sie sich einen Begriff von dem Tollkühnen meines Unternehmens machen können.

Nur wenig große Pianisten sind nach Italien gekommen. Field ist meines Wissens der letzte, wenn nicht der einzige, den man da gehört hat. Kein Hummel, kein Moscheles, kein Kalkbrenner, kein Chopin hat sich an der jenseitigen Grenze der Alpen gezeigt. Die Nadel des goldenen Magnets, welcher das Talent anzieht, zeigt heutigentags gen Norden. Die Medicis, die Gonzaga, die d'Este schlafen auf ihren Marmorkissen. Keine berühmten Mäcenen rufen jetzt berühmte Künstler in ihre Paläste. Wenn heute der Musiker in Italien reisen will, muß er gleich mir mehr nach der Sonne als nach dem Ruhme lechzen, mehr die Ruhe als das Geld suchen, gleich mir verliebt in die Malerei und Skulptur und überdrüssig der Musik sein – dort, weil er nichts, hier, weil er etwas davon versteht.

Vor einem Publikum, das ich wenig vorbereitet fand, um auf gewisse bekannte Ideen über Komposition und Vortrag eingehen zu können – Ideen, die ich aber trotz des Achselzuckens gelehrter Recensenten und trotz ihrer Unfehlbarkeit eigensinnig festhalte – vor solch einem beschränkten Auditorium, beschränkt ausschließlich auf Opernmusik, wagte ich es drei Fantasien meines Geschmackes, die gewiß wenig streng und wenig gelehrt sind,[469] aber dennoch nicht in den gewohnten Rahmen paßten, vorzutragen. Dank vielleicht einigen mit lobenswerther Gewandtheit ausgeführten Oktavengängen und mehreren über Gesangsweise verlängerten Kadenzen, die wohl die beharrlichste aller Nachtigallkehlen hinter sich gelassen haben würden, – sie wurden applaudirt. Durch diesen schmeichelhaften Beifall ermuthigt und meinesterrain mich sicher glaubend wurde ich noch verwegener, lief aber dabei fast Gefahr meinen kleinen Erfolg gänzlich zu kompromittiren, indem ich dem Publikum einen meiner letztgeborenen Lieblinge vorstellte: einePrélude-Étude (studio)., nach meiner Ansicht eine gute Sache. Dieses Wort »studio« erschreckte jedoch gleich anfangs, und:

»Vengo el teatro per divertir mi e non per studiare!« – rief mir ein Herr aus dem Parterre entgegen und sprach damit leider das Gefühl einer zum Erschrecken überwiegenden Majorität aus. Und in der That! es gelang mir nicht den Geschmack des Publikums für meine baroke Idee zu gewinnen, anderswo als in meinen vier Wänden eine Etüde zu spielen, deren Zweck nach seiner Meinung offenbar kein anderer sein konnte als mir die Gelenke beweglich und die Finger geschmeidig zu machen. Die Langmuth, mit welcher das Auditorium mich bis zum Schluß anhörte, habe ich als einen ganz besonderen Beweis von Wohlwollen betrachtet.

Ein andermal führte ich in dem Saal des »Ridotto« Hummel's Septett vor. Der regelrechte Gang dieses Werkes, die Majestät seines Stils, die Klarheit und Plastik seiner Ideen erleichtern das Verständnis für dasselbe. Auch verfehlen die jeden einzelnen Theil beschließenden Passagen nie ihre Wirkung, und so wurde dieses Kunstwerk mit besonderem Beifall aufgenommen. – Gerne wäre ich hierbei nicht stehen geblieben und hätte am liebsten den Mailändern die Trios von Beethoven, einige Werke von Weber und Moscheles zu hören gegeben, aber abgesehen davon, daß mir die Zeit dazu mangelte, wäre es vielleicht auch unklug gewesen ihre wilden und nordischen Schönheiten vor Ohren erklingen zu lassen, die von den sinnlich erregenden Lauten eines Bellini, Donizetti und Mercadante eingelullt sind. Deutschland konnte der Lombardei wohl seine Gesetze geben; bis jedoch seine Musik durchgedrungen sein wird, mögen noch Jahre vergehen: Bajonette können zwar Gesetze, nicht aber Geschmack befehlen.

[470] Um meinen Koncerten, denen man übergroßen Ernst zum Vorwurf machte, Erheiterung beizumischen, hatte ich den Einfall über Themen improvisiren zu wollen, welche vom Publikum vorgeschlagen und durch Zuruf gewählt würden – eine Art zu improvisiren, welche zwischen Publikum und Künstler die un mittelbarsten Beziehungen herstellt. Diejenigen, welche Motive vorschlagen, setzen bis zu einem gewissen Grad ihre Eigenliebe mit ein. Die Annahme oder das Verweisen der Themen wird ein Triumph für die einen, eine Niederlage für die andern, eine Sache der Neugierde für alle. Jeder ist begierig zu hören, was der Künstler aus dem ihm gegebenen Thema machen werde. So oft es in einer neuen Form erscheint, freut sich der Geber der guten Wirkung, die es hervorruft wie über eine Sache, zu der er persönlich beigetragen. So entsteht denn eine gemeinschaftliche Arbeit, eine Ciselir-Arbeit, mit welcher der Künstler die ihm anvertrauten Juwelen umgiebt.

Bei meiner letzten séance musicale wurde zur Aufnahme der thematischen Billete am Eingang des Saales ein reizender silberner Kelch von köstlicher, einem der besten Schüler Cellini's zugeschriebenen Arbeit aufgestellt. Als ich zur Entzifferung der Wahlzettel schritt, fand ich, wie erwartet, eine große Menge Motive von Bellini und Donizetti; alsdann aber erschien zur allgemeinen Erheiterung der Anwesenden ein sorgfältig gefalteter Zettel eines wohl keinen Augenblick an der Vortrefflichkeit seiner Wahl zweifelnden Anonymus mit dem Thema:

Il Duomo di Milano.

»Ach« sagte ich, »da ist jemand, der aus seiner Lektüre Nutzen zieht und sich des Wortes der Frau von Staël:La musique est una arhitecture des sons'‹ erinnert. Er ist begierig die beiden Bauarten: die entstellte Gothik der Domfaçade mit der Ostrogothik meines musikalischen Stils zu vergleichen, um die begriffliche Genauigkeit konstatiren zu können«.

Ich hätte ihm gerne die ästhetische Genugthuung, die Behauptung der berühmten Staël zu bestätigen oder zu widerlegen verschafft; aber das Publikum zeigte nicht die geringste Lust, meine aus Zweiunddreißigsteln erbauten Glockenthürme, meine Skalen-Gallerien und Decimen-Spitzen sich erheben zu hören, und so fuhr ich im Ablesen der Zettel fort, die immer besser, immer schöner wurden. Ein ehrlicher Bürger, welcher sich mit dem Fortschritt der Industrie und dem Gewinn in sechs Stunden von Mailand[471] nach Venedig reisen zu können sehr beschäftigen mochte, gab mir das Thema:

La strada di ferro.

Um aber dieses Thema zu behandeln, hätte ich kein anderes Mittel gewußt als ununterbrochene Glissando- Tonleitern von oben nach unten zu machen; weil ich jedoch fürchten mußte bei dem Wettlauf mit der vorwärts eilenden Schnelligkeit der Dampfmaschine mein Handgelenk zu brechen, beeilte ich mich ein anderes Zettelchen zu öffnen. Und was glauben Sie wohl, was ich nun fand?! Eine der wichtigsten, nur durch Harpeggien zu lösenden Fragen des menschlichen Lebens, eine Frage, deren Umkreis sich auf alles ausdehnen läßt, aus die Religion wie auf die Physiologie, auf die Philosophie wie auf die Nationalökonomie. Ich las:

Ist es besser zu heirathen oder Junggeselle zu bleiben?

Da ich diese Frage nur durch eine lange Pause hätte beantworten können, zog ich es vor dem Auditorium die Worte eines Weisen ins Gedächtnis zurückzurufen: »Welchen Entschluß man auch fasse, ob man heirathe oder ledig bleibe, immer wird man ihn zu bereuen haben«. –

Sie sehen, mein Freund, daß ich ein herrliches Mittel gefunden habe, um Heiterkeit in ein Koncert zu bringen, dessen Langweile mehr kühler Pflicht als dem Vergnügen gleicht. Oder wäre es nicht berechtigt gewesen, in diesem Land der Improvisationen meinAnch' io! zu sagen?« –


Es gab aber auch musikalische Kreise in Mailand, bei denen das Kunstverständnis und die Kunstpflege über den Baß buffo hinausgingen und man, obwohl auch hier wie in ganz Italien der Vokalmusik der Vorzug eingeräumt wurde, weder den mailänder Dom noch die Eisenbahn in Musik gesetzt verlangte. Hier spielte Liszt häufig privatim – in den Salons der Nobili und in den musikalischen Soiréen Rossini's.

Der musikalische Olympier, der in seine Vaterstadt ruhmbekränzt und goldbeladen zurückgekehrt war, liebte es die talentvolle und musikbegeisterte Jugend regelmäßig zu gemeinschaftlichem Musiciren um sich zu versammeln und sie mit den Lieblingen seiner Muse vertraut zu machen. In seinen und in den Salons der schönen, reichen und kunstliebenden Gräfin Julie Samoyloff (geborene[472] Gräfin von Phalen) fand sich gewöhnlich alles zusammen, was Mailand an bedeutenden Kunstfreunden und Künstlern aufzuweisen hatte. Hier fand Liszt stets ein auserwählt musikalisches Publikum, das wohl meist nur aus Dilettanten bestand, aber aus Dilettanten von seltener Kunstfertigkeit. Unter ihnen waren die Grafen Pompeo und sein Vetter Sonino Belgiojoso, beide mit Stimmen, um die sie »ein Tamburini und Ivanoff hätten beneiden können«, die Gräfinnen Jamaglio und Julie Samoyloff, von deren Gesang Liszt sagte, daß er »an Süßigkeit und Kraft mit dem Duft des Maiglöckchens wetteifere«, sodann noch viele andere vornehme Sängerinnen, Harfen- und Klavierspielerinnen, deren Virtuosität und genialer Vortrag manchen Künstler der Öffentlichkeit zum Wetteifer hätte auffordern dürfen. Wenigstens spottete manchmal Rossini gegen die anwesenden Künstler: hier seien sie die Unterliegenden.

Aber auch an hervorragenden Künstlern, welche in den seltenen Dilettantenkreis erhöhten Schwung brachten, fehlte es diesen Winter nicht. Neben Liszt musicirten hier Nourrit, der Tenorist Poggi, die Pasta u.A. In Rossini's Soiréen wurden auch Novitäten jüngerer Talente aufgeführt – in dieser Zeit der 23. Psalm des anwesenden Ferdinand Hiller. Das waren die Kreise, in welchen Liszt sich bewegte und die ihn entschädigten für den Sklavendienst, von dem selbst der König der Virtuosen im Koncertsaal und gegenüber der Menge sich nicht freimachen konnte, und dessen er ebenfalls in seinem Brief an Massart nicht ohne Anflug von Selbstironie gedenkt.

Die Beifallsbezeugungen, welche ihm hier, wie von Seiten des großen Publikums wurden, waren unbegrenzt. Sie legten halb Mailand zu seinen Füßen und lockten sogar den durch Mailand reisenden russischen Staatsmann und Kanzler Grafen Nesselrode fünf Treppen hoch zu steigen, um den geistvollen und merkwürdigen Künstler in seiner Wohnung aufzusuchen.

Von großer Anregung für Liszt war sein eifriger Verkehr mit Rossini. Die Genialität, Leichtigkeit und Grazie seines Genies zog ihn ebenso an, wie die Erfahrenheit, der Geist und die feine Ironie des Weltmannes. Viele Stellen seiner damaligen Briefe fließen von Bewunderung für ihn über. Hatte ihm auch dieser, als beide in einem intimen Gespräch waren und der Jüngling den lebenskundigen Mann vertrauensvoll fragte: welches[473] Ziel er ihm rathe für die Zukunft zu verfolgen, eine bittere Pille gegeben, indem er auf sein zielloses Wanderleben hinweisend ihm antwortete:

»Vous avez de quoi être un grand compositeur, un grand écrivain, un grand philosophe – et vous ne viendra tout de rien«, so konnte ihn das nicht hindern dem Genie des italienischen Meisters seine Huldigung darzubringen.

Er übertrug dem Klavier die durch ihre geniale Leichtigkeit und ihr sprudelndes Leben einzig dastehenden Gesänge der Rossini'-schen Soiréen, welche in kleinen Formen, wie kaum ein anderes Werk, den heiteren Genius italienischer Tonkunst in vollendeter Schönheit wiedergeben. Liszt's:


Transcriptions des Soirées musicale de Rossini,3


stehen dem Original in keiner Weise nach; Original und Übersetzung scheinen wie im Wetteifer miteinander entstanden. Es dürfte wenigstens schwer zu entscheiden sein, ob bezüglich ihrer Wirkung und Vollendung dem Original oder seiner Übersetzung der Vorzug gebührt.

Liszt hatte bis jetzt nur große Partituren von Berlioz und Beethoven, sowie einige Lieder Schubert's dem Klavier übertragen – alles Kompositionen überwiegend germanischer Richtung. Es überrascht daher, daß nun neben die Hingabe an die innig empfundenen lyrischen Blüthen des Schubert'schen Genius die Empfänglichkeit für die italienische Muse mit ihrem lebendig nach Außen sprühenden sinnlich-graziösen Wesen tritt. Denn beide Richtungen, die deutsche und italienische, scheinen ihrem Wesen und ihrer Natur nach sich geradezu gegenseitig auszuschließen. Die meisten Tonkünstler, welche eine tiefe Sympathie für ernste und erhabene Werke der Kunst in sich tragen, finden nur eine schwache Resonanz in sich für den musikalischen, der südlichen Lebenslust entspringenden Vollklang der Kunst. Nur universell angelegte Geister tragen für jede Lebenssaite die Stimmung in sich. Dem geistigen Saitenbezug Liszt's fehlte keine. Es bedurfte nur der Berührung, um jede zum Klingen zu bringen. Die Berührung[474] der italienischen Saite fand er im Verkehr mit dem italienischen maëstro. Kein Italiener würde das heitere Spiel des Augenblicks, das stretto undfuoco, den sinnlichen Wohllaut des Lebensgenusses, das Schmachten, Seufzen, Lachen und Lieben, das Maß und die Durchsichtigkeit der Farben und Formen, wie sie sich in Rossini's Muse verkörpern, vollendeter auf dem Klavier wiedergegeben haben als Liszt!

Diese Übertragungen hatten bereits in den schon erwähnten zwei Fantasien Liszt's über die den »Soiréen« angehörenden Gesänge: »La Pastorella dell' Alpi et Li Marinari«, ihre Vorläufer; doch sind diese beiden Fantasien nicht mit jenen zu verwechseln. Sie verbinden durch ein Vorspiel, durch Zwischensätze und Kadenzen einige ihrem Wesen nach Gegensätze bildenden Gesänge zu einem Ganzen, während Liszt dort bei jeder Komposition in dem vom Autor gegebenen Rahmen bleibt. Die ganze Sammlung besteht aus zwölf Nummern mit den Überschriften:


1) La Promessa.

2) La Regata veneziana.

3) L' Invito.

4) La Gita in gondola.

5) Il Rimprovero.

6) La Pastorella dell' Alpi.

7) La Partenza.

8) La Pesca.

9) La Danza.

10) La Serenata.

11) L' Orgia.

12) Li Marinari.


Diese Transkriptionen hat Liszt der damaligen mailänder Beschützerin der Tonkunst, der Gräfin Julie Samoyloff gewidmet.

Bei der Übertragung der »Soiréen« Rossini's blieb er jedoch nicht stehen. Seiner Mailand-Episode gehört noch das Glanzstück seiner Rossini-Übertragungen an: die


Transcription de l'Ouverture de Wilhelm Tell,4[475]


welche eine geraume Zeit hindurch das Paradepferd der Virtuosen wurde. –

Liszt hat noch zwei der kirchlichen Muse Rossini's angehörende, jedoch einen nur weltlichen Stempel tragende Stücke dem Klavier übertragen, mit denen seine musikalischen Rossini-Beziehungen ihren Abschluß finden.

Diese sind:


Deux Transcriptions d'après Rossini5


No. 1 Air du Stabat Mater.

No. 2 La Charité.


Beide kleine Arbeiten gehören einer späteren Zeit, den vierziger Jahren an.

Liszt verließ Mailand am 16. März und reiste nach Venedig. Der Enthusiasmus der Mailänder hatte ihn aber nicht ziehen lassen, ohne ihm das Versprechen abgenommen zu haben, daß er im Herbst zur Krönung des österreichischen Kaisers Ferdinand I. als Königs der Lombarden wiederkehre und durch seine Kunst den Glanz der Festlichkeiten erhöhe. Inzwischen aber mußte Liszt gewahr werden, daß auch in Mailand die Gunst des Publikums nicht unwandelbar sei. Sein Aufenthalt hatte einen Stachel im Gefolge, der für ihn wohl im Moment sehr peinlich, im Ganzen aber nur ein heiteres Nachspiel seiner Koncerterlebnisse war. Diesesmal spielte jedoch nicht der Enthusiasmus, sondern die Nationalliebe als Kunstkritik bei den Milanesern die Rolle.

Und das alles war, wie ein Jahr früher die Thalberg-Affaire, die Folge seiner Feder, die Folge eines durchaus objektiv gehaltenen Berichtes, welchen derBachelier ès-musique über die Scala in Mailand geschrieben und der pariser Gazette musicale eingesandt hatte.6 Als Korrespondent der letzteren hatte er ihr eine Schilderung des Scala-Theaters, seiner Sänger, des gesellschaftlichen Logenlebens mit seinen öffentlichen Galanterien entworfen und sie mit einer Kritik des allgemeinen Geschmackes und dessen Richtung verbunden. Diese Beleuchtung ihrer musikalischen Zustände konnte für die Milaneser keine durchweg schmeichelhafte[476] sein. Aber aus einer objektiven Auffassung hervorgegangen, welche das wirklich Gute keineswegs übersah, im Gegentheil betonte, konnte sie im Grunde genommen auch nicht verletzen. Nichtsdestoweniger brachte Liszt's Bericht eine nicht beabsichtigte Wirkung hervor und einige unberufene Vertreter der mailänder Bildung erhitzten sich dermaßen, daß sie Liszt, als er eines Tages auf dem Weg nach Genua durch Mailand reiste, auf offener Straße wegen seiner »Undankbarkeit« gegen die Milaneser mit Vorwürfen überschütteten.

Kaum wurde die Sache kund, als auch drei Journalisten, welche am »Pirate« am »Figaro« und am »Corriere de' teatri« thätig waren, sich seines Aufsatzes bemächtigten und »Guerra al F. Liszt!« rufend heftig an die Lärmglocke beleidigten Nationalgefühls schlugen. In einem aktenmäßig abgefaßten Artikel hielten sie ihm seine Sünden vor, indem sie ihn anklagten:


1) ungeheurer Undankbarkeit gegen eine Stadt, die ihn mit Begeisterung empfangen;

2) der Beschimpfung der italienischen Nation durch die Behauptung: sie kenne die deutsche Musik nicht;

3) durch seine Äußerung: »die Gewohnheit im Theater zu empfangen und die Logen in Salons umzuwandeln gebe dem socialen Leben der Frauen eine Art Öffentlichkeit, die man in Frankreich nicht kenne« die Ehre der Gatten, die Tugend der Gattinnen, die Zärtlichkeit der Mütter beleidigt zu haben;

4) Die Beschimpfung des Opernpersonals en masse, des impresario, der maestri, der Primadonna, des ersten Tenors, des Dekorateurs, des Choreographs u.s.w.«


Nach dieser Aufzählung des Sündenregisters Liszt's erklären nun, um seine beleidigende Anmaßung zu züchtigen, sowie seine verleumderischen Behauptungen zurückzuweisen, der Pirate, der Figaro, und der Corriere de' teatri:


1) daß Liszt das Klavier nicht zu spielen verstehe und daß, wenn Mailand ihm Beifall gespendet, es sich durch die Urtheile Deutschlands und Frankreichs habe beirren lassen;

2) bedeuten sie ihm: daß all sein Bemühen als Franzose zu imponiren vergeblich gewesen – er sei gar kein Franzos, sondern ein Ungar;

[477] 3) überantworten sie ihn wegen seiner Sottise »Ameleto che ammazza un rattto, il Dottore Faust portato del diavolo nell'Inferno«, als unsterbliche Typen zu verehren und weil er gegen alle Vernunft den Ultramontanen an den »Stranezza di Beethoven« und den »Lindure di Weber« Geschmack beibringen will, der allgemeinen Lachlust.«7


Die milaneser Erhitzung gegen Liszt hatte sich durch seine interessante Anklage und Verurtheilung noch keineswegs abgekühlt. Schmäh- und Drohbriefe, durch deren Zeilen Stilete blitzten, fanden in Massen ihren Weg nach Lugano, wo Liszt seine Vileggiatura für diesen Sommer genommen hatte. Es half nichts, daß er durch den »Moda« die Versicherung gab, nie die Absicht gehabt zu haben die Bewohner Milans zu beleidigen – das aufgeregte südliche Naturell wollte sich nicht beruhigen lassen. Liszt beschloß darum nach Mailand zu reisen und an Ort und Stelle die Sache zu schlichten. Und so fuhr er an einem heißen Sommertag ohne Furcht vor den durch anonyme Briefe ihm zugesicherten Bestrafungen in einem offenen Wagen durch Mailands Straßen, um im Hôtel de la Bella Venezia die Anschuldigungen persönlich in Empfang zu nehmen und zu widerlegen. An den Redakteur der »Glissons« aber hatte er folgende der Öffentlichkeit bestimmte Zeilen gerichtet:


Monsieur!8


Les invections et les injures des Journaux continuent. Ainsi que je l'ai déjà dit je ne m'engagerai point dans[478] une guere de plume. Sur le ton où le Pirate et Courier des Théâtres l'ont commencé, se ne pourrait être qu' un exchange de grossièretés. Je puis encore moins répondre à des insultes anonymes. Ainsi donc je déclare pour la centième et dernière fois, que mon intention n' a jamais été, n' a jamais pu être d'outrager la société milanaise. Je déclare aussi que je suis prêt à donner à quiconque viendra me les demander, toutes les explications nécessaires.


Agréez, Monsieur, etc.F. Liszt

Vendredi matin, 20. Juillet,

Hotêl de la Bella Venezia.


Im Hôtel de la Bella Venezia saß nun Liszt und wartete innerlich geharnischt der Scenen, die sich entwickeln sollten. Die Fechter von Milano jedoch schienen siesta zu halten – niemand ließ sich bei ihm blicken. Er kehrte hierauf nach Lugano zurück und hatte Ruhe.

Als er aber seinem früheren Versprechen gemäß, von dem er sich durch das literarische Intermezzo nicht entbunden hielt, im September zur Krönungsfeier wieder nach Mailand kam, war es ihm trotz Ricordi unmöglich ein Koncert zu entriren, an welchem das allgemeine Publikum Theil genommen hätte. Selbst ein Koncert zum Besten der Armen – am 8. September – schlug fehl. Der Groll der Milaneser ließ sich nicht versöhnen. Nur ein am 10. September abgehaltenes Koncert zum Benefice des Pio Instituto teatrale war besucht, aber nur von Personen der höheren Gesellschaftskreise.

Nun verließ Liszt Milano, doch nicht ohne den Milaneser noch einmal verblüfft zu haben. Aber diesmal weder durch seine Improvisationen noch durch seine Feder, sondern durch ein Abschiedsdiner, das er seinen Freunden gab, dessen Stil aber so abweichend von dem derartiger Künstlerrevanchen war, daß der mailänder Referent der Leipziger »Allgemeinen musikalischen Zeitung« glaubte, es hier als Novität erwähnen zu müssen.


»Nicht zu vergessen!« schloß er einen Koncertbericht,9 »der große Künstler und als Mensch wahrhaft ehrliche, wohlthätige und mit dem Geld nur allzu libe rale Liszt gab bei Cova (einem[479] Restaurant) vierundzwanzig Personen, unter ihnen Rossini, ein großes Diner, wofür 622 österreichische Lire oder Zwanziger, dito für Trinkgeld 34 Lire, Summa Summarum 656 Lire oder 218 Augsburger Gulden ausbezahlt worden sind. Ist das nicht ein außerordentlicher musikalischer Prinz?« –


Das war das Finale der Mailand-Episode, die zusammengefaßt mit seinem Bericht »La Scala«10 und einem anderen später erfolgten Aufsatz: »Über den Stand der Musik in Italien«11 interessante und charakteristische Streiflichter über einen Theil der musikalischen Zustände Italiens geworfen und einen Beitrag zur Musikgeschichte dieses Landes von bleibendem Werth gegeben hat.

Fußnoten

1 Vettern des Fürsten Belgiojoso.


2 Liszt's »Gesammelte Schriften« II. Band, Brief No. 7.


3 Erschienen 1838 bei Ricordi in Mailand und zugleich bei B. Schott's Söhnen in Mainz und Aachen.


4 Erschien 1846 (?) bei Schott's Söhnen etc.


5 1853 bei Schott's Söhnen.


6 Liszt's »Gesammelte Schriften«, II. Band, Brief No. 9


7 Gazette musicale de Paris 1838 No. 31, Seite 314. »Correspondance Particulière.«


8 Mein Herr! – Die Schmähreden und Injurien der Zeitschriften hören nicht auf. Wie ich bereits erklärt, werde ich mich in keinen Federkrieg einlassen. Um in dem Ton, welchen der Pirate und der Courier des Théatres angeschlagen, fortzufahren, könnte ein solcher nur ein Austausch von Grobheiten werden. Ebenso wenig kann ich anonyme Beleidigungen beantworten. So erkläre ich denn zum hundertsten und letzten Mal, daß es nie meine Absicht war noch sein konnte, die milaneser Gesellschaft zu beleidigen. Auch erkläre ich, daß ich bereit bin jedermann, der es verlangt, die nöthigen Auseinandersetzungen zu geben.

Genehmigen Sie etc. Franz Liszt.


Freitag, am 20. Juli etc.


9 1838. No. 52, Seite 874.


10 Liszt's »Gesammelte Schriften«, II. Band, Brief No. 8.


11 Liszt's »Gesammelte Schriften«, II. Band, Brief No 10.

Quelle:
Ramann, Lina: Franz Liszt. Als Künstler und Mensch, Band 1, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1880.
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