XXVII.

Roma.

(Reisen mit der Gräfin d'Agoult

1835–1840. II. Italien.)

Sommerfrische. Koncerte beim Herzog von Modena, in Florenz, Bologna, Rom. – Rom. Denkwürdiges Koncert in den Sälen des Fürsten Galitzin. Liszt's Gedanken über die Einheitsidee der Künste finden ihren Abschluß. Die Ausarbeitung seiner Künstlerindividualität. I.A.D. Ingres. Neue Stoffe. Liszt's »Sposalizio« und »Il Penseroso«. Die bildenden Künste in ihrer Beziehung zur Musik. Klavier-Partituren der Symphonien Beethoven's. Erste Liedkomposition. Kompositionen nach seiner Koncertepisode in Wien.


Als Liszt in Venedig ankam, war die Gräfin d'Agoult bereits auf dem Weg der Besserung.

Die wegen seiner Wienreise abgebrochenen Koncertarrangements nahm er jedoch nicht wieder auf, sondern, da die Sommerzeit anbrach, verließen Beide die Lagunenstadt, um ihre Schwüle mit der kühlenden Luft eines Bergsees zu vertauschen. Sie hatten für diesen Sommer Lugano, einen der beliebtesten Sommeraufenthalte der vornehmen Welt aller Länder, gewählt. Ihre Reiseroute ging über Mailand nach Genua, wo Liszt ein Koncert gab, und von da in die Berge, an den buchtenreichen See mit seinen steilen Ufern und seiner malerischen Schönheit.

Hier blieben sie, bis der Herbst sich seinem Ende zuneigte und die Gäste des italienischen Bodens mahnte die Hallen der Kunst aufzusuchen und den von der Schönheit der Natur so reichlich gewährten Genuß mit dem Genuß zu vertauschen, welchen hier die Kunst in einer von keiner Zeit wieder zu erreichenden verschwenderischen Fülle dem schönheitsdurstigen Geist darbietet.

Liszt hatte den Sommer in gewohnter Weise verbracht. Er lebte seinen Studien, der Natur – doch nicht zurückgezogen und einsam wie in Bellaggio, sondern auch in geselliger Verbindung[517] mit Menschen von Geist und Rang. Dazwischen machte er einige Ausflüge, unter ihnen den bekannten nach Mailand; und einen andern bemerkenswerthen in die Provinz Padua, wo er einer Einladung des Herzogs von Modena Folge geleistet und sammt seinem Erard-Flügel mehrere Tage auf dessen Villa Catajo verbracht hatte. Diese Tage auf der herzoglichen Villa waren Galla-Tage; denn vornehme Gäste füllten ihre Räume: das österreichische Kaiserpaar, die Vicekönigin des lombardisch-venetianischen Königreichs Elisabeth von Österreich, die Erzherzogin Maria Louise, der Erzherzog Franz, sowie die vornehmsten Glieder der herzoglichen Familie. Mit ihnen saß Liszt zur Tafel; sie waren mit ihrem Gefolge von Oberhofmeistern, Hofdamen und Kammerherren sein einziges Auditorium.

Als die Sommerzeit verstrichen, wandte er sich mit der Gräfin d'Agoult wieder den Städten zu und besuchte, jedoch mehr als Privatmann denn als ausübender Künstler, mit bald längerem bald kürzerem Aufenthalt die verschiedenen, durch ihre Kunstschätze sich auszeichnenden Residenzen Italiens. Um jedoch nicht gänzlich »sein Handwerk zu verlernen«, wie er an Berlioz schrieb, hielt er sich durch da und dort gegebene Koncerte mit der Künstlerwelt in Berührung. So spielte er mehrfach in Florenz: am 8. November im Theater des Engländers Rowland Standish, am 17. November und am 12. December bei Hof, am 16. December im Teatro Cocomero; in Bologna: am 25. December im Casino, am 29. im Saale des Marchesi Sampieri; in Rom: 1839 Ende Januar in einem Koncert der Sängerin Francilla Pixis, der Pflegetochter seines Freundes Pixis, in der Fastenzeit in vielen Privatkreisen der Aristokratie und der Künstlerwelt; am 1. Mai in einem von der französischen Gesandtschaft angeordneten Gottesdienst in der Kirche S. Luigi de Francesi, wo er eine Fuge von Sebastian Bach auf der Orgel spielte, Mitte Mai im Teatro Argentina, wo er ein eigenes Koncert gab u.s.f. Stets war sein Auftreten von den glänzendsten Erfolgen begleitet und überall erweckte seine Persönlichkeit als Künstler und Mensch Bewunderung und Enthusiasmus.

Historisch denkwürdig ist eines der römischen Privatkoncerte Liszt's geworden. Dasselbe fand imPalazzo Poli, in den Sälen des Fürsten Dimitri Galitzin, Gouverneurs von Moskau statt, arrangirt aber war es von dem russischen Grafen [518] Michael Wielhorsky. Dieses Koncert, welches Liszt vor einem höchst exklusiven und glänzenden Zuhörerkreis gab – er bestand nur aus Würdenträgern der europäischen Staaten und der Kirche, sowie aus Familiengliedern der in Rom lebenden Gesandtschaften –, war das erste, welches er ohne mitwirkende Kräfte allein am Klavier gegeben.

Noch niemand hatte vor ihm einen solchen Versuch gewagt – einen Versuch, der allerdings auf so vielen Voraussetzungen beruhte, daß wohl der kühnste unter den Virtuosen vor und neben ihm schwerlich nur auf einen solchen Gedanken hätte kommen können. Denn abgesehen von dem seltenen Grad physischer und geistiger Ausdauer, die derselbe beansprucht, setzt er zu seiner Ermöglichung – sie schließt den Erfolg mit ein – einen blühenden Reichthum an Phantasie, eine Beweglichkeit des Geistes und eine unterscheidende Kraft der Intelligenz voraus, wie sie einem nur Virtuosengenie wohl niemals eingeboren waren. Ohne diese Eigenschaften wird nie ein Virtuos ein Koncert, dessen Programm ausschließlich aus Klaviermusik besteht, geben und dabei die dem Klavier anhaftende Monotonie den Zuhörern ganz vergessen machen können; und hierauf beruht der Erfolg, aber auch ein großer Theil der ihm entgegenstehenden Schwierigkeiten. Denn wenn das Klavier auch allen Schattirungen des Geistes folgen kann, so ist ihm dagegen versagt einen großen Theil seiner Farben wiederzugeben, wodurch derartige Koncerte nur zu leicht selbst dann, wenn der Virtuos nicht nur ein musikalischer Fingerheld, sondern auch ein geistvoller Musiker ist, monoton und ermüdend wirken. Mit jenen Eigenschaften dagegen steht der reproducirende Künstler über aller Materie und hiemit über den Einseitigkeiten seines Instrumentes. Sie lassen ihn die Kompositionen der verschiedensten Gattungen, der verschiedensten Zeitepochen, der verschiedensten Geister nicht nur in ihrem allgemeinen Wesen, sondern auch in der Schärfe ihres Andersseins erkennen; sie verleihen ihm die Kraft das Erkannte festzuhalten und es zu jeder Zeit rein und unverwischt zur Darstellung zu bringen, selbst dann, wenn das Entgegengesetzteste in Stimmung und Form ihm vorausgegangen ist oder auch es umgiebt; sie machen ihm die hundertfältigen Geistesblüthen Anderer so zum Eigenthum und durchdringen sie derartig mit seinem eigenen Leben, daß er sie vor dem Hörer aufsprossen und aufblühen läßt wie so eben aus reinster Unmittelbarkeit[519] der Phantasie geboren. Vor solcher Art des Geistes schwinden die Einseitigkeiten wie Nebenfaktoren, welche nicht zählen; aus ihr konnte ein Gedanke, ein Versuch und ein Sieg wie der Liszt's hervorgehen.

Was diesen Gedanken in ihm erzeugt? ob es die musikalischen Verhältnisse Roms waren, die ihn zu demselben gezwungen? ob es der Drang gewesen sich von den vielen Zufälligkeiten, von der Willkür, der Laune, der Gehässigkeit, denen der Virtuos bei seinen Koncertvorbereitungen mit jedem Schritt ausgesetzt ist, zu befreien? der Drang ein unwürdiges Sklavenjoch zu zerbrechen? ob es die eingeborene stolze Herrscherkraft war, die sich auf sich selbst zu stellen verlangt? der Künstlergeist, der in der Ein- und Mitsprache unmündiger Elemente sich in der Entfaltung der eigenen Kräfte gehemmt fühlt? – wie läßt sich der Ursprung eines Gedankens entziffern?! Sicher ist: eine That setzt eine Kraft voraus – und Liszt fühlte die seine, wobei jenes römische Koncert in den Sälen des Fürsten D. Galitzin den Beweis gab, daß sie groß genug war, um einen Gedanken so monströser Art siegreich durchzuführen.

Dieser Erfolg blieb nicht ohne Konsequenzen; denn Liszt ließ es nicht bei dieser einen Probe seiner alle Hindernisse überwältigenden Fähigkeit bewenden. Er wiederholte sie unzählige Mal bei seinen öffentlichen Koncerten in allen Ländern und drang selbst in Paris im Jahr 1841 so siegreich mit ihr durch, daß von da an Klavierkoncerte ohne jede Mitwirkung anderer Kräfte zu geben, gewissermaßen zu einer Ehrenaufgabe der Pianisten wurde. Doch blieb ihre volle Lösung an den Flügelschlag seines Genies gebunden. Seine Schüler, von denen insbesondere v. Bülow und Tausig, sowie auch der ohne sein Schüler zu sein, von Liszt vielfach angeregte Anton Rubinstein1 zu nennen sind, haben wohl während der letzten Jahrzehnte Koncerte, deren Programm nur aus Klaviermusik bestand, mit großem Erfolg gegeben, jedoch – mit Ausnahme Rubinstein's, dessen Komponistennatur die entgegenstehenden Schwierigkeiten überwand – ohne ihre Hörer gänzlich unempfindlich gegenüber der Monotonie des Klaviers machen zu können.

[520] Liszt's Aufenthalt in Italien währte noch bis gegen Mitte November dieses Jahres. Rom war die letzte Stadt, in welcher er als Pianist auftrat. Vier Monate hatte er hier mit der Gräfin verlebt, vier Monate reich an großartigen Eindrücken, welche die durch Geschichte und Kunst über alle Städte erhabene Roma ihm gab. Nach dieser Zeit suchte er als Sommer- und Badeaufenthalt Lucca auf, wo er in der Villa Maximiliana wohnte – dann noch ein mehrwöchentlicher der Einsamkeit gewidmeter Aufenthalt in dem am Meer gelegenen Schifferdorf San Rossore, um endlich Mitte November als Virtuos dem Ruf der Kunst und der Welt ausschließlich zu folgen und sein Wanderleben, an welchem der Durst nach Bildung und innerer Ausarbeitung einen eben so großen Antheil hatte, wie die Konsequenzen der Verhältnisse, in welche die Leidenschaft seiner Jugend ihn gestürzt, mit dem Wanderleben des Virtuosen zu vertauschen.

Unter allen Städten Italiens, die Liszt besucht, und unter allen Kunstsälen, die er durchwandert, bewährte Rom seinen ewigen Ruhm auch an ihm. Die Größe und Vielseitigkeit der Eindrücke, die ihm hier wurden, gingen über alle bisher empfangenen hinaus. Der finster-träumende Ernst der Lagunen Venedigs, von den Melodien der Schiffer wie von einem ewigen Schlafgesang umtönt, beugte sich vor der Campagna romana mit ihrer schweigenden Majestät; der Sternenhimmel, der so heiter über dem Lago di Como sich gespannt, erbleichte vor dem überwältigenden Etwas, das aus der nächtlichen Sternenpracht sprach, die über dem Campo Santo, den »Gefilden des Todes«, leuchtete, und selbst Florenz, »La bella« Italiens, legte ihre Blumen zu den Füßen der einsamen Palme, die auf den Mauerresten einstiger Größe vor der Kirche San Pietro in Vincoli – dieselbe, in welcher der »Moses« von Michel Angelo seines Meisters Ruf: »Nun geh' und sprich!« bis auf diese Stunde erfüllt – ihr stolzes freies Haupt erhebt.

Hier in Rom fanden alle Eindrücke, welche Natur, Geschichte und bildende Kunst während zweier Jahre in ihm aufgehäuft, ihren Abschluß, auch fanden sie dort ihre Klärung. Gedanken, welche in ihm beim Anschauen monumentaler Kunstwerke, Skulpturen und Gemälden aufgestiegen waren und sich ebenso oft mit seinen Ideen über Musik begegnet, wie widersprochen hatten, fanden hier ihre Einigung und ihr Ziel. Hier in Rom fand er die praktische[521] Lösung der Kunstfragen, welche ihn als Jüngling in die Hörsäle der Redner, in die Ateliers der Maler, wie in die Studirzimmer der Philosophen getrieben hatte: er fand die Einheits- und die geschichtliche Idee der gesammten Künste in ihrer reinsten Verkörperung – in Rom fand er den Schlußstein seiner individuellen Entwickelung als universell-denkender Künstler.

Wohl war damals die Welt verwundert über Liszt's Leben in Italien, über sein Wandern vom Po bis zum Tiber und über sein langes Bleiben in Rom. Sie konnte sich nicht erklären, was er als Musiker und Virtuos hier gewinnen könne, und war geneigt alles als eine nutzlose Zersplitterung seiner Zeit und seiner Kräfte zu betrachten. Sie wußte nichts von der geistigen Arbeit, die sich unter dieser scheinbaren Zersplitterung barg – und hätte sie diese gesehen, würde sie sie auch verstanden haben? Schwerlich! Der allgemeine Verstand, der nur die vor seinem Auge liegenden Wege des Nützlichen begreift, wird kaum die außergewöhnlichen Bahnen deuten können, welche instinktiv das Genie sich selbst suchend betritt. Er schüttelt den Kopf über den Jüngling, der seinen Meisel liegen läßt, um Partituren großer Tonmeister oder auch die poetischen Schöpfungen unsterblicher Dichter zu durchwandern, und denkt nicht, daß die Töne den Meisel des Meisters beseelen und die Dichtkunst seine Hand leiten wird. Liszt's Reiseleben war der Welt, namentlich nach seinen großen Triumphen in Wien, unbegreiflich und die musikalische Presse als Wortführerin äußerte: daß es ihm mehr Opfer kosten als Ruhm bringen werde. Inzwischen aber hatte er, wenn auch vielleicht in nach obenhin spielender Form, an der Ausarbeitung seines Geistes mit dem Ernst und der Kraft gearbeitet, welche vom Genie unzertrennlich sind.

Die musikalischen Zustände Italiens konnten ihm, mit Ausnahme der Sixtinischen Kapelle in Rom, welche in den Passionszeiten dreier Jahrhunderte stets durch den erhabenen Geist der altrömischen Kirchenmusik zu den Herzen der Betenden sprach, nichts bieten. Er hatte sich darum, wie er an Berlioz schrieb, »von den Lebenden nur wenig verlangend an die Todten gewandt«. Sie gaben ihm durch ihre Kunstwerke Antwort auf alle die Fragen, welche er in Frankreich den Problemen der Zeit und der Philosophie nachjagend nicht hatte finden können. An der Antike, an den Werken Michel Angelo's, Leonardo da Vinci's, Rafael's[522] und anderer Meister spürte er dem geistigen Zusammenhang nach, welcher unter den Künsten herrscht und sie mit den Problemen verbindet, welche der Mittelpunkt der geistigen Thätigkeit der Zeiten waren und, wenn auch mit anderen Wendungen, gegenwärtig noch sind. An ihnen schärfte er seinen Blick für die künstlerischen Aufgaben unserer Zeit, an ihnen erkannte er den einen Inhalt und das eine Streben, welche die bildenden und dichtenden Künste, sowie die Musik durchziehen. Aus ihnen las er den großen Einheitsgedanken, auf dessen breiten Bahnen Himmel, Erde, Künste und Wissenschaft wie kämpfende Sterne dahinziehen, um in dem Einen sich zu finden: in dem Streben nach Freiheit und nach Göttlichem.

Wohin auch sein Auge blickte, in die Natur, in die Vergangenheit oder in die die Zukunft schaffende Gegenwart, in die bildenden Künste oder in die Dicht- und die Tonkunst – es war dasselbe, das Eine: das Streben nach Licht, das Ringen nach Lösung jener Probleme, welche die strebende und denkende Menschheit seit ihrem Dasein in Bewegung erhalten, das Reinigen der Wirklichkeit zum Ideal, das Verklären der Erde, die Sehnsucht nach dem Göttlichen – es war der Schlüssel aller Sprachen, den er fand.

Michel Angelo's stürmische Bewegtheit und erhabene Kraft, welche den Kampf mit dem Übermächtigen aufnimmt und doch der Gottheit Fuß auf seinen ungebeugten Nacken stellt – ein Triumphator der Freiheit und divinatorischen Verzückung zugleich! – sprach ihm auf dem Gebiet der Skulptur von dem Gährungs- und Befreiungszug des menschlichen Geistes, welcher im Laufe der Jahrhunderte seine Furchen immer tiefer und mächtiger in das Herz der Völker gedrückt hat und ihm in dem Stück Geschichte, das er in Frankreich miterlebt und das ihn so kräftig in seine Strömung gezogen hatte, zum Bewußtsein gekommen war. Ein tief sympathischer Zug zog Liszt zu Michel Angelo, dessen Genius im kühnen Aufschwung der Kraft die Satzungen übersprang, die hemmend ihr entgegen standen.

Gleich mächtig wie dieser Gigant und doch wieder ganz anders fühlte er sich von dem tiefen Denkergeist Leonardo da Vinci's berührt, dessen Schöpfungen in Linie und Farbe einen Geist der Versöhnung athmen, wie ihn nur die Milde der christlichen Religion kennt. Die dem Denker eigene Klarheit der Zeichnung, die zugleich durchdrungen ist von einer unendlich innigen,[523] sich insbesondere über seine weiblichen Gestalten ergießende und ihnen eine wunderbare Süße und Reinheit der Seele einhauchende Empfindung, die religiöse Schwärmerei, über welche der klare Hauch des Gedankens sich breitet, alle jene Momente, welche den Schöpfungen dieses Meisters Harmonie, Formvollendung und religiöse Weihe verleihen, gaben der Anschauung Liszt's, gegenüber jenem nahezu trotzigen, über das Maß hinausstrebenden Element, das bei Michel Angelo's Skulpturen so überwältigend auf ihn wirkte, einen Gegensatz.

Am tiefsten aber ergriff ihn Rafael, dieser wunderbare Künstler, welcher Denker und Dichter zugleich, hellenisches Maß mit der weltumfassenden Weite des Christenthums in höchster Vollendung zu verbinden wußte. An Rafael's Werken entzifferte er sich jene Sphinx, die in jedem Jahrhundert neue Räthselwendungen schaffend dem Künstler moderner Zeitrechnung die Aufgabe stellt: das Wahre verbunden mit den höchsten Ideen der fortschreitenden Menschheit als Schönes zu geben.

Ideen las Liszt aus den Werken »der Todten, denen er sich zugewandt«. Wie geistvoll und tief er diese, selbst in der ihm fremden Sprache der Malerei zu fassen wußte, davon spricht ein Brief, welchen der Bachelier Es-musique jener Zeit an seinen Freund d'Ortigue in Paris richtete, nachdem er Rafael's »Heilige Cäcilie« in Bologna gesehen. Dieser der Malerei wie der Musik angehörende Stoff riß ihn gegenüber diesem Meisterwerk bis zu der künstlerischen Intuition hin, welche die in dem Bilde liegenden Mysterien deutete.2 Liszt war kein nur momentan erregter Beschauer. Erschautes wirkte in ihm nach. Das Versenken – namentlich in die Werke Rafael's – machte ihm das Gleichgewicht am tiefsten fühlbar, welches in der Kunst zwischen Geist und Form walten muß, um den auszuführenden Ideen gerecht zu werden; an ihnen empfand er die einheitliche Durchdringung dieser beiden wesentlichen Faktoren bis zu jener Höhe, wo die Form der Inhalt und der Inhalt die Form ist, wo sie nicht nur den Geist des Friedens athmen, sondern auch das Irdische in den Geist der Verklärung verflüchtigen.

Neben den bildenden Künsten öffnete die alt-italienische Musik [524] Liszt ihre Schätze. Es waren das insbesondere die Partituren der Kirchenmusik des erhabenen Stils, welche die Sixtinische Kapelle in Rom ihr eigen nennt und von Zeit zu Zeit aufführt. Hier hörte er die Klänge Palestrina's, Allegri's, Vittoria's und anderer Meister in ihrer Echtheit. Palestrina vor allen andern sah ihn zu seinen Füßen. Seine Harmonien, so ernst und so erhaben, so einfach und doch so gottgetränkt, berührten ihn wie eine Offenbarung und doch wieder wie ein Etwas, das er im eigenen Geist schon empfunden. Doch keine Ahnung sagte ihm, daß ihn dereinst die Welt den »modernen Palestrina« noch nennen würde. –

Rom gab allen Eindrücken, die Liszt in Italien empfangen, den Schluß. Es traf sich aber auch nirgends wie hier, daß er an der Seite eines hochgebildeten und gereiften Künstlers, welcher dieselben Ideen wie er, aber bereits geklärt und durchbildet in sich trug, die Kirchen, Museen und die stolzen Hallen des Vatikan durchwanderte. Hier, wo man Kunstschätze aufgehäuft, welche von der schaffenden Kraft und dem strebenden Geist der Völker des Orients und des Occidents, des Heiden- und des Christenthums von den frühesten Kulturzeiten an bis herauf zu den Epochen höchster Kunstblüte eine beredte Sprache reden – hier und durch den Mund jenes Künstlers, dessen Worten er nach seinem eigenen Ausdruck, wie ein »lechzender Schüler« lauschte, gingen ihm die genannten Ideen am vollständigsten, schönsten und höchsten auf. Kein anderer als Jean August Dominique Ingres, der seiner Zeit berühmte französische Historienmaler, welcher als Kämpe für den Idealismus seinen Gegnern in Frankreich hatte weichen müssen und nun – nach Horace Vernet – die Direktorstelle der französischen Akademie in Rom bekleidete, war sein Cicerone. Eine herzliche Sympathie hatte den jüngeren und den schon durch die Lebens- und Kunstschule gegangenen, als Mensch und Charakter bedeutenden Künstler zusammengeführt, eine Sympathie, die um so verständnisinniger sich gestaltet hatte, als Ingres nicht nur ein auf den Höhen der Gedankenwelt stehender Maler, sondern auch vorzüglicher Musiker war, der mit künstlerischer Weihe den Bogen führte. Er gehörte zu den seltenen Künstlern, deren geistige Anlage und Bildung hoch über enger Fachgrenze stand. Sein Blick drang in die Geheimnisse des Schönen, auf welchem Gebiet und zu welcher Zeit es sich auch immer offenbart haben mochte.[525]

»Mozart, Beethoven, Haydn sprachen ihm dieselbe Sprache, wie Phidias und Rafael« schrieb Liszt, nachdem er Rom hinter sich hatte, begeistert von ihm an Berlioz.3 Über die Kunsteinsicht aber, die er hier gewonnen, äußerte er in demselben Brief:

»Das Schöne dieses begünstigten Erdstrichs zeigte sich mir in seinen reinsten, in seinen erhabensten Formen. Meinem staunenden Auge erschien die Kunst in ihrer ganzen Herrlichkeit und enthüllte sich ihm in ihrer ganzen Universalität, in ihrer ganzen Einheit. Jeder Tag befestigte in mir durch Fühlen und Denken das Bewußtsein der verborgenen Verwandtschaft aller Werke des schaffenden Geistes. Rafael und Michel Angelo verhalfen mir zum Verständnis Mozart's und Beethoven's; in Johann von Pisa, Fra Beato, Francia fand ich eine Erklärung für Allegri, Marcello, Palestrina; Titian und Rossini erschienen mir wie Gestirne gleicher Strahlenbrechung. Das Kolosseum und der Campo Santo sind der heroischen Symphonie und dem Requiem nicht so fern, als man wähnt. Dante hat seinen künstlerischen Ausdruck in Orgagna und Michel Angelo gefunden; vielleicht findet er eines Tages seinen musikalischen durch einen Beethoven der Zukunft.«

Solche aus dem Gefühl für den einheitlichen Geist der Künste entsprungenen Ideen blieben bei Liszt nicht allein kunstphilosophische Anschauungen. Sie waren aus seinem geistigen Leben herausgeblüht und, da sein musikalisches Fühlen der Mittelpunkt desselben war, so trennten sie sich nicht von ihm, sondern flossen in dasselbe hinein, sich ihren unmittelbarsten Ausdruck in seiner Musik schaffend: in seinen Äußerungen am Klavier, sowie in seinen Bearbeitungen und Kompositionen.

Einen Beleg hiefür geben insbesondere zwei kleine Klavierstücke, welche er damals komponirte und wel che darlegen, wie sehr Idee und Gefühl, daß die verschiedenen Künste sich in ihrem geistigen Leben auf das innigste berühren, in ihm lebendig waren und zur Musik hindrängten. Zur Erklärung der künstlerischen Individualität Liszt's sind sie von ganz besonderem Werth. Abgesehen aber von dieser ihrer Bedeutung tritt uns in ihnen noch eine[526] so neue Idee entgegen, daß sie auch nach anderer Seite – nach ästhetischer – noch besondere Beachtung hervorrufen.

Das eine der Musikstücke trägt die Überschrift:»Sposalizio« und das andere: »Il Penseroso«. Das Titelblatt von jenem ist geschmückt mit einem Tondruck des weit verbreiteten Bildes: »Sposalizio« (»Trauung«) von Rafael, das von diesem mit einer Abbildung der von Michel Angelo gearbeiteten Mediceer-Statue – Giuliano's, Herzogs von Nemours –, welche von den Italienern ihres Charakters wegen den sie vortrefflich bezeichnenden Namen: Il Penseroso (»der Denkende«), auch: Il Pensiero (»der Gedanke«) erhalten hat.

Diese Zusammenstellung von Titel und Bild sprechen hier deutlich genug, um hier keinen Zweifel übrig zu lassen, daß der Komponist seine Musikstücke in Beziehung zu jenen Werken der bildenden Kunst gebracht sehen will; sie rufen den Gedanken wach, daß hier zwei Werke der bildenden Kunst die Veranlassung zweier Tonstücke waren, oder auch, daß zwischen diesen und jenen bestimmte geistige Beziehungen bestehen, daß hier eine Hand sich ausgestreckt zum geistigen Berühren zweier Künste, die in allen ihren Fundamenten einander entgegengesetzt sind.

Erstaunt fragt man: Wie kann ein Bild, eine Statue in Melodie und Harmonie hineindringen? Wie können sie, insbesondere da der Charakter jener beiden Figur und Gruppe ist, da beide im Raume wurzeln und beide durch das Auge faßbar sind – wie können sie zu Musikstücken werden, da die Musik doch in allen ihren Elementen nur geistigen Sinnen angehört? Sollen die Töne die heilige Ceremonie der Trauung, die Statue des »Denkenden« nachzeichnen? Sollen sie den Raum in Zeit umsetzen? das Auge in das Ohr verlegen? Lassen die Sinne sich vertauschen? Oder trägt der einzelne Sinn eine Zweiheit in sich? Das letztere sind Fragen, die allerdings längst keine Fragen mehr sind, vielmehr durch Dichtermund ihre schönste Beantwortung, wenn auch nicht bezüglich der Musik, gefunden haben. Von Rom aus schrieb Goethe sein Wort vom »fühlenden Auge« und der »sehenden Hand«, und in Rom fand Liszt, aber musikalisch, was jener dichterisch empfunden: das hörende Auge und das sehende Herz. Liszt's»Sposalizio« zeichnet nicht die Gruppe der Trauung Josephs und Marias, sein »Penseroso« keine Statue, seine Titel sind weder willkürlich noch zufällig: aber er knüpft bei der andern Kunst da an, wo sie rein geistig[527] wird, wo das Herz der Gestalten schlägt, wo das Räumliche sich in Zeit auflöst, wo die schwebende Farbe die Tonsphäre anzeigt, da, wo der geistige Eintritt der Schwesterkunst in die Musik sich vollzieht: bei der Stimmung, bei ihrer gemeinschaftlichen Psyche. Sein:


Sposalizio


ist ein Rafael'sches Tonstück in Farbe und Stimmung und selbst die Zeichnung trägt im Motiv die hohe Einfachheit, welche die ernste Schönheitslinie Rafael's so nahe an die erhabene legt.

Die weihevolle Gesammtstimmung des Bildes drückt Liszt durch das Thema aus, dessen melodische Tonschritte, als ruhte das musikalische Auge der Sixtinischen Kapelle auf ihnen, sich rhythmisch gehalten auf ausschließlich derselben diatonischen Grundlage bewegen, welche den alt-römischen Gesängen den Stempel des Heiligerhabenen verliehen. Diese Grundlage hat Liszt bei seinem »Sposalizio« durchgängig beibehalten und ihm durch sie biblischhistorisches Kolorit gegeben. Der klare Hauch der Farben, welcher die Bilder Rafael's wie mit heiligem Schein umgiebt, wird bei Liszt's Harmonien – durch eben jene Grundlage – zu verklärungslichtem Klang. Die bei der Rafael'schen Komposition im Hintergrund ruhende unentwickelte Landschaft – ein unausgesprochenes und doch durch die Empfindung sich verrathendes Pastorale – setzt sich bei Liszt um in ein Pastoralmotiv, das ähnlich, wie sich dort die Landschaft durch ihre Pastoralstimmung der Musik nähert, hier das Landschaftliche andeutet. Und der Tempel, der bei dem Bild des italienischen Meisters hoch über der zu heiliger Ceremonie verbundenen Menschengruppe steht und den Hintergrund desselben nahezu deckt, als solle seine räumliche Breite anzeigen: der Tempel des Herrn sei der Schutz, der Wächter, der Segenspender, löst sich musikalisch auf in religiöse Stimmung. Sie schwillt an zu breitem Weihgesang, welcher sich über das zu ornamentischen Gängen sich entwickelnde kirchliche Anfangsthema ausbreitet, aber nicht sich ausbreitet wie dort der Tempel über der Gruppe, wo der Tempel als kirchliches Symbol des Unendlichen und die das biblische Paar, den Hohenpriester, die Frauen und Männer und den angesichts des Gelöbnisses der Jungfrau sein Hoffnungsreis zerbrechenden Jüngling umfassende Gruppe, welche das Leben vertritt, noch getrennt[528] von einander erscheinen, sondern wie eine immer mächtiger aufstrebende heilige Glaubensstimmung, in welche des Lebens Weh und Wonne, Gelöbnis, Hoffnung und Entsagung ihre Einzelexistenzen aufgeben. Wie bei dem Bilde Rafael's, steht bei Liszt die katholisch-kirchliche Färbung im Vordergrund, aber auch bruchloser Glaube, bruchlose Stimmung.

Ebenso wie Liszt's »Sposalizio« an die von Rafael gegebene Idee und Stimmung anknüpft und sie, ohne eine Kopie des Bildes in Tönen sein zu wollen, in Musik übersetzte, ebenso ist sein:


Il Penseroso


keine musikalische Nachbildung der von den Italienern mit diesem Namen getauften Mediceer-Statue Michel Angelo's4: die Idee, welche das Marmorwerk zum Ausdruck brachte – il penseroso – übersetzte, wie dort, sein »hörendes Auge« und »sehendes Fühlen« in Musik. Zunächst knüpft Liszt an den geistigen Gesammtcharakter des Skulpturwerkes.

Die ruhende Stellung, so ganz bei Sich-sein und doch so selbstverloren, mit welcher der italienische Meister seine Statue gleichsam an den »Gedanken« gebunden hat, die edle Haltung, lebenskräftig und doch gehalten von einer geistigen Macht, die jede Linie durchdringt, rhythmisch belebt und doch nicht zu dem Moment des Lebens vortreibt, welchem die That entspringt, hat Liszt in breiten, den tiefen Tonregionen angehörenden Akkorden von männlich edlem, ja erhabenem Charakter ausgedrückt. Ruhig – die Tempobezeichnung des Stückes ist »Lento« –, in gleichmäßigen Takteinschnitten, gewichtig in ihren Folgen, offenbaren sie die den Denker bezeichnende innere Sammlung als Grundlage seiner Geistesstimmung. Zugleich breitet sich über sie ein scharf rhythmisirter[529] Orgelpunkt, dessen Rhythmen, wie gespannt von der Muskelkraft des Gedankens, das Tonstück in Bewegung bringen und zugleich seinen Charakter festhalten, ohngefähr wie das Tempo des Herzschlags den Lebenszustand der Seele angiebt und bestimmt. Und wie die gedankenschwere Stirne, welche Michel Angelo seinem Penseroso gegeben, deutlich genug verräth, daß kein phantasiebewegtes Dichtersinnen hinter ihr ruht, daß hier kein Traum die Gedanken fühlend löst, so bannt Liszt denselben Ausdruck in seine Töne, indem er die strenge rhythmische Bewegung des Orgelpunkts festhält, desgleichen die Psyche der ernsten breiten Klänge der Harmonien in strenger Logik mit keinem Ton sich selbst entweichen läßt.

In beiden Werken, in dem des Bildhauers wie in dem des Musikers, liegt ein durchaus gebunden-ruhiger Ernst: der Ton spricht seinen Inhalt aus, mehr als der Stein. Und wäre auch das Loos Giuliano's, des letzten der alten Mediceer, über dessen Haupt ein schweres Geschick dahin zog, der Nachwelt unbekannt geblieben, die Töne Liszt's würden erzählen, daß ein Menschenloos, welches die schwere Hand des Schicksals auf seiner Schulter fühlt, an dem Gedankenleben »Il Penseroso's« den tiefsten Antheil hat. Wie die Statue Michel Angelo's nicht allein edel, sondern auch männlich ist, so zuckt wohl durch Liszt's Harmonien ein herber Schmerz, aber das Herz stockt nicht und zittert nicht. Der »Gedanke« geht herrschend weiter und weiter, ein basso continuo spricht von mächtig-sinnender Bewegung, die zu religiösem Gefühl wird; doch auch dieses, das religiöse Gefühl, steht unter der Gedankenzucht5 – kein freier Aufschwung, doch auch kein Vergehen desselben spricht sich hier aus. Es hallt in dem Sinnen nach, das wieder in den Vordergrund tritt und ernst, wie es begonnen, zurücksinkt in die männliche Brust.

Liszt's »Il Penseroso«, nur aus 48 Takten bestehend, reiht sich den tiefsten und gehaltvollsten Erzeugnissen auf dem Gebiet der Klaviermusik ein.

Mit diesen beiden Klavierstücken – mit »Sposalizio« und »Il Penseroso« – hat Liszt die Verwandtschaftsidee der Künste, wie sie sich ihm in Italien erschlossen, praktisch dargelegt. Die Art und Weise jedoch, wie er diese der bildenden Kunst angehörenden[530] Stoffe musikalisch wiedergegeben, geht über das specifisch Individuelle hinaus. Mit ihnen hat Liszt ein bis dahin der Instrumentalmusik fremdes Stoffgebiet betreten und gezeigt, daß sie aus jedem Kunstgebiet, welches höhere Ideen in sich trägt, schöpfen kann, wenn sie ihr Geistesohr da anlegt, wo die Psyche der Ideen ihren Sitz hat. Es mag diese Ansicht wohl von Manchen bestritten werden, indem sie einwerfen, daß die Quelle der Instrumentalmusik nur allein und ausschließlich im Gefühl an sich zu finden sei. Das ist wahr und ist ebenso nicht wahr. Es wird immer darauf ankommen, ob man ihr den gesammten ästhetischen Gefühlskreis anweist oder nur den, welcher im Kreis des Unbewußten sich bewegt. Sicher ist es: es giebt Gefühle, die nicht nur subjektive Affekte sind, Gefühle, die nur durch Ideen lebendig werden und aus ihnen herauswachsen, darum aber auch nur durch die Idee zu begreifen sind – das Gefühlsgebiet, welches unsere moderne Musik durch Beethoven zu betreten angefangen hat. Ob diese Ideen aus der Geschichte, aus der Religion, aus der Natur, aus der Zeit, aus der Poesie, aus der Malerei, aus der Skulptur oder der Architektonik dem Komponisten zufließen, wird bezüglich der Thatsache, daß die Musik Gefühle zu ihrer Voraussetzung haben muß, sich ganz gleich bleiben. Nur das bleibt sich nicht gleich – und hierauf beruht der wesentliche Gewinn für die Musik – daß der Ausgangspunkt dieses Gefühlskreises auf die Charakteristik und musikalische Formgebung einwirkt, wodurch er stofferweiternd und formgebend wird.

Liszt hat den mit seinem »Sposalizio« und »Il Penseroso« gefundenen Weg noch öfter betreten, wie seine große symphonische Dichtung »die Hunnenschlacht«, eine nach dem gleichnamigen Gemälde Kaulbach's entstandene Komposition, wie sein »Marsch der heiligen drei Könige« im Oratorium »Christus«, welcher seine Anregung durch ein Gemälde im kölner Dom, die Anbetung der heiligen drei Könige darstellend, und wie endlich seine »Sieben Sakramente«, die ihren ersten Impuls in Overbeck's denselben Stoff behandelnden Bildercyklus gefunden, hinreichend belegen. Jene beiden Klavierstücke sind darum nicht nur allgemeine Nachstimmungen, wie sie das menschliche Gemüth nach bedeutenden Eindrücken in sich trägt. Sie sind mehr als das. Sie sind »schöpferische Keime« auf dem Boden musikalischer Ideen und ihrer Gestaltung. Ähnlich wie Hektor Berlioz durch seinen Anschluß an die Poesie[531] der Instrumentalmusik inhaltliche Schätze aufgedeckt hat, so zeigt Liszt durch sie den Weg zu einer Erweiterung des musikalischen Stoffgebietes nach anderer Seite hin. Die Abdrücke der beiden Bildwerke Rafael's und Michel Angelo's, welche er seinen Kompositionen beigefügt hat, sind nicht mehr und nicht weniger als ein Programm ohne Worte.

Liszt war nicht besonders ostentiös mit seinem Fund, und ebenso schien ihm ganz unbewußt, daß der Instrumentalmusik neue Wege noch aus ihm erwachsen könnten. Erst während seiner Weimar-Periode übergab er sie, seinem »Italienischen Wanderalbum« eingereiht, der Öffentlichkeit, doch ist bis jetzt die musikalische Welt, sowie die Kritik und Ästhetik an ihnen vorübergegangen, ohne sie zu beachten, was leicht erklärlich ist, da sie einerseits kurze Stücke ohne Glanzentwickelung nach Außen sind und andererseits dem konservativ geschulten Ohre wenig bieten, vielleicht nur Skizzen scheinen. Ihre Seele liegt gebunden in der Idee. Erst sie schließt die Stücke auf und läßt einen geistigen Werth aus ihren wenigen Tönen klingen, welchen man bei Form- und Klangstücken, wie sie im allgemeinen von Kritik und Klavierspielern geliebt werden, vergeblich sucht. Besonders ist »Il Penseroso« verschwiegen gegen solche, deren Gefühlsleben der Inklination sich in Verbindung mit Ideen zu bewegen ferne steht.

Die beiden Stücke sind, wie schon gesagt, ein unbewußter Widerhall der Ideen und der Phantasierichtung, welche in Liszt während seiner Italienperiode reifte. In der Fülle, Höhe und Weite ihres geistigen Gehaltes ist der letzte Schlüssel zu seiner Individualität als Künstler zu suchen. Von hier aus erklärt sich vollends, wobei sein ausgeprägtes Gottempfinden und sein heißes Temperament, welche beide wahre Glutströme religiösen Gefühls durch die Adern seines künstlerischen Denkens und Fühlens trieben, als Voraussetzung bleibt, das Strahlende, Großartige und Universelle seiner Erscheinung, mit einem Wort das, was ihn als Menschen und Künstler über alle Sphären des gewöhnlichen Lebens hinausgetragen und ihn Ziele verfolgen ließ, welchen das dem Genie stets nachhinkende allgemeine Bewußtsein nicht immer und nicht sogleich und am wenigsten da hat folgen können, wo dasselbe die Kunstform zu schaffen suchte, welche seinem individuellen Denken und Fühlen adäquat war. Ohne Liszt's Wanderungen durch die Kunstsäle Italiens und speciell ohne seinen römischen[532] Aufenthalt würde der Ausarbeitung seines Geistes der Schlußpunkt gefehlt haben, und unstreitig würden neue Kreise, welche er im Laufe seiner Zukunft der Tonkunst gezogen, unbeschrieben geblieben sein.

Bei allen seinen Kunststudien, welche er in Italien trieb, vibrirte die Musik unter deren Hülle. Rafael und Michel Angelo verhalfen nach den eigenen Worten Liszt's ihm zum Verständnis Mozart's und Beethoven's. Beethoven's! Indem er vor den kühnen und erhabenen Schöpfungen Michel Angelo's stand, verriethen diese ihm die Prophetenworte, welche der deutsche Meister seinen Tönen anvertraut. Liszt hatte über den italienischen Museen seine Partituren nicht vergessen. Sie waren mit ihm nach Italien gewandert, und die Arbeit, welche er in Genf begonnen und in Nohant fortgesetzt hatte – die Symphonien dem Klavier als Klavier-Partituren zu übertragen –, führte er hier weiter fort. Daß dieselbe nicht nur beziehungsreich für seine künstlerischen Ideen blieb, sondern auch in sein speciell musikalisches Denken und Fühlen hineintrat, liegt, da er sie gerade in der Periode vornahm und vollzog, während welcher seine eigene individuelle Ausgestaltung an ihrem Schlußakkord arbeitete, mehr als nahe. Denn indem er mit der Intuition des Genies die Partituren Beethoven's musikalisch und kritisch durchforschte, durchlebte er gleichzeitig bis ins kleinste ihre Schöpfungsgeschichte und, indem er sie auf dem Klavier nachschuf, nahm er an ihr Theil und machte so an der Genesis dieser künstlerisch- organischen Gebilde eine musikalische Geistesschule durch, welche – wenn auch in anderer Art – auf die überschäumende Romantik seiner Jünglingsjahre gewiß ebenso reinigend zurückwirkte, wie das geistige Eintauchen in die unvergänglichen Meisterschöpfungen der großen italienischen Bildhauer und Maler. Dabei legte sie ihm die historische Ader blos, welche den Genius Beethoven's mit unserem Jahrhundert verband.

Liszt hat seine Klavier-Partituren der Symphonien Beethoven's damals beendigt, sie jedoch nicht, wenigstens nicht von Italien aus und nicht alle zugleich, der Öffentlichkeit übergeben, worauf ein anderes Kapitel (II. Band, »Beethoven-Übertragungen«) zurückkommen wird. –

In diesen Klavier-Partituren und in den zwei Klavierstücken seines italienischen Wanderalbums, sowie in einer noch zu[533] besprechenden Liedkomposition liegen Liszt's wesentliche musikalische Äußerungen nach der wiener Koncertepisode. Das eben erwähnte Lied, komponirt im Sommer 1839 (der Text von dem Marchese Cesare Bocelli), ist das überaus reizende, süße Tenorlied:


»Angiolin dal biondo crin«,


in welchem er seine Liebe für seine kleine blondlockige Blandine in rührend inniger Poesie erklingen läßt – mehr ein Gedicht, ein Stück wirklichen Lebens, als eine Komposition. Verdeutscht lauten die Worte nach dem Komponisten und Dichter Peter Cornelius:


Englein hold im Lockengold,

Das zwei Lenze sah entschweben,

Rein und heiter sei Dein Leben.

Englein hold im Lockengold,

Du der Blume schönes Bild.


Zephir mögen Dich umkosen,

Helle Strahlen Dich umkränzen,

Sterne freundlich Dir erglänzen.

Englein hold etc. etc.


Wenn Du schlummerst, wehet sanft

Liebeshauch aus Deinem Munde,

Ahnet keines Leides Wunde.

Englein hold etc. etc.


Süße Wonne, reines Glück

Aus der Mutter Lächeln sauge –

Ihr ein Himmel sei Dein Auge.

Englein hold etc. etc.


Lern' von ihr den holden Zauber,

Wie Natur und Kunst ihn übet:

Nie erfahr', wie Leid betrübet.

Englein hold etc. etc.


Hörst Du meinen Namen nennen:

Mög' er oft vom Mund Dir klingen,

Tief ins Herz der Mutter dringen.

Englein hold im Lockengold,

Du der Blume schönes Bild.


Einen unbeschreiblichen Schmelz von Andacht, Liebe, Tändelei hat Liszt's Musik über diese Poesie gebreitet. Jeder Ton ist hier aus seinem innersten Leben herausgeflossen – keine vorübereilende[534] poetische Stimmung, vielmehr ein Ausdruck seines intimsten Ichs.

Nach rein musikalischer und biographisch-musikalischer Seite ist dieses Lied nicht minder werthvoll. Es ist das erste Lied, das Liszt komponirt hat; zugleich ist es eine Meisterschöpfung von eigenartigem Gepräge. Man könnte vermuthen, daß es, da er es in Italien, dem Lande der absoluten Melodie, und in der Periode komponirt hat, welcher seine vielen Übertragungen italienischer Salonarien angehören, auch in einem wesentlichen Zusammenhang des Empfindens und des Ausdrucks mit der italienischen Musik stünde, doch ist dieses nicht der Fall. Es hat wohl unverkennbare Anklänge an sie, aber nur solche, die in ihrer besonderen Schönheit, in dem Wohlklang und dem südlich weichen, sich in die Seele schmeichelnden Kolorit des Tones liegen. In seiner wesentlichen Konception gehört es dem Geist des deutschen Liedes an, so wie wir es ganz besonders Franz Schubert verdanken, der mit Ausnahme seines Vorgängers Beethoven, bis dahin der einzige und bahnbrechende Liederkomponist geblieben war.

Franz Schubert mit seinem melodischen Anschmiegen an die Poesie des Wortes, hatte sich Liszt tief ins Herz gesungen. Die Bildung und Gliederung der Melodie des Liedes: »Angiolin« knüpft wie bei ihm an den Wortreim und an den Vers. Wie für Schubert, waren sie für ihn formgebend. Seine Melodie gewann hierdurch die wohlthuende Durchsichtigkeit der Form und das Gleichgewicht der Zeit – das letztere insbesondere ein Moment, welches dem musikalischen Lied unserer Gegenwart etwas abhanden zu kommen scheint, aber im Charakter des Liedes liegt, wie der Rhythmus im Wesen der Musik. Eins mit dem Wort und dem Gedicht war Liszt's »Angiolin« doch ganz Musik, wie auch Schubert's Lieder. Aber schon bei seinem Erstlingslied ging er über diese bezüglich der dichterischen Einheit zwischen Wort und Ton hinaus. Der poetische Gehalt der Dichtung tritt bei ihm in weit höherem Maße hervor als bei Schubert, was nicht allein in der so unendlich reichen und vielseitig entwickelten Individualität Liszt's lag, deren Geist ganz andere poetische Widerspiegelungen in sich trug als die des wiener Komponisten, sondern auch in einer erweiterten Behandlung, weniger der Melodie als des Begleitungstheils des Liedes, welchem nach Schubert's Beispiel die Wiedergabe der Poesie des Gedichtes in gleichem Maße anheim fällt wie der Melodie.[535] Schubert hatte durch Kompositionen, wie der »Erlkönig«, »Gretchen am Spinnrad« und andere, die charakteristische Begleitung geschaffen. Das unheimliche Oktaventremolo der Erlkönigbegleitung und das schnurrende Spinnrad Gretchens sind zu historischen Typen charakteristischer Begleitung geworden. Mehr und weniger aber hing dem gesammten begleitenden Theil der Lieder Schubert's die Monotonie der von ihm vorherrschend benutzten strophischen Liedform an.

Liszt hat die strophische Liedform ebenfalls zur Grundlage seines Liedes: »Angiolin« genommen, desgleichen auch wendet sich seine Begleitung zum Charakteristischen, hat aber bei den Wiederholungen der Melodie und Begleitungen durch Varianten, auch durch feinsinnige Veränderung der Tonart und Modulation, welche im Charakter und Wesen des Wortes und des Gedichtes lagen, nicht allein jede Monotonie genommen, sondern auch die strophische Form selbst, ohne daß er dabei den Typus des Liedes verändert hätte, in den Fluß seelischer und poetischer Bewegung und Steigerung gebracht. Diese Varianten bewegen sich in demselben Kreis der Mittel, wie die seiner im vorigen Kapitel besprochenen Liedübertragungen, sind aber, da sie nicht an eine bereits vorhandene Komposition gebunden sind, freier in ihrer Erfindung und Bewegung als dort. Der Begleitung fällt hiebei, wie bei Schubert, eine wesentliche Aufgabe zu. Sie, wie das ganze Lied ist charakteristisch gegeben. Liszt hat es wiegenliedartig komponirt. Melodie und Begleitung tragen diesen Charakter. Beide bewegen sich schaukelnd, wiegend. Und bei beiden zieht durch Flüstern, Tändeln, Singen ein elegischer, von unbewußtem Gebet der Seele durchzitterter Ton. Bei jeder neuen Strophe nimmt die Begleitung, den ursprünglichen Charakter des Liedes beibehaltend, eine andere Wendung an, richtiger wohl ausgedrückt: fließt sie in eine andere hinein. Das ganze Lied erhält so eine psychologische Steigerung, welche die strophische Liedform an sich nicht erreichen kann.

Noch ein anderes Moment, eine individuelle Eigenartigkeit, tritt uns bei diesem ersten Liede Liszt's entgegen. Die Begleitung ist wiegenartig. Der schaukelnde Rhythmus geht durch die ganze Komposition hindurch. Aber es ist keine Imitation der in Bewegung gesetzten realen Wiege, wie dort bei dem Spinnrad mit seinem Schnurren, wo sogar der gleichmäßige[536] es in Bewegung erhaltende Tritt des Fußes mit in das musikalische Bild aufgenommen ist: alles Reale ist vergeistigt, gleichsam von seinen Körperfesseln befreit, in eine höhere Sphäre versetzt. Von hier aus klingt die Wirklichkeit zu uns – einer der Punkte, welcher im allgemeinen diesem Liede Liszt's, wie auch manchem anderen seiner späteren Lieder den Weg zur Popularität im weiten Sinn entgegen steht. Ihr Charakter ist zu geistiger Natur, um vom Durchschnittsmenschen empfunden werden zu können, aber auch nur Ausnahmssänger werden sie seelisch zur Geltung zu bringen vermögen. –

Wie die anderen Kompositionen, lag auch dieses Lied mehrere Jahre in des Komponisten Mappe. Dann kamen im Laufe der Zeit mehrere Ausgaben. Zuerst erschien es in einer Liedersammlung: »Buch der Lieder«6 von Liszt. Hier steht es in der Tonart Adur, und die deutsche Übersetzung des Gedichtes, sehr verschieden von der mitgetheilten, ist vom rheinischen Dichter Philipp Kaufmann. Später, als Liszt seine inzwischen sehr zahlreich gewordenen Liedkompositionen unter dem Titel: »Gesammelte Lieder«7 erscheinen ließ, wurde es dieser Sammlung zweimal, in den Tonarten A- und Fdur – in jener für Tenor, in dieser für Bariton –, beidemal mit einigen Veränderungen einverleibt. Der deutsche Text ist hier von Peter Cornelius.

Hiemit sind die wesentlichen Kompositionen und hierher bezüglichen Arbeiten Liszt's während jener Jahre genannt. Sein Reiseleben war einem Zusammenfassen seiner Kräfte zu Werken von großen Dimensionen entgegen. Nichtsdestoweniger gehören seiner italienischen Periode noch mehrere Skizzen zu Originalkompositionen, sowie auch Übertragungen und Bearbeitungen von Motiven, Themen und Gesängen italienischer Tonmeister an, welche trotz ihres kleinen Genres ihre Unvergänglichkeit behaupten werden. Sie bleiben hier noch zu erwähnen. Theils Arbeiten momentaner Stimmung, theils solche der Courtoisie veröffentlichte sie Liszt derzeit nur soweit sie mit letzterer im Zusammenhang standen, die anderen erschienen – wenigstens in ihrer gegenwärtigen Gestalt – erst in der Weimar-Periode Liszt's.

Zu diesen letzteren zählen noch vier Nummern seines italienischen[537] Wanderalbums,8 deren hier noch zu gedenken ist. Auch sie stehen, wenn auch in anderer Weise als »Sposalizio« und »Il Penseroso«, in Beziehung zu den künstlerischen Geistern Italiens. Nicht Rafael und Michel Angelo, aber Petrarca und Salvator Rosa gaben hier die dichterischen und musikalischen Motive. Von jenem sind es die Sonetten an Laura, deren unvergleichlich schöne Liebesapotheosen Liszt entzückten und zu ihrer musikalischen Wiedergabe trieben, und von diesem, dem berühmten Maler, von dem man sagte, daß er die leidenschaftlichen Farben seines Pinsels mehr romantischem Räuberleben als den Studien im Atelier verdanke, reizte ihn eine Canzonetta zur Bearbeitung für Klavier; denn Salvator Rosa war nicht allein Maler und seiner Zeit nicht nur beliebter Dichter: eine Art naturalistischer Dichter-Musiker gab er seinen Poesien zugleich die passende Melodie mit auf den Weg. Mehrere von ihnen haben sich im Volksmund und in Bibliotheken erhalten. Die Melodie zu den Worten:


Vado ben spesso cangroando loco

Ma non so mai cangiar degiro etc.


ist es, welche Liszt für Klavier bearbeitet hat – ein reizendes Stückchen, volksthümlich und voll frischen, kecken, originellen Lebens! Im italienischen Wanderalbum trägt es den Titel:


Canzonetta del Salvator Rosa.


Drei Sonetten von Petrarca – No. 47, 104, 123 –, welche Liszt damals für eine Singstimme mit Klavierbegleitung zu komponiren begann, blieben nur flüchtige Skizzen, die er erst nach mehreren Jahren – 1846 – ausführte und[538] zugleich dem Klavier übertrug. Sie erschienen, beide Ausgaben früher als das italienische Album,9 beide unter dem Titel:


Tre Sonetti de Petrarca etc.,


worauf Liszt die Klavierübertragung derselben noch einmal – desgleichen seine Canzonetta del Salvator Rosa – unter die inzwischen schärfer gewordene Kunstfeile legte und die sämmtlichen Stücke unter dem schon genannten Gesammttitel herausgab. Hinter den sieben Nummern des italienischen Albums stehen nicht, wie hinter denen des Schweizer-Albums, von der Natur gegebene Eindrücke, sondern die edelsten Geister Italiens: Rafael, Michel Angelo, Salvator Rosa, Petrarca und Dante.

Eine weniger als diese werthvolle, aber ebenfalls in Italien entstandene Sammlung von Klavierstücken – wie sie revidirt, vollendet und publicirt während der Weimar-Periode – sind die drei Stücke:


Venezia e Napoli,10

Gondoliera, Canzone e Tarantelle.


Sie sind wohlklingende und feingeistige Salonstücke, denen venetianische und neapolitanische Weisen eingewoben sind.

Während diese Kompositionen so ohngefähr fünfzehn Jahre in Liszt's Arbeitsmappe ruhten, traten folgende zwei Sammlungen, von denen die eine Themen von Mercadante, die andere Themen von Donizetti zu ihrem Ausgangspunkt hat, gleich nach ihrem Entstehen in die Öffentlichkeit. Die erstere, sechs Nummern enthaltend, erschien unter dem Titel:


Soirées Italiennes.11

Six amusements sur des motifs de Mercadante etc.;[539]


die zweite Sammlung, drei Nummern enthaltend, unter dem Titel:


Nuits d'Été à Pausilippe,12

Trois amusements sur des motifs de l'Album de Donizetti.


Von diesen beiden und dem Rossini-Album sagt ein früherer Biograph13 mit Recht, daß sie die Reinheit und Klarheit der italienischen Natur in sich trügen und klassische Ruhe sie durchwehe. – Die Veranlassung und Zeit ihrer Entstehung ist nicht schwer an den Dedikationen, welche sie tragen, zu entziffern. Das Mercadante-Album ist eine von Liszt der Vicekönigin des lombardisch-venetianischen Königreichs Elisabeth von Österreich und das Donizetti-Album eine der Marquise Sophie von Medici dargebrachte Huldigung. Hier steht der großherzogliche Hof zu Florenz, dort die Villa des Herzogs von Modena im Hintergrund.

Hiemit schließt sich der dem italienischen Boden angehörende Kreis der Kompositionsarbeiten Liszt's ab.14 Unverkennbar tragen sie mehr und mehr den Stempel echter Reife an sich und bekunden eine solche meisterhafte Beherrschung der Mittel und eine so durchgeistigte und durchaus eigenartige Anwendung derselben, daß mit ihnen die Lehrjahre im Leben des Künstlers ihren Abschluß gefunden haben, um den Meisterjahren Raum zu machen.

Liszt, der Italien verließ, war ein anderer, als da er es betrat, und mit Recht konnte er, nachdem er im November dieses Land verlassen, nach Pest an Graf Leo Festetics, welchem er seinen Besuch ankündigte, schreiben:

»Je vous arriverai un peu plus vieulli, plus muri, et, permettez moi de le dire, plus ausgearbeitet als Künstler, que vous ne m'avez connu l'année dernière, car j'ai énormement travaillé depuis ce temps en Italie.«

Fußnoten

1 Es wäre hier wohl auch Mortier de Fontaine mit seinen »historischen« Klavierkoncerten zu erwähnen. Allein seine Programme bewegten sich nur auf dem Gebiet der vor-klassischen Klaviermusik, womit er außerhalb jener großen und größten Virtuosenaufgabe steht.


2 Liszt's »Gesammelte Schriften«, II. Band, Brief No. 11: »Die heilige Cäcilie von Rafael«.


3 Liszt's »Gesammelte Schriften«, II. Band, Brief No. 12.


4 Die Statue Giuliano's, beinahe drei Jahrhunderte hindurch mit der seines Bruders Lorenzo, Herzogs von Urbino, verwechselt, befindet sich im Mausoleum der Mediceer in der Kirche San Lorenzo zu Florenz. – Der am Sockel der Statue eingehauene Vers Michel Angelo's ist jedoch ohne direkte Beziehung zum Herzog von Nemour selbst und steht auch in keiner zu dem Charakter des Marmorbildes. Es ist eine Antwort auf eine Schmeichelei, welche ihm der Dichter Giovanbatista Strozzi über die zum Mediceer-Monument gehörende allegorische Figur: »Die Nacht« gemacht hatte, die aber eingehüllt ist in die dunkle Stimmung welche der Sturz der alten Mediceer in Michel Angelo hervorgerufen.


5 Es tritt in der Form einer sequens auf und symbolisirt hiedurch gleichsam die Gedankenzucht.


6 M. Schlesinger in Berlin, 1842.


7 C.F. Kahnt in Leipzig, 1861.


8 Liszt's: »Années de Pélerinage en Italie« besteht aus sieben Nummern:

No. 1. Sposalizio.

No. 2. Il Penseroso.

No. 3. Canzonetta del Salvator Rosa.

No. 4. Tre Sonetti de Petrarca No. 47.

No. 5. Tre Sonetti de Petrarca No. 104.

No. 6. Tre Sonetti de Petrarca No. 123.

No. 7. Fantaisie quasi Sonata, après une lecture de Dante.

Von ihnen wurden publicirt: die Tre Sonetti 1846 und 1847 von Haslinger; die Gesammtausgabe: 1858 von Schott's Söhnen.


9 1846 erschienen die Übertragungen bei F. Haslinger 1847; ebendaselbst die Gesänge, die eigentlichen Originale. Bezüglich dieser ist zu bemerken, daß die zweite Ausgabe des »Themat. Verzeichnisses« der Werke Liszt's (1877) sie, kassirt vom Komponisten, nicht aufgenommen hat. – Doch ist eine neue Ausgabe zu gewärtigen, indem Liszt die »Tre Sonetti« nochmals in Rom anfangs der siebziger Jahre revidirt und umgearbeitet druckfertig in seinem Portefeuille liegen hat.


10 1861 bei Schott's Söhnen.


11 1838 bei Ricordi in Mailand und Schott's Söhnen in Mainz.


12 1839 bei Ricordi in Mailand und Schott's Söhnen in Mainz.


13 Christern's »Franz Liszt«, Hamburg bei Jul. Schuberth & Co. 1841.


14 Die Zusammenstellung derselben siehe: »Chronologisches Verzeichnis«: Periode Italien.

Quelle:
Ramann, Lina: Franz Liszt. Als Künstler und Mensch, Band 1, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1880.
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