XXV.

Koncert-Episode in Wien.

(Reiseperiode mit der Gräfin d'Agoult

1835–1840.)

In Venedig. Überschwemmung der ungarischen Donauländer. Liszt Patriotismus erwacht. Koncertirt für die Pannonier in Wien. Großartiger Erfolg. Originalberichte von damals. Sein Repertoire und dessen Einfluß auf Einführung alter Musik in den Koncertsaal. Abschied.


Zwischen dem Anfang und Ende der erzählten mailänder Erlebnisse jedoch lag eine künstlerisch ereignisvolle Episode im Leben Liszt's.

Ohne daß es in seinem Plan gelegen, ohne daß er hier erwartet worden wäre, so ganz ohne alle Vorbereitung sehen wir ihn plötzlich in Wien. Wie ein feuriges Meteor leuchtete er hier am musikalischen Horizont auf und verbunkelte die Sterne, die gerade in dem Moment, als er erschien, die Bewunderung und das Entzücken der Wiener im hohen Maße genossen.

Es war ein besonderer Vorfall, welcher Liszt so plötzlich die Linie seines italienischen Reisekurses durchbrechen ließ, um in der österreichischen Hauptstadt als Pianist aufzutreten.

Doch lassen wir die Ereignisse in ihrer Reihenfolge an uns vorüberziehen!

Mitte März war Liszt von Mailand nach Venedig gereist, wo man, gespannt durch seine großen Erfolge in der lombardischen Hauptstadt, seiner bereits wartete. Er hatte hier im Saale der Società Apollinex ein Koncert gegeben, in welchem die Unger, der Bassist Moriani und der Baritonist Ronconi sangen, und hatte bei diesem wie bei einem zweiten Koncert – am 1. April im Teatro San Benedetto – die Venetianer zu den feurigsten Akklamationen hingerissen.[481]

Der Künstler selbst aber hatte sich im Gegensatz zu dem musikalisch lebendigen Treiben in Mailand mehr und mehr den Stimmungen hingegeben, welche das einst so stolze Venezia in dem poetischen Wanderer weckt. Er war vor dem Hauptportal zu San Marco gestanden und sein Auge hatte sinnend auf den antiken Rossen geruht, unter deren Füßen sich die Thorflügel der stolzen Basilika öffnen und die im Verlauf eines Jahrtausends den Fall von vier Kaiserreichen gesehen; er hatte sich in die monumentalen Zeugen des einstigen Glanzes der Dogenstadt, die nun in düsterer Melancholie die dahin gegangene Herrlichkeit zu betrauern scheint, versenkt; und wenn die letzten Strahlen der scheidenden Sonne dem immer dichter werdenden Schleier der Nacht unterlagen und unter Fackelglanz und den Sirenenklängen der Musik buntes Leben sich in den Straßen zu entfalten begann, war er auf dem volksbelebten Riva degli Schiavoni gesessen und ließ, aus einer Seebinsen-Pfeife rauchend, die berauschenden Bilder der Nacht an seiner Phantasie vorüberziehen – die Lebenslust und die Heimlichkeit, in welche wie ein Mahnruf die Mitternachtsglocke von San Giorgio die Kapuziner zur Messe rufend hineintönte. Er hatte »on the bridge of sighs« gestanden, in seinen Gedanken die Meditationen des brittischen Dichters wiederholend; und in nächtlicher Stille hatte er, in schwarzer Gondel sitzend und hingleitend über die schlafenden Gewässer der Lagunen, jener alten trauervollen Anfangsmelodie des »Gerusalemme liberata« gelauscht, jener Melodie, welche selbst unter der Schwere der Jahrhunderte nicht hat ersterben können.


»Canto l'armi pietose e' il Capitano,

Cho l'gran sepolcro liberò di christo –«


so singt noch heute der Schiffer der Lagunen, mit langgezogenem Ruderschlag die unbeschreiblich melancholische Weise begleitend.

So ganz hingegeben an den Reiz, welcher die mit dem Glanz historischer Erinnerung geschmückte Lagunenstadt umschwebt, wurde durch ein Zeitungsblatt Liszt seiner träumerischen Stimmung entrissen und in eine Aufregung versetzt, welche in Verbindung mit ihrer Ursache ihn nach Wien führte. Das Ereignis betraf nicht ihn selbst: es betraf das Land seiner Kindheit. Traurige Kunde drang von da hinaus in die Welt. Die Donauländer waren von den[482] hereinstürmenden Gewässern des Oberlands überschwemmt und ihre Bewohner, arm und obdachlos, flüchteten unter das gastfreie Dach der Mildthätigkeit. Ein zum Herzen dringender Aufruf um Hilfe drang über die Grenzen Ungarns in die benachbarten Länder. Und dieser Ruf war es, welcher in diesem Moment Liszt's Erinnerung an seine Heimat mit einer Stärke wach rief, daß er sich plötzlich als Sohn Ungarns fühlte und das Gefühl der Verbrüderung mit den Nothleidenden, das Gefühl der Nationalität mit einer Kraft, einer Begeisterung und Opferfreudigkeit in ihm hervortrat, wie wir sie vorzugsweise nur bei den Helden zu bewundern gewohnt sind, die mit dem Schwert in der Hand die Ehre, den Herd, die Freiheit vertheidigen oder erkämpfen.

Liszt's fünfzehnjähriger Aufenthalt auf französischem Boden hatte die Erinnerungen an sein Vaterland zurückgedrängt. Seine Knaben- und Jünglingsperiode, seine Bildungs- und erste Erfahrungsschule, seine ersten Leiden und Wonnen – alles das, was dem jungen Menschen das Gefühl der Zusammengehörigkeit erzieht, verband ihn mit der französischen Nation. Nur wie ein Traum erschien es ihm, daß seine Wiege in Ungarn gestanden. Das Land, dessen Bildung ihn adoptirt, war ihm die Heimat geworden. Und nun brach auf einmal durch die Ereignisse, welche Pest unglücksschwer getroffen, einem lange zurückgehaltenem Strome gleich, der hinter seinen Böschungen ungeahnt wächst und wächst und plötzlich von seinen Dämmen befreit, kraftvoll, überströmend dahin stürzt, das Gefühl und Bewußtsein seiner Nationalität in ihm hervor.

Aus der Fülle seiner Erregung schrieb er damals über dieses Erwachen nationalen Gefühls an Lambert Massard nach Paris: »daß jenes Unglück eine wahre Erschütterung« in ihm hervorgerufen habe. »Eine außergewöhnliche Theilnahme«, fährt er fort, »ein lebendiges unwiderstehliches Bedürfnis drängte mich den vielen Unglücklichen beizustehen. Aber wie? fragte ich mich. Auf welche Weise kann ich ihnen Hilfe bringen? ich, der ich nichts von dem mein eigen nennen kann, was Menschen allmächtig macht, weder den Einfluß des Reichthums noch die Macht hoher Stellung? Doch gleichviel – vorwärts denn! Fühle ich es doch zu sehr, daß weder mein Herz Ruhe noch mein Auge Schlaf finden wird, bis ich mein Scherflein zur Linderung dieses großen Elends beigetragen. Wer weiß auch, ob nicht des Himmels Segen auf mein schwaches Opfer fallen wird. Die Hand, welche die Brode in der Wüste[483] vermehrte, ist nicht erlahmt. Gott hat vielleicht am Pfennig des Künstlers mehr Wohlgefallen als am Gold der Millionäre«. –

»Durch diese inneren Erregungen und Gefühle wurde mir der Sinn des Wortes ›Vaterland‹ offenbar. Ich versetzte mich plötzlich zurück in die Vergangenheit und fand in meinem Herzen die Schätze der Kindheitserinnerungen rein und unberührt wieder. Eine großartige Landschaft erhob sich vor meinen Augen: das war der über Felsen stürzende Donaufluß! das war das weite Wiesenland, auf dem friedliche Heerden in Freiheit weideten! das war Ungarn, der kräftige fruchtbare Boden, der so edle Söhne erzeugte! das mein Heimatland! Und auch ich, rief ich mit einem von Ihnen vielleicht belächeltem Anfall von Patriotismus aus, auch ich gehöre dieser alten kraftvollen Rasse an! auch ich bin ein Sohn dieser urwüchsigen, ungebändigten Nation, welcher sicher noch bessere Tage bestimmt sind!« – – – – –

»Diese Rasse war noch immer stolz und heroisch. In dieser breiten Brust haben noch immer starke Gefühle gewohnt. Diese stolzen Stirnen sind nicht für Knechtschaft und Geistesarmuth geschaffen. Ihre Intelligenz, glücklicher als die anderer, hat sich nie von täuschendem Glanze blenden lassen, ihre Füße haben nie auf unrechtem Wege geirrt, ihr Ohr hat keinen falschen Propheten gelauscht. Man hat ihnen nicht gesagt: Christus ist hier ... er ist dort ... Sie schläft ... Aber möge eine mächtige Stimme sie erwecken – oh, wie sich ihr Geist der Wahrheit bemächtigen wird! wie sie ihr ein starkes Asyl in ihrer Brust bereiten, wie ihr nerviger Arm sie zu vertheidigen wissen wird! Eine ruhmvolle Zukunft wartet sicherlich ihrer; denn sie sind tapfer und stark – nichts hat ihren Willen verzehrt, nichts ihre Hoffnungen getäuscht.«

»O mein wildes fernes Heimatland! meine ungekannten Freunde! meine weite große Familie! Der Schrei Deines Schmerzes hat mich zu Dir zurückgerufen, und im Innersten von ihm getroffen, senke ich beschämt das Haupt, daß ich Dich so lange habe vergessen können!« – – –

Liszt beschloß für seine Landsleute in Wien zu koncertiren. Alle Projekte für die nächsten Wochen gab er auf und that die für sein Vorhaben nöthigen Schritte. Das war vor seinem Koncert im Teatro San Benedetto am ersten April, und schon am siebenten desselben Monats stand er vor dem wiener Publikum.[484]

Es war seine Absicht zwei Koncerte hier zu geben, eines zum Benefiz seiner Landsleute und das andere zur Deckung seiner eigenen Kosten. Dann, plante er weiter, wolle er der erwachten Sehnsucht nach seinem Vaterland sich hingeben und mit dem Ränzchen auf dem Rücken die einsamsten Theile Ungarns durchziehen. Aus beiden Plänen sollte nichts werden. Tobias Haslinger – der österreichische Ricordi – hatte die Angelegenheiten des Koncertarrangements übernommen und, ehe Liszt es sich versah, waren aus den zwei Koncerten zehn geworden, alle in einem Monat. »Das wäre genug gewesen«, schrieb der Künstler nach Paris, »um eine zähere Kraft als die meine zu erschöpfen und brach zu legen; denn in jedem Koncert figurirte ich dreimal. Aber die Sympathie des Publikums hat mich so mächtig und andauernd gestützt, daß ich keine Ermüdung fühlte. Vor einer so gütigen und intelligenten Zuhörerschaft lief ich nie Gefahr nicht verstanden zu werden. Ohne Zaghaftigkeit konnte ich die ernstesten Werke Beethoven's, Weber's, Hummel's, Moscheles' und Chopin's, Fragmente aus der Symphonie fantastique von Berlioz, Fugen von Scarlatti und Händel und schließlich jene theuern Etüden, jene viel geliebten Kinder, die dem Publikum der Scala so monströs erschienen waren, vorführen.«

Das Auftreten Liszt's war seitens der Wiener von einer Begeisterung begleitet, welche sich nur aus der Wundererscheinung Liszt's selbst begreifen läßt. Ganz Wien war in Aufregung. Die Künstler, welche soeben noch die Bewunderung der Koncertbesucher gewesen – und diese waren keine geringeren als Sigismund Thalberg, Clara Wieck und Adolf Henselt –, waren vergessen unter dem Eindruck des Übermächtigen, das Liszt's Auftreten begleitete. Dieser Eindruck beschränkte sich nicht nur auf bestimmte Kreise – er war ein allgemeiner. Die Gebildeten aller Stände wetteiferten in Begeisterung für den Jüngling, der als Künstler und Virtuos alle Vorzüge der Originalität und des Genies und als Mensch so viele Eigenschaften der Größe und des Adels der Seele mit einer Glut der Empfindung in sich barg, die allein ihn schon zu einer der seltensten und merkwürdigsten Erscheinungen der Zeit erhoben haben würde. Er spielte vor dem Kaiser und den höchsten Hofkreisen, er spielte vor der Elite der Künstler- und Gelehrtenwelt und vor dem großen Publikum, man hörte ihn und verkehrte mit ihm in Privatkreisen, wie öffentlich – und[485] überall war sein Erfolg derselbe, überall flossen Augen und Lippen über in voller, reiner Begeisterung. Einer jener Momente – gewiß ein seltener! – spann sich in dem Leben einer hervorragenden Künstlerpersönlichkeit ab, wo überrascht von der Originalität und dem Zauber ihres Wesens sogar Übelwollen, Kleinlichkeit und Intrigue der ihnen sonst so geläufigen Waffen vergaßen.

In unserer durch sociale Umgestaltungen, durch den Kampf um die Interessen des Staates und die materielle Existenz, aber auch durch die jüngeren Phasen moderner Wissenschaft und Philosophie an Kunstbegeisterung so verkümmerten Zeit klingt es wie ein Märchen aus alten Tagen, wenn von solchen Momenten allgemeiner Begeisterung gesprochen wird. Und doch hat es eine Zeit gegeben und Viele unter uns haben sie erlebt, wo die Gemüther noch warm und heiß fühlen konnten unter der Macht des Idealen, wo sie noch nicht erdrückt schienen von der Schwere der Tageslast und unberührt waren von dem eisigen Hauch der materialistischen und pessimistischen Geistesströmungen, welche die Welt heutigentags durchziehen. Ja, wie ein Märchen aus alten Tagen klingt es aus dem Versenken in diese Zeit heraus – dem Künstlerohr eine verklungene Melodie, nach der sein Sehnen geht.

Der Autor jedoch, der versuchen wollte mit seiner Phantasie Momente nachzuschaffen, wie die, von denen wir soeben erzählen und wie sie von nun an von Liszt's Leben im Koncertsaal und außerhalb desselben unzertrennlich sind, – der es wagen wollte sie nachzuschaffen, ohne dabei die Wunder der Leistungen Liszt's, ohne die Eindrücke abzuschwächen, welche er seinen Zeitgenossen gegeben, ohne die Begeisterung zu vermindern, die er bei ihnen hervorrief und deren Form nicht selten in die Übertreibungen des Gefühls und der Phantasie überging, würde das Unmögliche anstreben und dabei Gefahr laufen in den Augen seiner Leser als Romanschriftsteller, nicht als Historiker dazustehen. Lassen wir darum die wesentlichsten Momente aus dem Virtuosenleben Liszt's in Originalberichten an uns vorübergehen, um so mehr, als sie auch die historische Seite desselben vertreten und das in früheren Kapiteln niedergelegte – »Neue Bahnen«, »Schöpferische Keime« und »Kompositionen der Genf-Periode« – zugleich ergänzen und fortsetzen.

Unter den vielen Berichten, welche die musikalischen Fachblätter, sowie die Tagespresse überhaupt, speciell die wiener, über Liszt's[486] Auftreten im Frühjahr 1838 in Wien gebracht, haben wir zu diesem Zweck drei ausgewählt, welche, obwohl von der Wärme der Bewunderung getragen, doch vor allem den sachlichen Punkt ins Auge gefaßt und fest gehalten haben. Der erste ist einer Privatkorrespondenz Robert Schumann's entnommen und seiner Zeit von Schumann in der von ihm herausgegebenen »Neuen Zeitschrift für Musik« veröffentlicht worden, der andere ist von einem wiener Referenten der zu jener Zeit von Christian W. Fink redigirten leipziger »Allgemeinen musikalischen Zeitung«, der dritte endlich ist aus der Feder Saphir's, geschrieben für seine in Wien erscheinende Zeitschrift »Der Humorist«.


»Zu neu und mächtig«, heißt es in der Korrespondenz des ersten Berichterstatters1, datirt 13 April, »wie zu unerwartet ist noch der Eindruck, als daß er so schnell dem Kommentar desselben, der Reflexion nämlich, hätte Platz machen können. Eine so heterogene Erscheinung im Vergleich zu andern Künstlern ist noch nicht da gewesen. Der gewöhnliche Maßstab fällt hier weg; denn nicht das Gigantische allein ist es, welches wohl schwer, aber nicht unmöglich zu ergründen, nein, das eigenthümlich Geistige, der unmittelbare Hauch des Genies das mehr empfunden als beschrieben werden kann.

Denken Sie sich einen äußerst hageren, schmalschultrigen, schlanken Menschen, mit über Gesicht und Nacken herein fallendem Haar, ein ungewöhnlich geistreiches, bewegtes, blasses, höchst interessantes Gesicht, ein überaus lebendiges Wesen, das Auge jeglichen Ausdrucks fähig, strahlend in der Unterhaltung, wohlwollenden Blick, scharfes accentuirtes Sprechen – und Sie haben Liszt, wie er gewöhnlich ist. Setzt er sich aber ans Instrument, so streicht er die Haare hinters Ohr, der Blick wird starr, das Auge hohl, der Oberleib ruhiger, nur der Kopf und Gesichtsausdruck bewegen und spiegeln sich nach der jedesmaligen Stimmung, die ihn ergreift oder die er hervorzurufen Willens ist, was ihm auch jedesmal gelingt. Diese phantastische Außenseite ist aber nur die Hülle eines inneren Vulkans, aus welchem Töne gleich Flammen und Riesentrümmern hervorgeschleudert werden, nicht etwa schmeichelnd, sondern kolossal donnernd. Da denkt man weder an seine[487] Hände noch an seinen Mechanismus (Technik) noch an das Instrument; ganz hingegeben einem ungeahnten Eindruck packt er unsere Seele und zieht sie gewaltsam in jene Höhe, welche alle Phi lister schwindeln macht. Dieses steigert sich noch wo möglich, dauert eine Weile, plötzlich fühlt der Titan Erbarmen und setzt seine Zuhörer unverhofft und daher nicht selten unsanft zur Erde, führt sie durch grüne Auen, gönnt ihnen aber nicht jene behagliche ersehnte Ruhe, sondern vermehrt das Pochen des Herzens, indem er schadenfroh Schlangen und anderes Gewürm aus den duftenden Gebüschen aufscheucht.

Das Instrument scheint so nur ein schwaches Werkzeug eines inneren Tobens und so hoch steht er über allem Mechanismus, daß an ein Zergliedern, selbst in der Absicht daraus sich etwas anzueignen, nicht zu denken ist. Er ist daher kein Muster zur Nachahmung; nur ein ebenbürtiger Riesengeist könnte ihm folgen, und der sucht sich einen selbständigen Weg.

Mit einem Wort: man kann sich keine Vorstellung von diesem Spiele machen, man muß es hören. Das war mir bis jetzt zweimal vergönnt. Am Tage seiner Ankunft spielte er bei Professor Fischhof einige Etüden eigener Komposition, sodann las er prima vista die Schumann'schen »Phantasiestücke«, aber in vollendeter Weise, und namentlich das »Ende vom Lied« so ergreifend, daß ich es nie vergessen werde. Dann griff er hastig nach Kompositionen, die er in Italien noch nicht vorgefunden, als Mendelssohn's »Präludien und Fugen für die Orgel«, welche er sammt Pedal auf dem Klavier allein nebst Verstärkungen und Verdoppelungen ganz himmlisch spielte, sowie Chopin's neue Etüden, die ihm noch größtentheils unbekannt waren – Donnerstag spielte er in Anwesenheit von Clara Wieck, Czerny (seinem früheren Lehrer) und vielen Andern in Groß' Atelier, wo er zwei Fantasien (er nennt sie Etüden), die zweite in Gmoll2 besonders mit ungeheurem Effekt vortrug, dann einen Theil seiner Fantaisie über die Puritaner und zuletzt ein Scherzo von Czerny aus dessen älterer Sonate Opus 7. In der That – er erschütterte unsere innerste Natur.« –[488]


In ähnlicher, diesen Artikel ergänzender Weise referirt die Breitkopf & Härtel'sche »Allgemeine musikalische Zeitung«, welche ihm gegen ihr sonstiges Programm einen Specialaufsatz: »Lisz't in Wien«3 widmete, weil, wie sie sagte: »ungewöhnliche Ereignisse ungewöhnliche Berichterstattung« fordern. Da heißt es:


»Wir haben ihn nun gehört, den wunderbar Eigenthümlichen, welchen der Aberglaube entschwundener Jahrhunderte befangen von dem Irrwahn, daß Ähnliches, ohne durch Pakt mit dem Bösen im Bunde zu stehen, nimmermehr geleistet werden könne, ganz sicherlich ohne Gnade und Barmherzigkeit zum Scheiterhaufen verdammt sehen würde; – wir haben ihn gehört, aber auch gesehen, was allerdings mit zur Sache gehört.« – »Man betrachte nur einmal den blassen, schlanken Jüngling in seiner den Sonderling signalisirenden Kleidung; das schlichte lang herabwallende Haar, die dünnen Arme, die kleinen zart geformten Hände; das fast düstere und dabei doch kindlich gemüthliche Antlitz; – diese bedeutsamen scharf ausgeprägten Züge, durch analoge Ähnlichkeit an Paganini gemahnend.

Liszt introduzirte sich mit dem Weber'schen Koncertstück in Fmoll. Karl Maria hat uns diese schöne, tief gedachte Komposition vor beiläufig zwanzig Jahren selbst vorgespielt; man blieb aber indifferent, wo nicht gar kalt dabei. In verschiedenen Zwischenräumen wagten sich mehrere Pianisten beiderlei Geschlechts daran; doch nur dem tüchtigen Bocklet gelang es für die Sache selbst eine speciell erhöhtere Theilnahme zu erringen. Dieser notorische Thatbestand war unserm werthen Gaste nicht unbekannt geblieben: er wollte der eigenen Äußerung zu Folge das Lieblingskind des verklärten Meisters auch bei den Wienern zu Ehren bringen. Und also geschah es! Niemand wähnte das Gehörte wieder zu hören; die nämlichen Töne zwar, vielleicht keiner mehr oder weniger – und doch so unendlich verschieden! Durch einen ganz eigenthümlichen Fingersatz, wobei der Daumen die mannichfaltigsten Rollen übernimmt, durch eine bis zur Unfehlbarkeit ausgebildete Technik, durch einen Anschlag, welchen er in allen nur denkbaren Graden vom leisesten Athemzug bis zum erschütterndsten Gewittersturm abzustufen versteht, bringt er in der That[489] die stupendesten Wirkungen hervor, ja Effekte in Einzelheiten, die man sogar dem Instrumente nur zuzumuthen sich nimmermehr getrauen möchte. Im Eingangs-Largo war sein Vortrag voll schwermüthigen Pathos, leidenschaftlichen Gefühls, zum innersten Herzen sprechend; jeder Ton eine Klage des geistig niedergedrückten Gemüthes, ein Seufzer der beengten, tief bekümmerten Seele. – Das Zeitmaß des ersten und Final-Allegros beflügelte er in einer Weise, daß man für das Ausweichen beinahe zitterte. Aber weit gefehlt! Der schmächtige David ward zum riesigen Goliath. Die verschwenderisch hingeopferten Kräfte schienen fortwährend noch zu wachsen und aus einem Guß, doch schlechterdings nicht auf Kosten der Verständlichkeit strömte der Töne Fluth dahin bis zum letzten Akkord, in welchen ein Beifallsjubel sich mischte, der nimmermehr zu enden drohte und für den der Ausdruck »enthusiastisch« nur ein leerer nichtssagender Schall ist. Als das Orchester in dem herrlichen Marziale allmählich zum fortissimo anschwoll und der Gewaltige mit darein donnerte als Selbstherrscher, die gesammten Instrumentalmassen siegreich durchdringend – ein Wogenbändiger, dem das brausende Element unterthänig gehorcht! – da mußte man sich lebhaft die Glanzperiode einer Angelica Catalani vergegenwärtigen, wenn diese im londoner Opernhause »Rule Britania« oder »God save the King« intonirte und ihr mächtiges Glockenorgan den tausendstimmigen Volkschor ubertönte. Hier schon durchbrach stürmischer Applaus alle Dämme und solche anerkennende Würdigung soll den Virtuosen, der doch an Huldigungstribute von der Seine, der Loire, Garonne und Themse her gewöhnt ist, so tief ergriffen haben, daß ihm heiße Thränen über die Wange rieselten.

Die folgenden Solostücke waren die große Fantasie »Réminiscences des Puritains«, »Valse di Bravura« und »Grande« »Étude« höchst sonderbare Tongebilde, wahre facsimile ihres Erzeugers, die vielleicht nur durch solchen Vortrag interessiren können, unter seinen Händen und durch diesen Geist belebt erst recht ins Dasein treten, dagegen aber in jenem durch die Zeichen angedeuteten Sinne erfaßt sehr wahrscheinlich zu einem verworrenen Chaos sich gestalten würden. Sie enthalten eine Summe von Schwierigkeiten, die den geübtesten Spielern wie böhmische Dörfer erscheinen, Passagen und Wechselfiguren bloß für eine Hand, daß man wirklich die andere unthätig ruhend sehen muß, um von des[490] Mirakels Möglichkeit sich mit Augen überzeugen zu können. Obwohl der Virtuos mit Leib und Seele seine gigantischen Aufgaben vollführte, so war demungeachtet nicht eine Spur physischer Abspannung zu bemerken; ja er entsprach dem fast tumultuarischen Wunsche einer Wiederholung der Schluß-Etüde in noch höher potenzirter Exaltation mit einem Kraftaufwand, der beinahe zu einem neuen Wunder sich gestaltete.

Daß aber Liszt Alles kann, was er immer nur will, hat er vollends durch die Begleitung der Beethoven'schen »Adelaide« beurkundet, welche der geschätzte Dilettant Herr Benedikt Groß mit seelenvollem Ausdruck vortrug, dessen Stimme zwar äußerst wohltönend, dabei aber nicht besonders stark ist, somit durch einen minder diskreten Begleiter leicht beeinträchtigt werden könnte; das durfte er jedoch hier keineswegs besorgen: denn sein Gefährte subordinirte sich freiwillig, schmiegte innig zart dem Gesang sich an, trat nur selbstständig heraus, wenn freier Raum ihm vergönnt – dann aber ebenfalls als Sänger, dem In strumente süße Zauberklänge entlockend, mit der Stimme in Eins verschmolzen, daß die Wirkung wahrhaft ätherisch genannt werden mußte und vielleicht kein Auge trocken blieb.

Die Ankunft dieses Phänomens unter den Pianisten erfolgte so ganz unerwartet und die Dauer seines Aufenthaltes ist viel zu kurz gewesen, um nicht die Sehnsucht ihn zu hören und zu bewundern verzeihlich zu machen. So drängen und kreuzen sich denn täglich, ja stündlich Einladungen über Einladungen des höchsten Adels, der angesehensten Familien; und der anspruchslos bescheidene, durch zuvorkommende Gefälligkeit doppelt liebenswürdige Künstler, der niemand etwas abschlagen kann, kommt vor lauter Produziren gar nicht zu Athem; ja es thäte Noth sich oftmals zu zertheilen.

In einer interessanten Soirée bei dem k.k. Hofmusikhändler Herrn Tobias Haslinger, vor einem erlesenen Cirkel geladener Kunstfreunde, spielte Liszt mit Mayseder und Merk Beethoven's Bdur-Trio, schöner als schön – knechtisch treu dem Original, aber in einen Rahmen gefaßt, welcher als Folie des Gemäldes unvergängliche Reize nur mehr noch mehr noch heraushob. Es war in der That eine Dreieinigkeit sonder Gleichen, zum Entzücken vollendet, und deutlich zu lesen in Aller Zügen: daß keiner die wohlbekannte Tonschöpfung jemals in solch geistiger Akkordanz vernommen!

[491] »Als Intermezzo gab er einige Schubert'sche Lieder zum Besten, von ihm selbst mit Hinweglassung der Singstimme fürs Piano arrangirt; Kleinigkeiten zwar, doch schwerer ins Gewichtfallend als manches bogenreiche große Werk. Für diese Nüancirung giebt es keine Worte. Es ist der Triumph der Grazie, wenn die rechte Hand so wundervoll lieblich singt, vermißt man wahrlich nicht den Abgang der Menschenstimme und trunkenen Blicks würde der Italiener dabei ausrufen:ah! questo tocca!

Daß die verhältnismäßig nur Wenigen, welche bisher den Wunderjüngling gehört, noch öfters eines solch seltenen Genusses theilhaft zu werden wünschten, daß die weit überwiegende Mehrzahl, die nicht jenen Glücklichen sich anreihen durfte, von gleicher Sehnsucht erfaßt wurde, ging sehr natürlich zu. Die natürlichste Folge davon war ein zweites, fünf Tage später am 23. dieses Monats arrangirtes Koncert, welches gewiß nicht das allerletzte sein wird. Also vollgedrängt hatte man den Saal selbst bei seiner Einweihungsfeier nicht gesehen. Die Hitze grenzte ans Unerträgliche. Wasser quoll vom Plafond und von den Seitenwänden herab; ja man wähnte beinahe verschmachten zu müssen. Der Festgeber spielte, begleitet von den Herren Zierer, Uhlmann, König, Holz, Merk und Slama, das Hummel'sche Septett in Dmoll; dann ohne Begleitung: das »Ständchen« und »Lob der Thränen« von Schubert; zuletzt eine große Fantasie über ein Pascini'sches Thema. – Die erstgenannte Komposition (Hummel's Septett) schmückte er durch eine Vollgriffigkeit, durch Oktavenverdoppelungen in den schwierigsten Passagen, daß man zwei Ausführende und zwei Instrumente zu vernehmen glaubte. In den Liedern verblüffte und entzückte zugleich die höchste Originalität des Vortrags, sonderlich jene Stelle, wo die überschlagende linke Hand als Oberstimme die ganze Melodie immer um einen Takt später nachahmte. Das frappirend überraschende Kolorit der Fantasie in nie vernommenen Effekten und Wendungen erregte eine Beifalls-Generalsalve, die vor Mitternacht nicht zu enden drohte und mit so oftmals wiederholtem Hervorrufen verbunden war, daß Nachzählen eitle Mühe gewesen wäre.

Ob dieses Meteor alle schreibseligen Federn der Kaiserstadt in Bewegung setzte, wer zweifelt daran? Kriehuber hat ihn[492] lebensähnlich lithographirt. Am charaktervollsten aber hat ihn Saphir porträtirt, der zwar kein Musiker von Metier, doch Dichter ist.«


Lassen wir nun das Saphir'sche »Porträt« hier folgen, welches der wiener Referent, wenn auch zufällig, doch sehr richtig neben Kriehuber's Lithographie placirt hat; denn beide, das lithographirte wie das geschriebene Porträt, werden wohl für immer in dieser Koncertepisode Liszt's, gegenseitig sich ergänzend, nebeneinander stehen. Saphir als Nichtmaler, aber als Dichter wandte sich an die Psyche der künstlerischen Erscheinung Liszt's und zeichnete und malte sie in Beziehung zu der Persönlichkeit des Virtuosen gebracht mit dem Griffel und der Farbe der Sprache bis zur Greifbarkeit des Bildes. Waren auch seine dichterischen Fühlfäden nicht feiner als um nur die Einzelzüge dieser Psyche bei ihren Flügelspitzen greifen zu können, so waren diese doch mit so viel dichterischer Sehkraft erkannt, daß er sie gerade an dem Punkt anfaßte, welcher das Wesen Liszt's am schärfsten kennzeichnete: an dem Punkt seiner Unvergleichlichkeit.


»Liszt kennt keine Regel, keine Form, keine Satzung – schreibt Saphir –: er schafft sie alle selbst! Das Bizarre wird genial, das Befremdende zur Lebensbedingnis, das Verdutzende zum unermeßlichen Anmuthsgürtel um den eigenthümlichen, wundergefügten, unbegreiflichen Bau seiner gantzen ebenso eigenthümlichen Kunstgestaltung! Es grenzt bei ihm das Sublimste an das Barockste, das Erhabene an das Kindische, die ungeheuerste Kraft an die sinnigste Zartheit, der unerreichbare tausendgliedrige Mechanismus an das zarte Geheimnis des Seelenvermögens, der Kampf allerhöchster Gewaltsamkeit an das süße Traumleben der allerinnigsten Gefühlsweise. Er bleibt eine unerklärbare Erscheinung, eine Komposition von also heterogenen, wundersam ineinander gefügten Stoffen, daß sie unter der Analyse unfehlbar das verlieren würde, was ihr den höchsten Reiz, den individuellen Zauber verleiht, nämlich das unerforschliche Geheimnis dieser chemischen Mischung genialer Koketterie und kindlicher Einfalt, von Caprice und Götteradel.

Nach dem Koncert steht er da wie ein Sieger auf dem Schlachtfeld, wie ein Held auf der Walstätte; – bezwungene Klaviere liegen um ihn herum, zerrissene Saiten flattern als Trophäen wie[493] Pardonfahnen, eingeschüchterte Instrumente flüchten erschrocken in ferne Winkel, die Zuhörer verstummend sehen sich an wie nach einem Gewitter aus heiterem Himmel, wie nach Donner und Blitz vermischt mit Blumenregen und Blüthenschnee und schimmerndem Regenbogen, – und Er der Prometheus, welcher aus jeder Note eine Gestalt schafft, ein Magnetiseur, der das Fluidum aus den Tasten zaubert, ein Kobold, ein liebenswürdiges Ungethüm, welches seine Geliebte, das Piano, bald zärtlich behandelt, bald tyrannisirt, mit ihr kost, mit ihr schmollt, sie schilt, anfährt und sie wieder desto inniger, feuriger, liebeglühender, hoch aufjauchzend umschlingt und hinfortrast mit ihr durch alle Lüfte, – Er steht da, gesenkt das Haupt, und lehnt sich wehmüthig, sonderbar lächelnd an einen Stuhl wie ein Ausrufungszeichen nach dem Ausbruch der allgemeinsten Bewunderung. – So ist Franz Liszt!«


Mit diesen und ähnlichen Berichten war das Kapitel »Liszt in Wien« noch keineswegs erschöpft. Allen Tagesblättern war er und seine Kunst eine reich fließende Quelle kunstwissenschaftlicher und unterhaltender Skizzen und Analysen. Selbst an Parallelen mit andern Künstlern fehlte es nicht. Originell und interessant ist eine solche aus der Feder des schon erwähnten Privatkorrespondenten Robert Schumann's. Noch unter den Eindrücken, welche Adolf Henselt, Siegmund Thalberg und Clara Wieck ihm gegeben, hatte er, viel leicht mehr um Schumann als der Öffentlichkeit ein Bild von den so interessanten Künstlererscheinungen zu entwerfen, von denen das Clara's ihm bereits tief im Herzen saß, den Einfall gehabt diese Künstler vergleichend neben Liszt zu stellen, wobei er zu folgendem Resultate gelangte:

»Bei Liszt, sagt er, ist die leidenschaftlichste Deklamation, bei Thalberg die verfeinertste Sinnlichkeit, bei Clara Wieck natürliche Schwärmerei, bei Henselt echt deutsche Lyrik hervortretend. Höchst vergnügend, ja oft entzückend ist Thalberg, dämonisch Liszt, in die höchsten Regionen versetzend Clara Wieck, schön aufregend Henselt.


Reinheit des Spiels: 1) Thalberg 2) Clara 3) Henselt 4) Liszt.

Improvisation: 1) Liszt 2) Clara.

Gefühl und Wärme: 1) Liszt 2) Henselt 3) Clara.

Tiefe Künstlernatur: 1) Liszt 2) Clara.


[494] Hochragender Geist: Liszt.


Pli und Weltsitte: Thalberg.

Affektation im Benehmen: Henselt (?)


Originalität ohne alles Vorbild: Liszt.


Insichgekehrtsein: Clara.

Prima-vista-spiel: 1) Liszt 2) Thalberg 3) Clara.

Vielseitigkeit: 1) Clara 2) Liszt 3) Thalberg 4) Henselt.

Gelehrt musikalich: 1) Thalberg 2) Henselt 3) Clara 4) Liszt.

Musikalisches Urtheil: 1) Liszt 2) Thalberg.

Schönheit des Anschlages: 1) Thalberg 2) Henselt 3) Clara 4) Liszt.

Kühnheit: 1) Liszt 2) Clara.

Egoismus: 1) Liszt 2) Henselt.

Anderer Verdienste anerkennend: 1) Thalberg 2) Clara.

Exercitien: keine – Liszt.

freie – 1) Thalberg 2) Clara.

Knechtische – Henselt.

Den Charakter des Tonstücks gebend, ohne Einfluß der Individualität: Keiner.

Nach dem Metronom spielend: Keiner.

Als Muster aufzustellen: 1) Thalberg 2) Clara.

Leichtigkeit:

1) (physische): 1) Thalberg 2) Clara 3) Henselt.

2) im Einstudiren: 1) Liszt 2) Thalberg 3) Clara.

Ohne Grimassen beim Spiel: 1) Thalberg 2) Clara.

Liszt, der Repräsentant der französisch-romantischen Schule,

Thalberg, der Repräsentant der italienisch- schmeichelnden,

Henselt und Clara Repräsentanten der deutsch-sentimentalen.


So gewagt derartige Vergleiche und so wenig zutreffend sie im allgemeinen sind und ganz besonders, wenn sie wie hier aus so eben empfangenen Eindrücken, über die noch keine prüfende und objektivirende Zeit dahin gestrichen, hervorgegangen sind, um so interessanter erscheinen sie der Nachwelt, welche ihre Vergleiche und ihr Abwägen, um nicht zu sagen ihr Registriren, der Summa[495] der Gesammterscheinung des betreffenden Künstlers entnimmt und nicht mehr, wie es dort der Fall, mit der lebendigen Erscheinung und aus dem Moment heraus rechnet. Die vier Virtuosen waren vier Größen, von denen jede einzelne, obwohl bereits die musikalische Welt sich zum Theil um sie gezankt hatte – um Thalberg und Liszt – und obwohl sie bereits Berühmtheiten waren, dennoch erst am Anfang ihrer künstlerischen Laufbahn stand. Es überrascht darum, wenn die Grundlinien solcher Vergleiche mit dem, was die kommende Zeit bestätigt hat, zusammenstimmen wie bei obiger Skizze. Konnte auch nicht jede einzelne Linie derselben haarscharf zutreffend sein und ging in der Eile des Entwurfes auch mancher Strich daneben, so gab sie dafür jener Zeit und so weit ein vorurtheilsfreies, aber doch subjektives Auge damals sehen konnte, einen getreuen Gesammtkontur dieses künstlerischen Vierblattes; für die Mappe der Virtuosengeschichte jedoch ist sie eine nach der Natur entworfene Künstlergruppe geworden, welche mit dem »Porträt« Liszt's von Saphir zu den interessantesten geschriebenen Bildern jener Periode gehört. –

Liszt gab binnen vier bis fünf Wochen außer dem ersten zum Besten der Städte Ofen und Pest angezeigten Koncert noch sechs weitere und eine Soirée musicale, deren jedes 1600–1800 Silbergulden4 einbrachte; zweimal spielte er für andere wohlthätige Zwecke – für die »Barmherzigen Schwestern« und für die Blindenanstalt –; einmal unterstützte er eine durchreisende Sängerin, welche unter dem eine herabgekommene Ladyschaft bergenden Pseudonamen Angelica Lacy auftrat; zweimal spielte er vor dem kaiserlichen Hof; außerdem noch in den ersten Familienzirkeln, bei vielen Künstlern, in den Ateliers der ersten Pianoforte-Fabrikanten, bei sich – nirgends geizte er mit seiner Kunst und ein nur leise hingeworfener Wunsch eines Kunstfreundes genügte, um ihn für Stunden an das Instrument zu fesseln.

In seinen öffentlichen Koncerten spielte er in früher nie gehörter Auffassung:


Weber's Koncertstück,

»Aufforderung zum Tanz«;

[496] Beethoven's Asdur-Sonate,

Cismoll-Sonate,

Bdur-Trio;

Hummel's Septett in Dmoll; von

Moscheles, kleinere Solostücke, Fugen und

Etüden;

Keßler, kleinere Solostücke, Fugen und

Etüden;

Händel, kleinere Solostücke, Fugen und

Etüden;

Scarlatti, kleinere Solostücke, Fugen und

Etüden;

Chopin kleinere Solostücke, Fugen und

Etüden;

Czerny's Asdur-Sonate; in eigener

Übertragung:

Schubert's Lob der Thränen und

Ständchen;

Rossini's Tell-Ouvertüre,

Li Marinari und

La Tarantella aus den »Soiréen«,

La Serenata e l' Orgia

(Fantasie opus 8);

Berlioz's fragments de la Sinfonie

fantastique:

a) Un Bal,

b) Marche au supplice.

Von seinen Kompositionen spielte:

Liszt: Niobe-Fantasie,

Réminiscences des Huguenots,

Réminiscences de la Juive,

Fantaisie sur une mélodie Suisse,

Rondeau fantastique

(Il Contrabandista),

Étude in As,

Galop chromatique;

Hexameron.


Das waren die Kompositionen, welche er öffentlich vortrug. Außerdem spielte er noch in Privatkreisenprima vista neue Stücke von Mendelssohn, Schumann, Manuskripte von wiener und anderen Komponisten; er spielte alles, um was man ihn bat und was ihm ins Auge fiel, und meistens spielte er die Kompositionen im Geiste ihres Komponisten, oft noch schöner als diese sie sich gedacht! Was die Wiener jedoch bei Liszt's Programmen noch ganz besonders frappirte, war nicht nur seine bei ihrer[497] Ausführung sich erprobende Gedächtniskraft, welche ihm jede Pièce derselben, ja sogar die Ensembles auswendig zur Verfügung stellte und sein Gedächtnis als eine Herberge der gesammten musikalischen Literatur erscheinen ließ; es frappirte sie eben so, daß er den verschiedensten Zeitepochen angehörende Kompositionen mit gleicher Schönheit im Sinne ihres Geistes vortrug. Hatte er in diesem Augenblick im schillernden Farbenschmuck poetisch-romantischen Vortrags durch seine eigenen Kompositionen, sowie durch die seiner auf neue Bahnen hinweisenden Freunde Chopin und Berlioz die Phantasie seiner Hörer aufgeregt, so beschwor er im nächsten die gewaltigen Manen Beethoven's oder schüttete in berauschender Weise aus dem Wunderhorn Schubert's, Rossini's, Hummel's, Weber's und Anderer die köstlichsten Melodien und die farbenprächtigsten, feuersprühendsten Passagen oder holte aus dem Schrank der Vergessenheit Domenico Scarlatti's und Händel's trotz formeller Fessel so lebendig pulsirende Gebilde. Die musikalischen Schätze Italiens, Deutschlands, Frankreichs, des achtzehnten und des neunzehnten Jahrhunderts lagen vor ihm offen da und folgten seinem Geist: er war ein Zauberer, der die Geister der Verstorbenen und Lebenden citirte. Das war es: diese von seinem Repertoire, wie von seinem Spiel ausgesprochene Omnipotenz, dieser ausgeprägte Charakter universeller Richtung, was den musikalisch verwöhnten Wienern, die in ihren Mauern die vornehmsten musikalischen Geister besessen und alle bedeutenden Virtuosen beherbergt hatten, im höchsten Grad imponirte und ihre Begeisterungsglut zur vollsten Flamme anblies. –

Daß aber Liszt's Repertoire noch ältere als der wiener Epoche angehörende Klavierkompositionen aufgenommen, hatte noch eine besondere Nachwirkung. Im allgemeinen war damals der musikalische Geschmack noch auf das der Virtuosenepoche der Restaurationszeit angehörende Brillante gerichtet und das Publikum empfand keine – weder eine mittelbare noch unmittelbare – Sympathie für die Musik älterer Zeiten. In Folge dessen bewegten sich die Koncertprogramme in sehr einseitiger Richtung. Der Sinn für historische Musik lag noch brach. Als aber Liszt den Wienern jetzt die »Katzenfuge« D. Scarlatti's vorspielte, wußte er sie so für diesen Meister zu interessiren, daß bald darauf einer der Musikverleger Wiens – Tobias Haslinger – es wagte eine Subskription[498] auf das erste vollständige Sammelwerk von D. Scarlatti's Klavierstücken, redigirt von Charles Czerny, mit der Bemerkung: »Liszt ist es, der das gegenwärtige Unternehmen in Anregung gebracht« zu eröffnen. Liszt's Einführung der »Katzenfuge« in den Koncertsaal fand bald Nachahmung. Andere Pianisten brachten andere Stücke der älteren Meister und allmählich wurde es für die Koncertisten Sache des guten Tons »historische Stücke« in ihr Repertoire aufzunehmen. Liszt's Beispiel hat den Anstoß mitgegeben zur Erweckung des musikalisch-historischen Sinnes, welcher inzwischen lebendig geworden die musikalischen Schätze den Archiven entrissen und sie durch ihre Reproduktion im Koncertsaal, sowie durch den Druck zum Gemeingut Aller gemacht hat: Liszt's Fußspuren folgte überall neues Leben.

Herrschte und elektrisirte Liszt im Koncertsaal Wiens durch die Souveränität des Genies, so herrschte er im Privatleben durch seine Charaktereigenschaften. Da wie dort erglühten die Gemüther. Man sah erstaunt auf zu dem Jüngling, welcher ohne jede Reserve für sich seinen hilfsbedürftigen Landsleuten eine glänzende Koncerteinnahme von einigen Tausenden an Werth übersendet hatte, von dem man wußte, daß er auch außerdem im Stillen noch manche ihränende Augen getrocknet und manchen Darbenden erquickt und der doch ihm dargebrachte Huldigungen mit nahezu kindlicher Bescheidenheit aufnahm, der in engen Verhältnissen ohne Reichthümer geboren und dennoch den irdischen Gütern nur Werth beizulegen schien, um dem Nächsten zu helfen und Freunde zu erfreuen und dabei dem heiteren Leichtsinn, welcher so gerne an die Fersen der Söhne Apolls sich heftet, so ferne stand! Man entzückte sich im Salon an dem Sprühen seines Geistes, an seinen Boutaden, an seinem schlagenden funkelnden Witz – es lag ein zwingend Berauschendes in der Atmosphäre seiner Kunst und seiner Persönlichkeit. Vereine ernannten ihn zu ihrem Ehrenmitglied; man wetteiferte in Auszeichnungen aller Art; Festivitäten, ihm zu Ehren veranstaltet, drängten einander. Er selbst gab Gegenfeste. Und ähnlich seinen Koncerten, welche früher in Paris, jetzt in Wien, den traditionellen Stil übersprangen und mehr einem grand rout zum reinsten Kunstgenuß Geladener als einem öffentlichen Koncert glichen, so wußte er bei seinen Fêten die Bande der Standesunterschiede zu sprengen und »Fürsten, Grafen, Excellenzen, Staatsdiener, Musiker, Literaten, Maler[499] und Kunsthändler« bewegten sich in zwangloser Heiterkeit.5 Es sprudelte ächter Champagner des Weines und des Witzes. –

Auf den »Pfennigen des Künstlers«, welche er dem Unterstützungs-Komité für die überschwemmten Pannonier nach Pest gesandt hatte, lag besonderer Segen. Sein großherziges Beispiel ward zum Signal, welches den Wohlthätigkeitssinn Anderer zu edlem Wetteifer aufrief. Keiner wollte hinter dem Künstler zurückstehen, und Summe auf Summe, so groß wie zu keiner andern Zeit, wanderte nach Ungarn, die Bedrängnisse zu mindern.

Liszt's Projekt jedoch, »mit dem Ränzchen auf dem Rücken« die schönsten Gegenden seines Vaterlandes zu durchstreifen, kam nicht zu Stande. Nachrichten aus Italien meldeten ihm eine Erkrankung der Gräfin d'Agoult und verlangten seine unverzögerte Zurückkunft nach Venedig. Manche schon in Vorbereitung begriffene Ovation mußte wegen dieser unvermutheten Abreise unterbleiben, doch versammelte sich noch am Vorabend derselben die Elite seiner Bewunderer im Hôtel »Stadt Frankfurt«, wo er wohnte, um Abschied von ihm zu nehmen, welcher nicht ohne Rührung und gegenseitige Versprechungen, doch erst als die purpurnen Strahlen der Morgensonne den nahenden Tag ankündigten, vorüber ging.

Nach kurzer Ruhe – es war am 27. Mai – trat Liszt die Rückreise nach Venedig an. Es war noch die Zeit der rothen und gelben Postkaleschen, die Zeit der blasenden Postillone, deren Federbüsche auf dem Hut lustig in den Tag hineinwehten, während doch die Melodien, welche sie ihrem Horn entlockten, daß es durch Wälder, Fluren und Berge schallte, nicht selten über Abschied klagten und der Stimmung der Reisenden Vorschub leisteten. Doch jetzt verkündete das Schmettern des Posthorns Liszt, daß die erste Poststation nach Wien, Neudorf, erreicht sei. Der Künstler war nicht wenig verwundert, als hier bewillkommende Grüße ihm entgegen tönten und er die ganze Gesellschaft vor sich sah, von welcher er bei Tagesanbruch Abschied genommen und die ohne sein Wissen vorausgefahren war zu einem letzten Valet.

Eine lebendige Scene entwickelte sich vor dem Postgebäude in Neudorf – Händeschütteln, Umarmungen, Gläserklirren. In[500] einer Ecke aber stand der Maler Kriehuber und entwarf mit einigen hastigen Strichen noch eine letzte Skizze: »Liszt im Reisemantel«, welche er, nachdem sämmtliche Anwesende ihre Namen darunter gesetzt, zur Erinnerung für alle zu lithographiren versprach.6 Nun nahm Liszt zum zweiten Mal Abschied. Noch Händedrücken, ein Zuruf guter Wünsche – und fort sausten die Pferde Italien zu.

Fußnoten

1 Vermuthlich Fischhof, mit dem R. Schumann damals in Korrespondenz stand.


2 Die »Vision« überschriebene Nummer der »Études d'exécution transcendante«.


3 1838 No. 20.


4 32–3600 Mark deutscher Reichsmünze.


5 Nach Berichten der leipziger »Allgemeinen musikalischen Zeitung« 1838, No. 20. 35. 38, 48.


6 Diese Lithographie erschien seiner Zeit bei Höfelich in Wien. Noch eine andere Lithographie desselben Künstlers: »Liszt im Frack« mit einem Motto von Saphir erschien 1838 bei Haslinger.

Quelle:
Ramann, Lina: Franz Liszt. Als Künstler und Mensch, Band 1, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1880.
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