V.

Die Lehren Saint Simon's.

(Paris, 1830–1831.)

Liszt's mangelndes Wissen und ausgleichende Arbeit. Der Einfluß der Saint-Simonisten auf keine künstlerische und menschliche Entwickelung. Abermaligen Auftauchen des Priestergedankens und seine künstlerische Wendung.


»Liszt ist nicht mehr devot«, hieß es nach der Julirevolution in den verschiedensten pariser Kreisen, eine Nachricht, die nicht ohne Sensation die Runde machte. Er war wieder viel in der höheren Gesellschaft, wo er Gräfinnen und Prinzessinnen im Klavierspiel unterrichtete und am Klavier seinen Phantasien in glühender Beredsamkeit freien Lauf ließ.

Aber noch mehr als in diesen Kreisen sah man seine schlanke Jünglingserscheinung unter Künstlern, Dichtern und Gelehrten. In ihrem Verkehr ging ihm eine bis dahin unbekannte Welt auf. Als Knabe dominirte bei ihm die Musik. Seine Intelligenz hatte nur durch sie Nahrung gefunden. Als angehender Jüngling hatte er der Religion sich ans Herz geworfen und den Stimmen der Welt sein Ohr verschlossen. Es war mit Heftigkeit ein allgemein geistiger Gärungsprozeß in ihm ausgebrochen, aber er hatte ihn in eine Charybdis der Lektüre getrieben, aus deren Strudel er sich nur durch erneute Hingabe an seine religiösen Betrachtungen hatte retten können. Und nun hörte er Forderungen des Tages, der Zeit, der fortschreitenden Bildung und der Humanität, die seiner alles mit innerster Erregung und Phantasie aufnehmenden Natur zu Völkerstimmen in der Wüste wurden. Er interessirte sich mit einemmal nicht nur für geistige Materien, sondern auch[151] für die Arbeiten des öffentlichen Lebens. Der große Kampf, welcher dem Mittelstand den socialen Sieg und der Intelligenz die Herrschaft erringen sollte, die von hervorragenden Männern vertretenen Bestrebungen, der Aristokratie des Geistes Stellung im socialen Leben, sowie der Bildung Allgemeinheit zu erobern, die Doktrin und Romantik, welche neue Welten aus dem duftigen Kreis der Phantasie hervorzuzaubern trachteten, die demokratischen und republikanischen Principien endlich, deren fieberhafter Pulsschlag alle Bestrebungen durchdrang, waren Brandfackeln für sein Gedankenleben. Alle diese Dinge berührten ihn bald mehr, bald weniger mit dem Geheimnis eines Problems. Sie waren ihm nicht nur fremd: ihm fehlten auch – dessen wurde er sich mit jedem Schritt bewußter – alle Vorkenntnisse und alle Vorbildung sie zu verstehen. Die mangelnden Gymnasialstudien machten sich ihm drückend fühlbar.

Außer Musik hatte er nichts gelernt als Sprachen, und selbst diese nicht grammatikalisch. Er hatte sie auf seinen Reisen sprechen lernen, wobei sein schnelles Fassungsvermögen, sein merkwürdig sicheres Gedächtnis und sein scharfes, alle Accente richtig fassendes Gehör ihn unterstützt und sie ihm so zu eigen gemacht hatten, als hätte er sie auch grammatikalisch sich angeeignet. Durch Unterricht war ihm kaum ihr elementarer Theil übermittelt worden. Von Geschichte, Geographie, überhaupt von den Realien wußte er nichts. Noch fremder waren ihm die exakten Wissenschaften. Außer seiner Musik besaß er keine andern Kenntnisse als solche, welche er mehr zufällig als erstrebt durch seine künstlerische Laufbahn so zu sagen am Wege gefunden. – Wie mit seinen Kenntnissen, stand es mit seiner Denkbildung. Aber so wenig sein Denken geschult war: es war schnell und fein, Eigenschaften, welche bei ihm nicht wie bei hundert Andern das Resultat der Übung und Schulung waren, sondern der Blitz des Genies, der unmittelbar und unbewußt im Punkte sich entladet.

So, ohne Vorschule des Wissens und Denkens, stand er unter der Brause der Zeit, welche ganze Fluthen der heterogensten Ideen auf die Welt herunter regnete. Daß er diese Ideen nicht immer verstand, lag in der Natur der Sache. Aber das schreckte ihn nicht. Mit bewundernswerther Leichtigkeit und ohne zu er müden bemächtigte er sich der ihm entgegentretenden Schwierigkeiten, die ihm zu einer Fülle von Anregungen wurden sein Denken und[152] Wissen zu erweitern und zu verbessern. Leicht erregt wie er war, konnte ein hingeworfenes Wort, ein frappanter Gedanke ihm zum Anstoß werden einen Haufen von Büchern zu durchfliegen, nur um dieses Wort, diesen Gedanken bis auf seinen Grund erschöpfend kennen zu lernen. D'Ortigue erzählt,1 daß er mit einer unersättlichen Gier die Werke insbesondere seiner großen Zeitgenossen gelesen habe. »Er griff, sagt er, nach ihnen, verschlang sie und las gleichsam das Herz des Schriftstellers heraus. Er las ein Lexikon in derselben unersättlichen rastlosen Weise wie einen Dichter, er studirte in vier aufeinander folgenden Stunden Boiste und Lamartine mit ebenso spähendem Geist wie forschender Anstrengung. Hierauf, wenn er glaubte in den Gedanken des Autors eingedrungen zu sein, ging er zu ihm, um sich aufrichtige Erklärung über seine Ideen zu erbitten.« Da aber die Anregungen in Menge und nach allen Seiten hin an ihn herantraten, so verdrängte schnell eine die andere. Mit ungeduldiger Hast wechselte er noch immer seine Lektüre. Geschichte, Welt- und Staatenkunde, Philosophie, Poesie – er trieb alles, wenn auch nicht gründlich und systematisch, aber doch so, daß die Pointen ihm nicht entgingen. Dabei aber machte die Ungeduld sich geltend, die sowohl mit dem gleichzeitigen Aufnehmen vieler Stoffe verknüpft, als auch Naturen von großer und leicht beweglicher Phantasie eigenthümlich ist. Er wollte wissen und alles kennen lernen. Der Koncertsaal, die Malerei und Skulptur, die Tagespresse, die Tribüne, der Katheder, die Kirche – sie übten eine gleich große Anziehungskraft auf ihn aus. Heute da, morgen dort suchte er den Durst zu stillen, der sich seiner bemächtigt hatte.

In dieser Periode hörte er von einer Sekte reden, welche sich vor einiger Zeit gebildet und dem Anschein nach harmlos ihre Zusammenkünfte in einem Landhaus zu Menilmontant südwestlich von Paris hatte, nun aber große Versammlungen in einem Saal der Rue Monsigny abzuhalten anfing. Die Mitglieder derselben hatten als Sonderlinge wohl hie und da Aufmerksamkeit erregt, aber im Ganzen genommen war man achtlos an ihnen vorübergegangen. Nach den Julitagen aber wurden sie plötzlich, insbesondere in den Künstler- und literarischen Kreisen, der Gegenstand großen Interesses. Diese Sekte waren die Saint-Simonisten.[153]

Halb aus Neugierde, halb aus Wissensdrang, ließ der jugendliche Liszt sich von einem ihrer Obern, von Msr. Barrault, bei ihnen einführen, nicht als Mitglied, nur als Gast. Bald aber fesselten ihn ihre Ideen und Principien dermaßen, daß er nicht allein zu den eifrigsten Besuchern ihrer Versammlungen zählte, sondern auch den Gedanken faßte sich ihnen als Mitglied zu verbinden.

Die Saint-Simonisten standen in diesem Moment noch nicht auf dem gefährlichen Fahrbrett, das in rapider Schnelligkeit sie dem moralischen und socialen Untergang zuführen sollte. Sie standen noch auf dem Boden ihrer ursprünglichen Ideen, aber der Kampf der Parteien von ganz Frankreich um die Früchte der Julirevolution war im Begriff sie in ihre unheilvollen Gewässer zu treiben. Bei ihrem Entstehen mehr eine Socialphilosophie treibende Gesellschaft als eine religiös-socialistische Sekte befanden sie sich nun in dem Stadium, wo ihre Ideen über Menschenrechte und Menschenglück, vollständig eingetreten in Gefühl und Phantasie, zu einer phantastischen Gefühlsmacht anschwollen, die ihre in die Mysterien der katholischen Religionslehren eingetauchten Visionen als neue Heilslehren der unterdrückten und leidenden Menschheit zuriefen. Sie waren an dem Punkt angekommen, wo diese Gefühlsmacht, ganz Hoffnung und Glaube an die eigenen Visionen, durchglüht von dem Wahn am Eingang einer neuen Ordnung der Dinge zu stehen, deren Lösung ihnen von der Vorsehung übertragen sei, Hand anlegte, um diese neue Ordnung ins Leben zu führen. Die der überreizten und erhitzten Phantasie des père Enfantin entsprungenen Proklamationen über die »Emancipation des Fleisches« und der »femme révélatrice« lagen noch unenthüllt in der Zukunft Schoß und hatten nichts gemein mit den eigentlichen Lehren Saint-Simon's.

Letztere, von seinen Freunden zu einem System verarbeitet, das die Grundlage eines Gottesstaates auf Erden werden sollte, waren es, welche den Jüngling anzogen und zum begeisterten Anhänger der Saint-Simonisten machten. Zwei Punkte dieses Systems insbesondere entflammten ihn und verstrickten sein Inneres tief mit demselben: der eine betraf die praktische Ausführung der Hauptlehre des Christenthums, des Gesetzes der allgemeinen Menschenliebe, der andere die Auffassung der Kunst und die Stellung, die es ihr und dem Künstler gegenüber den Kultus- und Kulturaufgaben anwies.[154]

In beiden Elementen, in Religion und Kunst, fühlte sich Liszt in dem Grundton seines Wesens berührt. Noch heiß von der jüngst durchlebten Periode religiöser Überschwänglichkeit, die in eine glühende Sehnsucht nach Enthüllung der das Göttliche und das Leben umschlingenden Mysterien überging, entbrannte diese Sehnsucht an den Hoffnungen und Doktrinen der religiös und künstlerisch gestimmten Welterneuerer zur Flamme, die sein Wesen ergriff und in die Bahnen lenkte, welche die Stürmer und herrschenden Geister der ersten Hälfte der dreißiger Jahre betreten haben. Das socialistische und politische System der Saint-Simonisten, welches die allgemeine Menschenliebe zu ihrem Ausgangs- und Mittelpunkt macht, berührte Liszt tief. »Wie die Liebe Gottes zu den Menschen, so ist die Liebe zu dem Nächsten der Grundton des Christenthums« – das war der Satz, in dem ihre ein neues Gottesreich auf Erden verkündenden Theorien wurzelten, der Boden, auf welchem der von ihnen geträumte neue Staat seinen paradiesischen Bau erheben sollte. Die Menschen sollten glücklich sein und regiert werden durch das Gesetz der Liebe, nicht durch das der Gewalt, nicht durch das des historischen Rechts und des Vorurtheils. Umschlungen von ihm sollten alle Menschen verbunden werden in einem Gott, einem Dogma, einem Kultus. Die Kraft des Einzelnen sollte Allen, die Kraft Aller dem Einzelnen gehören. Der neue Gottesstaat versprach vor allem: die Bürde der Arbeit mit Gerechtigkeit zu vertheilen, Volk und Armuth gegen Unterdrückung und Elend zu schützen und die Rohheit der untern Stände durch veredelnde Bildung aufzuheben.

Diese Proklamationen gewannen insbesondere die Sympathie der von humanen Ideen erregten und einer neuen Weltordnung zustrebenden Gemüther. Liszt's religiöse und ideale Richtung, die seiner Zeit schon durch Chateaubriand's »Réné« von den weltschmerzlichen Stimmungen jener Jahre ergriffen war und den Bruch und Widerspruch zwischen den Idealen des Geistes und der Wirklichkeit des irdischen Daseins bereits mit der Kraft leidenschaftlich erregter Phantasie empfand, hiezu sein von Menschenliebe erfülltes Gemüth, das übervoll war von Mitleid und Sympathie für die Armen, für die Schwachen und Unterdrückten, glaubte hier den Anker einer schiffbrüchigen Welt geworfen zu sehen. Mit der Phantasie, dem Schwung, dem Glauben der Künstlernatur[155] und der emporstrebenden Jugend gab er sich dem Gedanken einer neuen und besseren Ordnung der Dinge hin.

Hatten ihn schon jene Ideen als Grundlagen eines neuen Gottesstaates für die Saint-Simonisten enthusiastisch gestimmt, so wirkten ihre Anschauungen über die Kunst, die Stellung und Aufgabe, welche sie ihr innerhalb desselben anwiesen, geradezu zündend auf ihn. Die hohe Anschauung, welche sie hier entwickelten, die sittliche und positive Stellung, welche sie ihr innerhalb des religiösen und des Kulturlebens einräumten, gab ihrem System im ersten Moment seines Bestehens einen idealen Glanz und eine Anziehungskraft, die namentlich auf Künstler um so intensiver wirken mußten, als auf der Kunst noch der Druck aristokratischer Sonderstellung und – Dienstbarkeit früherer Jahrhunderte lastete. Wie der geistige Antipod des Künstlers, der Bourgeois, nach demokratischer Verfassung in staatlichen und socialen Einrichtungen verlangte, so verlangte auch das künstlerische Bewußtsein der Zeit, daß die Kunst Gemeingut werden und durch den Staat eine ihrem geistigen Gehalt entsprechende Stellung im Kulturleben der Nation einnehmen sollte, Forderungen, denen das bürgerliche régime Louis Philippe's, welches die Kunst nicht nur als überflüssig betrachtete, sondern auch den Gewerben gleichstellte, geradezu entgegengesetzt war, denen aber das System der Saint-Simonisten mit warmem Gefühl für die Würde der Kunst entgegen kam.

Nach ihren Principien waren die Künste die ersten und obersten Mittel, welche zur Erlangung und Erhaltung der auf friedlichen Grundlagen zu erbauenden Gesellschaft zusammen wirken. In tiefer Erkenntnis ihres Wesens waren sie ihnen die Verkörperung des religiösen Gefühls. Ihr philosophisches System gipfelte in den Sätzen: Religion und Künste enthalten das Gefühl des Schönen; Dogma und Wissenschaft erfassen das Wahre; Kultus und Industrie sind die Verwirklichung des Nützlichen.

Es theilte ferner die Kunst in drei sich auf Dogma, Kultus und Religion beziehende Hauptformen ein, von denen Poesie und Musik in nächster Beziehung zum Dogma standen, während die bildenden Künste dem Kultus und die rhetorischen Künste der Religion dienten. Poesie und Musik standen dem Dogma zur Seite, »weil ihr begeisterter Flug die Urgedanken und Empfindungen des Ewigen ahnungsvoll ergreift und in die menschliche Seele einen Strahl der Weltharmonie gießt«.[156]

Nach dieser christlich-philosophischen Auffassung der Kunst konnte letztere nicht sich selbst zum Zweck haben: sie war Mittel zum Zweck. Im Dienste der Religion bestand dieser in der Vervollkommnung des Wesens. Daher kam es, daß innerhalb der gesellschaftlichen Ordnung der Saint-Simonisten der Künstler in die Priesterklasse, welcher die Regierung und das Lehramt zufiel, eingereiht wurde.

In Gesetzgebung und Erziehung erkannten sie die priesterlichen Mittel zur Begründung, Erhaltung und Fortbildung ihres Staates. Der Künstler-Priester war ihnen ein Regierungsagent, der durch den Flug und die Tiefe seiner Gedanken, seiner Harmonien, Bilder und Skulpturen die Sympathien für das Schöne und Erhabene erweckt, nährt und bildet.

Diese ideale Auffassung des Wesens und der Aufgabe der Kunst, welche diese neben die Religion stellt und beide auf das innigste verbunden als Offenbarungen des Ewigen erkennt, berührte Liszt auf das tiefste. Sie traf mit seinen eigenen Empfindungen zusammen, ja sie berührte die geheimsten Erlebnisse seiner Seele. In den Stunden höchsten Aufschwunges der Andacht und des Gebets war seine Kunst, die Musik, die Sprache gewesen, die seinem Gefühl den Ausdruck schaffte, und in den Stunden höchster künstlerischer Begeisterung koncentrirten sich umgekehrt seine Töne in Gottgefühl. Das kam ihm auf einmal zum Bewußtsein und erfüllte ihn mit dem unauslöschlichen Gefühl einer ihm zuertheilten Kunstmission.

Der Gedanke priesterlicher Gottesweihe war noch nicht ganz in ihm erloschen. Und obwohl das Bedürfnis für Weltabgeschiedenheit hinter ihm lag, so lebte doch jener Gedanke noch in ihm. Mit Macht brach er von neuem hervor, aber durch die saint-simonistischen Lehren mit anderer Richtung: er wollte als Priester der Saint-Simonisten seine Kunst in den Dienst der Vervollkommnung des Menschen stellen, in den Mittlerdienst, welcher in der Form des Schönen das Gefühl für das Göttliche am unmittelbarsten erweckt und mit dem Ewigen zusammenführt.

Ein unbestimmbares Etwas aber, zunächst wohl der schwankende Boden, auf welchem die Saint-Simonisten standen, verzögerte die Ausführung dieses Vorhabens. Andere Eindrücke rein künstlerischen und weltlichen Charakters – wir meinen Paganini's Auftreten in Paris, die Ideen der Romantiker und das Leben selbst – traten an ihn heran und stellten sich in erste Reihe. Inzwischen scheiterten[157] die Saint-Simonisten an den falschen Konsequenzen, welchen sie, getrieben von den krankhaften Gedanken- und Gefühlsverirrungen der Zeit, nicht hatten entgehen können. Den Vorwurf staats- wie volksgefährlicher Bestrebungen und sittlicher Korruption, welchen sie am Ende ihres socialen Bestehens auf sich geladen, kann keine Zeit von ihnen hinwegnehmen. Aber ebenso wenig kann eine Zeit die, wenn auch nicht ihnen ureigenen, an die Spitze ihres Systems gestellten Ideen, welche sie mit Schwung des Gefühls und der Phantasie in Scene zu setzen suchten, auslöschen.

Gegenüber der Verwirrung sittlicher Ideen, in welche der romantische Mysticismus des père Enfantin die Saint-Simonisten führte und verwickelte, verhielt sich Liszt mehr passiv. Konnte er sich auch nicht freihalten von den sittlich-kranken Einflüssen der dreißiger Jahre überhaupt, so flossen ihm diese doch mehr aus den literarischen Kreisen zu, mit welchen er nach seiner saint-simonistischen Periode in nahem Verkehr stand, als aus seinem Besuch der saint-simonistischen Versammlungen. Er hatte wohl Enfantin's verwirrenden Lehren, welche in falscher Konsequenz die alle Menschen umschließende Liebe Gottes nicht nur auf die allgemeine Menschenliebe, sondern auch auf die geschlechtlichen Beziehungen übertrug und Freiheit und Liebe in freie Liebe übersetzte, beigewohnt, aber ohne daß sie ihn zum Nachdenken herausgefordert hätten. Er nahm sie naiv auf und ließ sie ebenso an sich vorübergehen. So hörte er père Enfantin's merkwürdige phantastisch-mystische Verkündigung der »femme révélatrice«, welche von Gott inspirirt erscheinen und ihren Platz neben ihm als Päpstin einnehmen werde, um seine Offenbarungen zu bestätigen; er war in der Versammlung, wo man der Erfüllung der Prophezeiung gewärtig feierlich einen Stuhl neben dem Enfantin's aufgestellt hatte und dieser »femme révélatrice« harrte – aber naiv neugierig, ohne Arg und Kritik, folgte er diesen Vorgängen. Seine Gedanken suchten unter den saint-simonistischen Bekennerinnen nach der schönen nicht erscheinenden Inspirirten, wie er später selbst erzählte.

Seine innere Unerfahrenheit ahnte nicht die Folgen der neuen Lehren. Auch war sein Inneres zu wenig für weltliche Leidenschaften geöffnet, als daß zur Zeit sein Gefühl durch sie hätte erhitzt werden können. Nichtsdestoweniger läßt sich annehmen, daß sie in ihm die Linie zwischen der göttlichen Vernunft der Sitte[158] und der Leidenschaft der Natur vom Bewußtsein in die Phantasie verrückten.

Die Religionsrichtung der Saint-Simonisten aber, sowie ihre Kunst und Künstler umfassende Würdigung brachten ihm sein eigenes Wollen zum Bewußtsein und zum Princip; desgleichen gaben sie seiner Kunstanschauung die Grundlage. Daß die Kunst kein menschliches Produkt sei, sondern aus dem Göttlichen herausfließe und wieder in das Göttliche münden müsse, wurde ihm ein Grundsatz für das Leben. Gelangte diese Richtung seiner Kunstanschauung auch erst durch seinen zwei Jahre später erfolgenden innigen Verkehr mit dem Abbé Lamennais – welche Beziehungen in einem anderen Kapitel ihre Darstellung finden werden – zur Klarheit und Bestimmtheit, so haben ihm doch die saint-simonistischen Ideen die Bahn zu derselben geöffnet. Auch die Idee des Mittlerdienstes des Künstlers zwischen dem Göttlichen und der Welt kam ihm von hier aus zum Bewußtsein – ihm ein bleibendes Gesetz. Er war ein Priester der Kunst sein Leben hindurch. Nie hat ein Eigennutz seine Seele befleckt, nie geschah es, daß er seine künstlerischen Dienste einer edeln Sache, seine künstlerische Hilfe Andern entzogen hätte! Die saint-simonistischen Bestrebungen endlich, Religion, Kunst und Wissen mit den modernen Humanitätsideen und den allgemeinen Kulturaufgaben in Zusammenhang und Einheit zu setzen ließen die erste Ahnung in ihm aufflammen über die geistige Zusammengehörigkeit der Künste untereinander, insbesondere aber über die tiefen Beziehungen, welche zwischen der Religion, der Kunst und dem Weltinhalt bestehen.

So hatte Liszt's tastender Geist nach mehreren Seiten hin Halt gefunden. Sein Gesichtskreis war weiter geworden und neue Welten waren ihm entstanden. Die saint-simonistischen Lehren hatten ihm einen nicht zu unterschätzenden Gewinn gebracht, der auch dann nicht an Werth verliert, wenn wir uns der Thatsache erinnern, daß seine Natur den Einsatz des Gewinnes in sich barg. Auf den Inhalt dieses Kapitels zurücksehend, erblicken wir denselben bezüglich seines Charakters in jener Anschauung echt christlicher Liebe, welche die Wirrsale des Lebens auf »friedseligem« Wege – wie Liszt selbst so schön sagte – gelöst sehen möchte, und in dem alles umschließenden Universum das Ziel dieser Liebe sieht. Wir erblicken ihn bezüglich der Kunst in dem demokratischen Gedanken, daß die Kunst für Alle da sei und zur Veredlung der[159] Menschheit diene, daß insbesondere die Musik einen großen Kulturberuf in sich trage, aber ihn noch zu lösen und hier der Künstler vermittelnd einzutreten habe, und endlich, daß in Konsequenz dieser Aufgabe der wahre Künstler, der durch Anlage und Genie von Gott begnadete, sein Inneres ausbilden müsse zur Schönheit. – Es ist unverkennbar: die Saint-Simonisten haben ihm zur Zeit zum ideellen Durchbruch verholfen und sind ihm durch die Verbindung, welche sie zwischen Religion und Leben herzustellen suchten, die Brücke zur Welt geworden.

Liszt's Verkehr mit den Saint-Simonisten hat Viele über seine Beziehungen zu ihnen irre geleitet. Man verwechselte ihre Grundideen mit ihrem Ende und suchte hier den Anknüpfungspunkt für sie. Doch war dieses erst mehrere Jahre später, nachdem die Gesellschaft aufgehoben war. Daß eine irrige Auffassung überhaupt möglich, liegt in dem Umstand, daß mehr die falschen Konsequenzen ihrer Grundideen, als diese selbst zur allgemeinen Kenntnis gekommen sind, anderntheils läßt sich nicht leugnen, daß Liszt durch persönliche seiner Sturm- und Drangperiode angehörenden Extravaganzen dieser Auffassung mehrfach Nahrung gegeben hat. Vielen seiner Gegner ferner war der auf ihm lastende Schein ein willkommenes Mittel den Enthusiasmus, welchen die europäische Welt ihm als Künstler und Menschen so vielfach entgegen trug, herunter zu stimmen. Er hatte der Gesellschaft nie als Mitglied angehört, nur ihren philosophischen Grundideen hatte er gehuldigt. Als jene ihrem Abgrund zueilte, hatte die officielle saint-simonistische Priesteridee bereits in ihm ausgespielt. Andere Ziele standen ihm vor Augen. Jene Quellen jedoch haben manche seiner Biographen zu dem Irrthum verleitet ihn »Mitglied« der gefährlichen Sekte zu nennen, ein Irrthum, welchen auch Gustav Schilling's Biographie Liszt's (1844) aufgenommen, was letzteren seiner Zeit zu folgender brieflichen Erklärung an Schilling veranlaßte: »Zwar hatte ich die Ehre, schrieb Liszt, mit mehreren Anhängern des Saint-Simonismus näher befreundet zu sein, besuchte ihre Versammlungen und hörte ihre Predigten, aber trug nie den bekannten blauen Frack, noch weniger die spätere Uniform. Der ›Gesellschaft‹ als solcher, welcher ich auch nie einen Dienst erwiesen, gehörte ich sonach weder officiell noch inofficiell an. Heine und Mehrere, obgleich kompromittirter und kompromittirender, waren in demselben Fall.«[160]

Die Sticheleien über Liszt's Saint-Simonismus, welche Heine's Schriften enthalten und die manches zu falschen Auffassungen beigetragen haben, waren mehr der Ausfluß momentaner Verstimmung, auch persönlichen Ärgers auf Liszt, als der Ausdruck von Heine's wirklicher Meinung, die er vielfach in seiner genialen und nur ihm eigenen Weise als pariser Kunstreporter, sowie als Poet ausgesprochen hat.

Als Liszt sich noch mit dem Gedanken der saint-simonistischen Priesterwürde trug, trat eine Künstlererscheinung in Paris auf mit so überwältigendem Eindruck auf ihn, daß jener Gedanke, abgesehen von seiner durch die Auflösung der Saint-Simonisten unmöglich gemachten Verwirklichung, nicht nur in den Hintergrund trat, sondern auch sich von selbst aufhob. Diese Erscheinung war Nicolo Paganini.

Fußnoten

1 Gazette musicale de Paris, 1834.

Quelle:
Ramann, Lina: Franz Liszt. Als Künstler und Mensch, Band 1, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1880, S. 151-161.
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