XXVI.

Liszt und das deutsche musikalische Lied, sowie seine Schubert-Übertragungen.

Liszt's Verständnis des deutschen Liedes. Seine allgemeinen Mittel der musikalischen Übersetzung. Die allen Künsten gemeinsame ästhetische Aufgabe der Übersetzung und die der Musik insbesondere. Unterscheidung der Lied- und Orchesterübersetzungen in Klaviermusik. Liszt's poetisch-musikalische Übersetzungsmittel, insbesondere seine Variation als poesie-, stimmungs- und situationsmalendes Mittel. Seine Übertragung des Ständchens von Schubert als Beispiel. – Überblick über seine gesammten Bearbeitungen und Übertragungen der Kompositionen Schubert's.


Liszt hatte im Koncertsaal Wiens seine Hörer begeistert, elektrisirt, berauscht. Ihre Herzen jedoch hatte er am tiefsten erregt und berührt mit den Liedern, welche seine Finger auf dem Klavier sangen – sangen mit einer wonnigen Innigkeit, einem seelischen Schmelz, einem Zauber und einer Vielseitigkeit des Ausdrucks, wie nur die menschliche Stimme sie bis dahin geschaffen. Sein Melodiespiel war so neu und ungeahnt, daß, wer ihn nicht selbst gehört hatte, sich keine Vorstellung von ihm machen konnte. Fernestehende schüttelten darum über Referate, welche es erwähnten, die Köpfe und, als der wiener Referent an die Breitkopf und Härtel'sche Musikzeitung nach Leipzig schrieb: »Das Instrument ist durch seine Tiefe der Empfindung sein Sklave geworden: er bändigt es mit unwiderstehlicher Allmacht und zwingt es zum Singen, wie Keiner vor ihm –«, konnte der Redakteur derselben, der Musikgelehrte Gottfried W. Fink sich nicht enthalten unten am Fuß des Blattes die vielsagende Bemerkung zu machen: »das Letzte ist seltsam; aber wir hörten ihn noch nicht«.

Mit den Melodien, mit denen Liszt solches Entzücken und solche Verwunderung hervorgerufen, stand er auf germanischem[502] Boden. Es waren Lieder Franz Schubert's, die er in Paris, Genf, Nohant dem Klavier übertragen, an denen er auf seinen Reisen gefeilt und gefeilt hatte und mit welchen er nun zum ersten Mal vor der Öffentlichkeit gestanden. »Lob der Thränen« und das Ständchen: »Horch, horch! die Lerch' im Ätherblau« – waren die Erstlinge, mit denen er durch die hervorgerufene Wirkung erprobte, wie sehr er die Seele germanischen Gemüthes in ihrem geheimsten Wesen verstanden und wie sehr sie in seinem eigenen Wesen lebte; denn das musikalische Lied ist das echte Kind deutscher Seele, deutschen Gemüths, deutschen Traumes, vielleicht das einzige, das auch in keiner seiner Fasern germanischem Boden streitig gemacht werden kann, das aber auch nur von Künstlern sich wiedergeben läßt, die es mit einem Gleichlaut eigenen Herzens in sich aufgenommen haben.

Liszt hat es verstanden dieses Lieblingskind deutscher Lyrik in seiner ganzen Tiefe und Eigenartigkeit in einer Weise auf dem Klavier zu reproduciren, daß es nichts eingebüßt hat an dem holden Aufschlag seiner Augen, an seiner keuschen Innigkeit, seinem Andachtshauch, an seinem wunderbaren Verschweigen und Gestehen. Alle wesentlichen Eigenschaften des musikalischen Liedes hat Liszt bei seinen Liedübertragungen auf das vollendetste wiedergegeben – er rückte nicht an seinem Gürtel, er hielt sich mit heiliger Scheu von eigenwilligen Zuthaten und Veränderungen fern. Mit dem Instinkt des Genies empfand er, daß eine Übertragung deutscher Lieder etwas anderes sei als die einer italienischen Salonarie, oder die Bearbeitung einer Opernmelodie. Eine, es läßt sich sagen: die höchste Feinfühligkeit für den Charakter und Geist, für die Nationalität und die Intentionen des Komponisten leitete ihn. Es war nicht ein Recept, eine Schablone, eine Methode, nach denen er arbeitete – nein, das merkwürdige ist, daß er bei jeder Übertragung aus dem Geist und den Intentionen des Komponisten, sowie aus dem jedesmaligen Stoff und der Gattung, der sie angehörte, schuf. Er hatte das angeborene »Recht der Übersetzung für alle Länder« – ein Recht, das jede einzelne seiner Übertragungen dokumentirt.

Keines der deutschen Lieder, welche er dem Klavier übergeben, hat durch ihn auch nur irgend einen Zug seines Wesens oder auch seiner Originalität eingebüßt – ohne die geringste Aussetzung an den Originalen selbst machen zu wollen, so läßt sich nicht verkennen, daß nahezu jedes von ihm übertragene Lied einen neuen[503] und erhöhten Zauber erhalten hat. Oft ist es nur die Verdoppelung eines bis dahin in der Masse verschwunden gebliebenen Tones, das Hervorheben einer bisher unterdrückten Begleitungsstimme, ein einzelner Baßton, der eine Oktav tiefer gelegt ist, als der Komponist ihn notirt hat, ein Akkord, der vordem in enger Lage und den er, ihm seine Stumpfheit nehmend, in weite Lage gesetzt, was der Komposition eine Beleuchtung giebt so zusammentreffend mit dem Geist der bezüglichen Stelle, so jeden fehlenden Punkt dem I gebend, daß man sich erstaunt fragt: warum hat der Komponist das nicht selbst so gemacht? Man fühlt bei jeder kleinen Veränderung: so wie das Lied nun ist, so und nicht anders hat der Dichter und der Komponist es in sich getragen! Es ist überraschend, wie derartige scheinbar so nichts- oder so wenigsagende Dinge Farbe, Licht, Stimmung gebend wirken können. Ein Ton hinweg, einer mehr kann uns aufathmen machen wie nach einem vordem empfundenen Druck, er kann ein Wort wie umflossen von einem Sonnenstrahl erscheinen lassen und kann es mit einem Schleier umhüllen, er kann einen Blitz hineinschleudern in eine Leidenschaft aihmende ganze Strophe und kann die Leidenschaft herabdrücken zum dumpfen Klang, der im Inneren verhallt. So ein Ton mehr oder weniger, sein Finden, ist Eingebung des Genies und Liszt's Übersetzergenie hat ihn stets gefunden. Das sind die Momente, durch welche er den von ihm übertragenen Liedern einen erhöhten Zauber gegeben und Einzelpartien derselben in ein helleres und geistigeres Licht gesetzt hat, als es ihren Komponisten hatte gelingen wollen.

Andere von ihm vorgenommene Veränderungen lagen im Geist des Übersetzens, in dem von was in was desselben. Läßt sich auch im Ganzen feststellen, daß Übertragungen von Liedern auf das Klavier nach denselben Bedingungen wie Übertragungen vom Orchester auf das Klavier sich gestalten müssen – Bedingungen, die im Charakter des Klaviers liegen, so sind doch die ästhetischen Forderungen, welche beide Arten an den Übersetzer stellen, sehr verschieden. Diese Verschiedenheit liegt in ihrem Ausgangspunkt: die eine wurzelt im Wort, die andere wurzelt im Ton. Zweierlei Wurzeln können nicht einerlei Frucht tragen. Das Wort als Vertreter des Gedankens und der dichterischen Poesie, der Ton als Vertreter des Gefühls und der absolut musikalischen Poesie deuten auf eine Verschiedenheit hin, welche bei den Übertragungen[504] beider Richtungen sicherlich nicht ohne Geltung bleiben kann, falls nicht ihre Logik als eine abgebrochene sich darstellen oder umgekehrt ihre Vorbedingungen – Wort und Ton – einer Negation unterliegen oder auch als sich verlierende Momente betrachtet werden sollen. Die Übertragungen Liszt's, welche bis jetzt die einzigen hier sprechenden Kunstgebilde sind, die einzigen, welche diese von der Ästhetik noch völlig unberührte und darum auch unerörterte Frage stellen, aber nicht allein sie stellen, sondern auch ihr Lösung geben, halten diese Arten auseinander. Und in diesem Auseinanderhalten liegt ihr besonderer künstlerischer Werth und ihre ästhetische Bedeutung, welche beide groß genug sind, um sie zu einem neuen Kunstzweig am Baume der Übersetzung zu erheben.

Beide Arten der Übertragung jedoch – die, welche von der Vokal-, sowie die, welche von der Instrumentalmusik ausgeht – gehören einer Gattung geistiger Thätigkeit an, nämlich der Thätigkeit des Übersetzens. In dieser Zusammengehörigkeit ist ihre Aufgabe keine getrennte. Hier theilen sie sogar die Aufgabe aller Übersetzungen – die Aufgabe sowohl welche dem Sprachgebiet, als die, welche dem Gebiet der bildenden Künste angehört. Hier gipfelt sie überall in dem einen: daß das Original durch Übertragung in ein anderes Material nicht nur in seiner ursprünglichen Form und in seinem ursprünglichen Charakter erhalten bleibe, sondern auch alle Bedingungen erfülle, welche man an ein Kunstwerk erhebt, das in dem zweiten Material gedacht und empfunden ist. Wie die Übersetzung eines Ölbildes in Kupferstich alle Forderungen an eine vollendete Übersetzung erst dann erfüllt, wenn nicht nur das Bild in allen seinen wesentlichen und charakteristischen Momenten wiedergegeben ist, sondern so wiedergegeben ist, daß wir beim Anschauen des zweiten Bildes der Farbe vergessen und es nur als Kupferstich empfinden, -– wie die Übersetzung einer Dichtung in eine andere Sprache erst dann eine vollendete genannt werden darf, wenn sie die Gedanken und die Form des Originals mit allen sprachlichen Eigenthümlichkeiten des Autors wiedergegeben hat, als wäre sie ursprünglich in der zweiten Sprache gedacht und empfunden: ebenso wird die musikalische Übertragung oder Übersetzung erst dann eine vollendete sein, wenn sie dem Original treu bleibt und zugleich wie aus den Eigenthümlichkeiten des Instrumentes, dem es übertragen ist, herausgeboren erscheint. Dann ist die Übertragung ein Kunstwerk, welches neben dem Originale steht. Eine Liedübertragung wird auf dieser Höhe stehen, wenn sie das[505] Wort nicht vermissen läßt und, ohne das Original verwischt zu haben, aus dem Gesangstück ein Klavierstück geworden ist. Desgleichen wird die Übertragung einer Orchesterkomposition auf das Klavier die Höhe des Originals erst dann erreichen, wenn sie – mit Ausnahme da, wo sie nach dem Vorgehen Liszt's eine »Klavier-Partitur« ist – den Klang der verschiedenen Orchesterinstrumente vergessen macht und sich der Symphoniesatz in einen Klaviersatz umgewandelt hat.

Nach dieser im Geist des Übersetzens liegenden Aufgabe hin, sind die Forderungen an beide Richtungen musikalischer Übertragung dieselben. Sie beruhen in dem Aufgeben des ersten Materials, welchem das Original angehört, und in dem Wiederschaffen des letzteren aus dem zweiten.

Nichtsdestoweniger enthält die Forderung an eine Liedübertragung gegenüber der vom Orchester ein Mehr, welches sich auf den dichterischen Gehalt des Liedes bezieht. Von Ton in Ton zu übersetzen ist etwas anderes als von Wort und Ton in Ton. Hier scheinen im ersten Augenblick unübersteigliche Schwierigkeiten zu liegen; denn das der Musik zu Grunde liegende Gedicht giebt dem Ton seine Bedeutung und seine inhaltliche Erklärung, welche nun wegfällt. Soll nach der vorhin angegebenen ästhetischen Forderung die Liedübertragung das fehlende Wort nicht vermissen lassen, soll sie das Original unverwischt wiedergeben und doch ein im Charakter des Klaviers liegendes Musikstück werden, so wird der Inhalt des Gedichtes, Wort und Dichtung, sich in Ton auflösen und doch charakteristisch aus ihm herausblühen müssen – der Punkt, auf welchem die scheinbar unübersteigliche Schwierigkeit beruht. Durch die Verbindung von Dichtung und Musik ist allerdings der Inhalt des ersteren schon mit hinübergeschlüpft in den Ton, jedoch nur in ganz allgemeiner, mehr die Gesammtstimmung des Gedichtes ausdrückender Weise: dem Wort bleibt darum doch überwiegend, um nicht zu sagen ausschließlich die Darlegung des Inhalts. Das zeigt sich, sowie das Wort wegbleibt. Die Lücke und der Bruch, welche zwischen dem Wort mit seinem den Inhalt präcisirenden und dem Ton, mit seinem den Inhalt verschwebenden Charakter von Natur aus liegen, treten dann anschaulich und das ästhetische Gefühl empfindlich berührend hervor. Mit dem Blitz des Genies hat Liszt mit seinen Übertragungen alle hier entgegen springenden[506] Hindernisse überwunden und auf die einfachste Weise gelehrt, wie die ästhetische Einheit herzustellen und der poetische Gehalt, sowie die Form des Originals dem Klavierlied einzubilden ist. Er nahm dieselben Mittel, welche die Instrumentalmusik in dem Bedürfnis sich ihrer Gefühlsisolirung zu entreißen und mit der dichterischen Poesie sich zu verbinden geschaffen hat: Verschärfung des Ausdrucks und charakteristische, sowohl die Stimmung als die Situation erfassende Tonmalerei.

Da jedoch durch das bereits gegebene Original die Benützung dieser Mittel keine freie war – denn Liszt's Bearbeitungen sind keine Phantasien über Lieder, sondern Übersetzungen derselben –: so hielt er sich mit ihnen ganz in der Grenze dessen, was das Original an solchen Mitteln bot. Gering, unbedeutend, wenig mag dem gewöhnlichen Auge erscheinen, was sich hier bot und bietet; aber das Genie nimmt einen Funken und unter seinem Hauch wird er zur Flamme! Liszt hat bei seinen Übertragungen deutscher Lieder weder die harmonischen, melodischen, noch rhythmischen Grundlagen wesentlich verändert, und trotzdem sind sie reich an Veränderungen – jedoch nur an solchen, die, ohne die Linien des Gegebenen zu verrücken, im Geist der Aufgabe des Übersetzens liegen.

Die meisten der von ihm vorgenommenen Veränderungen wurzeln in der Begleitung. Aus ihr schöpfte er den Reichthum seiner den Ausdruck verschärfenden und die Stimmung, sowie die Situation malenden Mittel, welche in der bereits angedeuteten Weise bald nur auf einen Ton, auf einen Akkord, auf einen Takt sich beziehen, bald weitere Dimensionen annehmen und ganze Akkordfolgen in andere Lagen versetzen oder sie aus einander legen zu wogenden, harpeggirten Figuren oder auch umgekehrt: durch ein Verdichten solcher Figuren zum Akkord. Selten greift er zu einer harmonischen Veränderung, aber auch hier nur auf der vom Komponisten gegebenen Grundlage. In Folge dessen erstreckt diese sich bloß auf eine chromatische Veränderung des einen oder des andern Tones.

Als poesie-, stimmungs- und situationsmalendes Mittel endlich wendet Liszt häufig die Variation an. Durch sie schließt er die Erfüllung der Forderungen ab, welche – nach seinem Beispiel – die Übertragung zum Kunstwerk machen und zur Höhe des Originals erheben. Nicht immer greift Liszt zur[507] Variation. Er läßt sie nur dann eintreten, wenn das Lied nicht durchkomponirt ist, sondern zu allen Strophen die Melodie und Begleitung der ersten bleibt, wie das durchgängig bei den Liedern Schubert's der Fall ist. Die Monotonie, welche dem nicht durchkomponirten Lied stets anhaftet und die zu überwinden nur dem durchbildeten und phantasiebegabten Sänger, der seinen Vortrag dem jemaligen Inhalt der Worte und Strophen entnimmt, gelingen kann, hat Liszt bei seinen Übertragungen durch Variiren der sich wiederholenden Verse und Strophen beseitigt. Wie der Liedsänger aus ihrem Inhalt seinen Vortrag schafft, so holte er sich aus ihnen den Charakter seiner Variation.

Durch diese einfachen Mittel, bei denen freilich das Wie das Wesentliche bleibt, erhob Liszt seine Liedübertragungen nicht allein zur Höhe des Originals. Wie er der Schöpfer der Idee der musikalischen Übersetzung überhaupt geworden, so hat er mit ihnen einen neuen Zweig der Übertragung geschaffen. Seine Übersetzungen der Lieder Schubert's sind das Ideal dieser neuen Gattung. Er hat sich hier der Poesie des Worts genähert, ja sie in Ton umgesetzt. Der Inhalt der Dichtung ist Inhalt des Klavierstücks geworden und die Dichtung selbst umschwebt nur noch wie ein unsichtbares Programm der Töne geistiges Weben.

Durch die von ihm erfundene stimmungs- und situationsmalende Variation aber hat Liszt nicht nur die inhaltliche Lücke, welche ohne sie zwischen dem gesungenen Wort und seinem Abzug auf das Klavier entsteht, aufgehoben – denn sie ist die wesentliche Übersetzung des Wortes in Ton –: er hat auch eine Formlücke überwunden, welche dem nicht durchkomponirten musikalischen Lied immer anhängt und es unter das Ideal des poetischen Liedes stellt. Letzteres ist mit seiner Stimmung und Form vor allen Dingen ganz Gegenwart, ganz ein Guß. Die unveränderte Wiederholung ein und derselben Melodie und Begleitung zu jeder Strophe des Gedichtes, wie sie in der Form des musikalisch-strophischen Liedes liegt, erreicht nicht diese Forderungen. Es muß immer, um seine Lücken zu decken, an die Genialität des Sängers appelliren; ohne sie verfällt es nur zu leicht dem unkünstlerischen Leierkasten. Liszt's Variation hat bei seinen Liedübertragungen den Fluß der Form hergestellt, welcher bei dem musikalisch-strophischen Lied ein gebrochener ist, und hat hiemit die Forderungen erfüllt, welche auf dichterischem[508] Gebiet an das poetische Lied erhoben werden: ganz Gegenwart, ein Fluß, ein Guß zu sein.

Als er jetzt zum ersten Mal mit der Übertragung eines Schubert'schen Liedes, des »Ständchens« mit Worten von Shakespeare, vor dem Publikum stand, jubelte es auf vor Entzücken. Wie neu und sonnig wirkte gleich am Eingang seiner Übertragung die kleine Veränderung, die er mit dem Lerchenmotiv der Begleitung vorgenommen, das er nur in höhere als seine ursprünglichen Lagen versetzt hatte, wodurch es aus der einfarbigen Begleitung, die Schubert ihm gegeben, herausgehoben und gleichsam über die Grundfarbe derselben gestellt war. Nun hörte man die Lerche von oben aus den Lüften! Nun schwebte sie mit ihrem rhyihmischen »fürchte Gott«, wie die Volkspoesie ihren Schlag in Wort gesetzt, über der heiteren Flur und über einem heiteren Menschenherzen! Wie zärtlich kosig flüsterte es:


»Wenn schon die liebe ganze Nacht

Der Sterne lichtes Heer

Hoch über Dir im Wechsel wacht –«;


wie reizvoll, gleichsam die holde Schläferin mit Traumfäden umspinnend, klangen die Harpeggien, welche mit der zweiten Hälfte dieses Verses beginnen! Wie drängte und warm pulsirte es:


»Weil Du doch gar so reizend bist,

Du süße Maid, steh auf!«


Und dann der Schluß! Liszt hatte ihm durch eine kleine rhythmische und eine nur chromatische Veränderung einer Harmonie eine dem deutschen Liede ganz besonders eigene ideale Wendung gegeben. Eine kleine Pause trennt den letzten Ruf: »Du süße Maid steh auf« vom vorhergehenden, und während dieser beginnt, richtiger: beginnen soll, verstummt, als beuge sich Natur und Mensch vor der schlummernden Schönheit, der Lerche Schlag und der Ruf löst sich auf in andachtdurchhauchte Akkorde, welche wie ein Sonnenstrahl leise über der Schläferin Haupt dahinziehen. Nun hört man wieder der Vögel Ruf, aber wie verschwindend in weiter Ferne. – Derartige Wendungen der weltlichen zur Andachts- und religiösen Stimmung gehören zu den specifischen Eigenthümlichkeiten des Wesens der deutschen Lyrik.

Liszt's Auditorium in Wien war von dieser Übertragung wie von einem Zauber umsponnen. Aber auch von den anderen von ihm[509] übertragenen Liedern, von dem »Lob der Thränen«, von der »Post« war es entzückt, weniger jedoch von der »Rose«, welche er ebenfalls vortrug. Es verlangte jene Lieder immer und immer wieder zu hören und sogar dem Da-capo folgte der Da-capo-Ruf. Man wollte sie auch gedruckt haben und so erschienen noch im Frühjahr 1838 bei Tobias Haslinger diese vier Lieder unter dem damals modischen, bei der folgenden Ausgabe jedoch sistirten Titel:


Hommage aux Dames de Vienne

Lieder von Fr. Schubert, transkribirt etc.


1) Das Ständchen.

2) Lob der Thränen.

3) Die Post.

4) Die Rose.


Ihnen folgte bald eine zweite umfangreichere Sammlung unter dem Titel:


Zwölf Lieder von Franz Schubert

für das Pianoforte übertragen etc.1


1) Sei mir gegrüßt.

2) Auf dem Wasser.

3) Du bist die Ruh.

4) Erlkönig.

5) Meeresstille.

6) Die junge Nonne.

7) Frühlingsglaube.

8) Gretchen am Spinnrad.

9) Ständchen.

10) Rastlose Liebe.

11) Der Wanderer.

12) Ave Maria.


Wie die Wiener, so war die ganze musikalische Welt Europas von diesen Übertragungen entzückt, und selbst Frau Kritik fand sie »charmant« und »genial«. Sie haben Liszt's Weltruf als musikalischer Übersetzer begründet und zu gleicher Zeit eine neue Ära auf dem Feld der Übertragung hervorgerufen. Von diesem Moment an hörte die unklaviermäßige und sinnwidrige Art des Transkribirens und Arrangirens auf.

Die obigen Übertragungen der Lieder Schu bert's blieben jedoch nicht die einzigen. Schubert's Muse mit ihrer deutschen Poesie hatte sich tief in sein Herz eingeschlichen. »Schubert ist[510] der poetischste von allen Musikern, die je existirt haben!« schrieb er damals voll Enthusiasmus nach Paris. »Französische Übersetzungen können nur eine höchst unvollkommene Idee von dem schönen Ganzen geben, welches die durchgängig herrlichen Poesien in Verbindung mit Schubert's Musik bilden. Die deutsche Sprache übt eine wunderbare Wirkung auf das Gemüth aus, und nur der Deutsche wird diese kindliche Reinheit, diese schwermuthsvolle Hingebung, welche über Schubert's Kompositionen einen so besonderen Zauber gegossen, ganz begreifen.«

Diese Bewunderung und Liebe für Schubert's Lyrik hat Liszt durch alle Perioden seines Lebens begleitet. Er hörte nie auf sich mit ihr zu beschäftigen und allmählich erstreckte sie sich über alle ihre Zweige. Waren es nicht die Lieder, die er übersetzte oder deren Begleitung er orchestrirte, so waren es seine Walzermelodien, die er in die reizendsten Koncertstücke umwandelte, oder es war seine Klaviermusik überhaupt – die Märsche, die Momens musicals, dieImpromptus, Sonaten, Phantasien – welche er im Sinne des vorgeschrittenen Klavierspiels und der mehr entwickelten Klangempfindung, aber in äußerster Zurückhaltung vor jeder Umgestaltung des Originals oder einer nicht im Sinne des Komponisten liegenden Zuthat bearbeitet und sie hiedurch unserer, in anderen als klassisch-musikalischen Formen denkenden und fühlenden Generation von neuem geschenkt hat. Mehrere Märsche übersetzte er von Klavier in Orchester und erhob sie durch seine geistvolle und charakteristische Instrumentation gleichsam von einer Kreidezeichnung zum lebendigen Bild.2 Selbst auf Schubert's Orchesterwerke und Opern, von denen insbesondere letztere ganz[511] unbekannt geblieben waren, erstreckte sich seine Liebe und Thätigkeit. Als Hofkapellmeister in Weimar brachte er jene in den Koncertsaal, von diesen: »Alfonso und Estrella« auf die Bühne3 – die erste Aufführung, welche dieses Werk überhaupt erlebt hat.

Den bereits genannten Liedübertragungen folgten in verschiedenen Zeiträumen noch folgende Sammlungen:


Geistliche Lieder von Fr. Schubert4

für Klavier übertragen etc.


1) Litanei.

2) Himmelsfunken.

3) Die Gestirne.

4) Hymne.


Sechs Lieder von Fr. Schubert5

für Klavier übertragen etc. etc.


1) Lebewohl.

2) Des Mädchens Klage.

3) Das Sterbeglöcklein.

4) Trockene Blumen.

5) Ungeduld.

6) Die Forelle.6


[512] Müllerlieder von Fr. Schubert7

(im leichteren Stil übertragen).


1) Das Wandern.

2) Der Müller am Bach.

3) Der Jäger.

4) Die böse Farbe.

5) Wohin?

6) Ungeduld.


Schwanengesang von Fr. Schubert.8


1) Die Stadt.

2) Das Fischermädchen.

3) Aufenthalt.

4) Am Meer.

5) Abschied.

6) In der Ferne.

7) Ständchen.

8) Ihr Bild.

9) Frühlingssehnsucht.

10) Liebesbotschaft.

11) Der Atlas.

12) Der Doppelgänger.

13) Die Taubenpost.

14) Kriegers Ahnung.


Winterreise von Fr. Schubert.9


15) Gute Nacht.

16) Die Nebensonnen.

17) Muth.

18) Die Post.

19) Erstarrung.

20) Wasserflut.

21) Der Lindenbaum.

22) Der Leiermann und Täuschung.

23) Das Wirthshaus.

24) Der stürmische Morgen; und: Im Dorfe.


Diese Sammlungen umfassen vier und fünfzig der Lieder Schubert's, welche Liszt theilweise während seines Aufenthaltes bei der Schweizer- und theilweise auf seinen großen europäischen Rundreisen dem Klavier übertragen hat. Doch begnügte er sich noch nicht hiemit. Die Lieder klangen in ihm fort und in einer viel späteren Zeit, am Ende seiner Weimarperiode – im Winter 1860 auf 1861 –, übersetzte er nochmals vier derselben, aber nicht in Klaviermusik, sondern ihre Klavierbegleitung in Orchesterbegleitung: er instrumentirte sie. Und noch ein Jahrzehnt später[513] – Ende des Jahres 1870 in Pest – bearbeitete er in gleicher Weise und mit Hinzufügung eines Männerchores das Tenorlied:


Die Allmacht von Fr. Schubert

für eine Solo-Tenorstimme mit Männerchor und Orchester.10


Die erst erwähnten instrumentirten Lieder waren:


Vier Lieder von Fr. Schubert

für eine Singstimme mit kleinem Orchester.

Instrumentirt von etc.11


1) Die junge Nonne.

2) Gretchen am Spinnrad.

3) Lied der Mignon.

4) Erlkönig.


Mit diesen fünf Bearbeitungen hat Liszt den Koncertsaal bereichert und, was gewiß Viele schon empfunden haben, gewissermaßen einen Bruch ausgefüllt, welcher zwischen der Stimmung mancher Lieder Schubert's und ihrer Klavierbegleitung liegt und der sich namentlich im Koncertsaal, wo der Gesangston sich breiter entfaltet und in größeren Wellen ausschwingt als im Salon, bemerkbar macht. Im Koncertsaal decken Klang und Farbe des Klaviers nicht immer die Gesangsstimme, und neben ihr erscheint hier die Klavierbegleitung trotz ihrer poetisch-charakteristischen Malerei nahezu dürftig: der Malerei fehlt die Farbe! Liszt's Instrumentation hat ihr die Farbe gegeben, ohne sie dabei dem Rahmen des Liedes zu entrücken. Die Begleitungen sind für nur »kleines Orchester« gesetzt. Aber dieses »kleine Orchester« sagt in seiner Zusammenstellung der Instrumente mehr als viele »große Orchester«. Aus dem Geist des Übersetzens wie seine situationsmalende Variation der Klavierübertragungen hervorgegangen, umgiebt es den Gesang mit dem Hauch erhöhten poetischen Lebens und mit der Farbe des Klanges, welchen das Wort, der Vers, die Strophe ausathmet.

Nicht minder bedeutend ist die Bearbeitung des Liedes: »Die Allmacht«, seiner Zeit von Liszt für die ofener Singakademie[514] bestimmt. Die Hinzufügung des Männerchores, mit welcher Liszt dieses herrliche Lied »bekräftigte«, wie er sich damals über diese Zuthat köstlich äußerte, hat das Lied auf eine höhere Stufe des Inhalts gesetzt und ihm eine Wirkung gesichert, welche es ohne den Chor und ohne Orchester, trotzdem es einer der »edelsten und effektvollsten Gesänge für Tenor-Solo« ist (Liszt), nie erreichen könnte. Die breite Akkordbegleitung, welche Schubert dem Lied gegeben, weist über sich hinaus nach Unausgesprochenem hin, ebenso der Schluß des Liedes mit seinem sich höher und höher schwingenden Ausruf: »Groß ist Jehovah der Herr!« Die Stimmung nimmt hier einen so gewaltigen Aufschwung, daß der Schluß Schubert's, welcher sie nicht weiter führt, sondern sie kurz abbricht, jenes unbefriedigte Gefühl zurück läßt, welches sich stets einstellt, wenn das Gemüth in eine höhere Anregung versetzt wird und dieser doch kein Genüge geschieht. Nach Liszt's Bearbeitung wächst aus der breiten Akkordbegleitung ein Chor heraus und der Ausruf des Individuums: »Groß ist Jehovah der Herr!« löst sich auf in dem kräftigen Widerhall, den er in dem hochgestimmten Gemüth einer Masse findet – eine wundervolle »Bekräftigung« des ergreifenden Liedes.

»Die Allmacht« ist das letzte der Lieder Schubert's, welches Liszt bearbeitet hat, das einzige, bei dem er ein Mehr sich gestattet. Mit ihm sind die Lieder Schubert's in alle wichtige Epochen des Geisteslebens Liszt's hineingetreten: in seine Virtuosenzeit, in seine Periode als Symphoniker, wie in die als Kirchenkomponist; mit ihr haben drei seiner Geistesperioden einen bleibenden Widerschein ihres Glanzes und ihrer Höhe auf sie zurückgeworfen. Von der »Rose« (1835) bis zur »Allmacht« (1870) – welch' ein weiter Weg innerer Entwickelung! –

Liszt hat der Poesie des deutschen Liedes die innigste Sympathie, aber auch das vollste Verständnis entgegen gebracht – es war, obwohl er kein geborner Deutscher, doch ein Theil seines Selbst. Er hat die poetische Innigkeit desselben verstanden und ist wie selten ein Deutscher in die geheimsten Schlupfwinkel seines Herzens hineingedrungen. Liszt hat viele Lieder der edelsten Repräsentanten deutschen Liedes, Lieder von Beethoven, von Mendelssohn, von Franz, von Schumann und Andern, in Klaviermusik übersetzt. Er hat jedem dieser Meister bis in ihre feinsten geistigen Regungen hinein zu folgen gewußt und jedes[515] einzelnen individuelle Eigenthümlichkeit erkannt, verstanden und bei der Übertragung ihrer Lieder gewahrt, ja oft in erhöhter Schönheit wiedergegeben: die Lieder Schubert's aber sind die Perlen seiner Lied-Übertragungen – Perlen, die auf seines Herzens Grund gelegen.

Mit Liszt's Koncerten in Wien 1838 begann ihr öffentlicher Lebenslauf – einer, der die Herzen Tausender erfreut hat und noch Tausende erfreuen und entzücken wird!

Fußnoten

1 Bei Anton Diabelli. 1839 (?).


2 Liszt's Bearbeitungen der außerhalb des Liederkreises liegenden Kompositionen Schubert's sind:


A. Klaviermusik:


I. Übertragungen und Bearbeitungen:


»Soirées de Vienne.« Valses-Caprices d' après Fr. Schubert No. 1–9. Bei Spina in Wien, 1852–1853.

Divertissements à la Hongroise von Fr. Schubert (opus 54 No. 1 Andante. No. 2 Marcia. No. 3 Allegretto). Bei Diabelli in Wien, 1840.

Märsche von Fr. Schubert. No. 1 Trauermarsch. No. 2 Marsch. No. 3 Reitermarsch. Ebenfalls bei Diabelli. 1845.


II. Revisionen und Bearbeitungen:


Fantasie opus 15.

Sonaten opus 42, 53, 78.

Walzer und Ländler opus 9, 18, 33.

Valses sentimentales opus 50, 67, 92, 127.

Impromptus opus 90, 142.

Momens musicals opus 94. Bei I.G. Cotta, Stuttgart 1869.


B. Orchester-Übertragungen:


Franz Schubert's Märsche. No. 1 Vivace. No. 2 Trauermarsch. No. 3 Reitermarsch. No. 4 Ungarischer Marsch. Bei A. Fürstner in Berlin. 1871.


C. Klavier und Orchester:


Franz Schubert's große Fantasieopus 15, symphonisch bearbeitet. Bei Schreiber in Wien, 1857.


3 Weimar, am 24. Juni 1854, zum Geburtstag des regierenden Großherzogs Karl Alexander.


4 Bei Julius Schuberth in Hamburg, spätere Firma: I. Schuberth & Co. in Leipzig. 1846.


5 Bei M. Schlesinger in Berlin. Die erste Ausgabe hatte den Titel: »Sechs Melodien« etc. 1846.


6 Bei Spina in Wien (spätere Firma: Fr. Schreiber) erschien 1856 eine zweite Version der »Forelle«.


7 Bei Diabelli in Wien, 1846.


8 Bei Haslinger in Wien, 1840.


9 Bei Haslinger in Wien, 1841.


10 Bei I. Schuberth & Co. in Leipzig 1872.


11 Bei Rob. Forberg in Leipzig 1871.

Quelle:
Ramann, Lina: Franz Liszt. Als Künstler und Mensch, Band 1, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1880.
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