II.

»Elisabeth«, »Christus«, »Stanislaus«.

Oratorien.


Liszt's römische Periode zeigt sich in ihrem Resultat für die kirchliche Tonkunst als die gesteigerte, geklärte und zur Vollendung geführte Fortsetzung der Werke seiner Weimarepoche. Sie birgt den Kulminationspunkt seines Schaffens, das naturgemäß mit der Kirchenmusik abschließen mußte.

Ihre sämmtlichen Schöpfungen sind durchweht von tief-religiösem Ernst, der auch die weltlichen berührt. Im Ganzen tragen sie den Stempel kirchlichen Geistes. Derselbe bekundet sich nicht allein in der Wahl der Stoffe, sondern vor allem in jener Erhabenheit, welche sich über menschliche, außerhalb des religiösen Gefühlslebens kreisende Leidenschaften frei bewegt und ihnen da, wo sie stoffbedingt auftreten, die Begrenzung, Haltung und Farbe giebt, ohnen ihnen die Wahrheit und Kraft des Ausdrucks zu bleichen oder ihnen ihr Heimathsrecht zu entziehen.

Beide kirchenmusikalische von dem Meister betonten Richtungen (S. 399. u.f.) fanden in großen, in sich abgeschlossenen Werken neuen und unvergänglichen Ausdruck. Die »oratorisch« genannte Richtung aber gelangte erst jetzt zur vollen Ausprägung ihres Charakters, als auch zur Entfaltung ihrer Gattung, welche in den Oratorien Höhepunkt und Ziel gewann. Dem Oratorium selbst aber schuf er eine Form, von dem historischen Oratorienstyl – durch Händel und Mendelssohn vertreten – so verschieden, wie die Form seiner Messe von dem traditionellen Meßstyl. Ein anderer Ausgangspunkt –: ein anderes Fundament.

Die Jahre 1861–1869/70 waren die fruchtbarsten der Romperiode.[442] Sie brachten das Oratorium »Die Legende von der h. Elisabeth«, das Oratorium »Christus«, die Ungar. Krönungsmesse,1 das Requiem2 hervor. Daneben »Neun Kirchen-Chor-Gesänge,3 die Ausarbeitung und letzte Gestaltung der Missa choralis, der Psalmen,4 die Komposition des Sonnen-Symnus, der Beethoven-Kantate u.a., Orgelkompositionen, Übertragungen und Revisionen, desgleichen solche für Klavier, unter ihnen die beiden einzig dastehenden großen Legenden: »die Vogelpredigt« und »der h. Franciscus von Paula auf den Wogen schreitend«, welche der Klaviermusik oratorische Elemente in Styl und Ausdruck zugeführt haben.

Die genannten Oratorien sind die Hauptträger der Schlußperiode. Wie ich es schon ausgesprochen habe, erreicht die bahnbrechende Schaffensausgabe des Liszt'schen Genius in ihnen ihr Endziel und ihre Abrundung.

Sie eröffnen der ganzen Gattung neue Wege, man kann sagen: eine neue Welt, die bezüglich des Stoffes eine Erweiterung, bezüglich der Form eine Neugestaltung und bezüglich der Mittel eine Universalität in sich schließt. Ohne die ihnen vorausgegangenen symphonischen Dichtungen, und den in der Graner Festmesse angeschlagenen neuen kirchlichen Ton, dürften sie schwer erklärbar bleiben. Denn sie bilden gewissermaßen die Einheitsform seiner auf beiden Gebieten bereits zur Erscheinung gekommenen Kompositions- und Stylprincipien, die, jetzt das Oratorium erfassend, sich in ihrem ganzen Umkreis wiederholen und ihr Reformwerk in harmonischer Verschmelzung ihrer selbst von neuem beginnen.

Die »Elisabeth« führt der Kirchenmusik in der christlichen Legende eine neue Stoffwelt zu, die sich entdeckungsartig zur Kirche im gleichen Sinne verhält wie Richard Wagner's Benutzung der germanischen Sage zur Bühne. Der »Christus« entnimmt seinen textlichen Stoff neben der Bibel, dem christlichen Kult späterer Zeit und zwar in Texten, welche das Leben Christi und die Christusidee zum Ausdruck bringen. Beide Oratorien sind Träger von Ideen; das eine verherrlicht die christliche Barmherzigkeit und Duldung, das andere die Welt und Menschheit erlösende Macht der Liebe durch Christus. Beide bauen sich, in Personen[443] verkörpert, gewissermaßen geschichtlich auf, indem sie in großen Zügen die Hauptmomente aus dem Lebenslauf der die betreffende Idee repräsentirenden Heldin, oder des Helden, von ihrer Kindheit bis zu ihrem Tode, ja bis nach demselben in der Nachwirkung der betreffenden Idee, zum Ausdruck bringen. Beide lassen sich musikalische Biographien höchsten Styles nennen.

Was den letzteren – den Styl – anbetrifft, entspringt er dem dichterisch-freien Gestaltungstrieb Liszt's und dem von ihm untrennbaren dramatischen Element, das oratorischerseits wohl nur bei einigen Stellen der Matthäuspassion Joh. Seb. Bach's gleich mächtig pulsirt hat. In Liszt's Schaffen lag es vom Anfang an wie eine die Formen treibende Urgewalt. Die Spitzen seiner Werke bekunden es scharf ersichtlich: seine »Faust«- Symphonie zog das Drama in die Tonlyrik; die Missa solemnis gestaltete sich zum dramatischen Akt des Kultus; jetzt – im Oratorium – schafft es dem Epos die dramatische Zuständlichkeit, erhebt es sogar in der »Elisabeth« zum »geistlichen Drama«.

Gerade der letztere Umstand weist diesem Oratorium noch eine besondere, im genannten Wort schon angedeutete Stellung an. Man vergegenwärtige sich, daß die »Elisabeth« Vielen unter uns ebenso von der Bühne wie von der Kirche aus bekannt ist. Die Bezeichnung als »geistliches Drama« stammt aus H.v. Bülow's Mund.5 Er gab sie gelegentlich der ersten Aufführung der »Elisabeth« und eilte damit dem Gedanken und dem Versuch einer scenischen Darstellung um zwanzig Jahre voraus. Wie richtig sie war, hat die Zeit bestätigt, ohne daß diese darum der »Elisabeth« ihr Anrecht auf das Oratorium hätte nehmen oder schmälern können. Sie wird seit einer Reihe von Jahren mit gleichem Erfolg als Oratorium in der Kirche, wie als geistliches Drama auf der Bühne aufgeführt. In ihrer Doppelseitigkeit aber liegt etwas wie eine künstlerische Offenbarung. Der Meister schuf die »Elisabeth«, ein Oratorium im Sinne, ohne im geringsten an eine scenische Aufführung zu denken. Diese ergab sich als eine natürliche Folge des Charakters des Werkes und zwar zur nicht geringen Überraschung ihres Komponisten, so, daß sich sagen läßt: das geistliche Drama entfiel wie im Traume seinem Genius. Die doppelseitige Eigenschaft des Werkes aber führt zu dem Schluß, daß seinem Wesen nach das Oratorium die[444] Geburtsstätte des geistlichen Dramas werden mußte und dieses – ebenfalls seinem Wesen nach – in ihm ruht und in ihm bleibt. Das besagen schon die Chöre, in welchem die epische Grundbestimmung des Oratoriums, folglich auch die des geistlichen Dramas, liegt, im Gegensatz zu dem weltlichen Drama, das seinen Ausgang im Einzelgesang gefunden, in der Oper wurzelt und auf den dramatischen Fortgang hinweist. Liszt hat die epische Grundbestimmung in der »Elisabeth« festgehalten, und selbst die epische Grundstimmung gewahrt. Sie durchweht seine Dramatik und giebt ihr die Haltung durch den in ihr waltenden religiösen und kirchlichen Geist.

Liszt's »Elisabeth« ist das erste geistliche Drama auf dem Gebiet der Musik und wird, soweit sich vorausblicken läßt, die Ahne dieser Gattung sein. –

Bezüglich der Ausdrucksmittel repräsentiren beide Oratorien eine die höchste Harmonie erreichende Ineinsbildung und Verschmelzung von weltlichen und liturgischen, modernen und altkirchlichen Elementen, wie bei der Dante-Symphonie, den Messen und Psalmen. Dabei aber ist der Instrumentalmusik, im Vergleich mit den Oratorien früherer Meister, die Aufgabe erweitert und erhöht. Liszt stellt sie als oratorisches Ausdrucksmittel gleichberechtigt neben die Vokalmusik und überweist ihr mit dieser die textliche Wiedergabe in weitester Ausdehnung, indem er die Darstellung einzelner Lebensmomente, sogar ganzer Lebensepisoden, dem Orchester anweist und in symphonischen Sätzen durchführt. Wir begegnen solchergestalt Sätzen epischen Charakters: die beiden die Kindheit des Herrn betreffenden Pastorale im »Christus«, der Dreikönigs-Marsch (ebendas.), der Kreuzritter-Marsch in der »Elisabeth«; mystischen: das Rosenwunder (ebendas.); malerischen: der Sturm in der »Elisabeth«, der Seesturm im »Christus«; lyrischen: Tristis est anima mea – »Meine Seele ist betrübt bis in den Tod«, ebenfalls in letzterem, u.a.

Alle diese Sätze enthalten Momente und Episoden, welche die Vokalmusik weder als Chor noch als Gesangssolo theils gar nicht oder theils nur beschränkt zum Ausklang bringen könnte, da sie überwiegend im phantastischen Helldunkel unserer Vorstellung leben und sich dem konkreten Wort gewissermaßen entziehen. Müssen sie daher als eine für die inhaltliche Erweiterung des Oratoriums glückliche Eingebung bezeichnet werden, so erscheint es geradezu als eine[445] höchste künstlerische Inspiration, daß der Meister den Satz, welcher das schmerzliche Ringen des Herrn am Ölberg zum Inhalt hat – ein Ringen, das als psychologischer Vorgang gefaßt, in der Innerlichkeit der Seele bleibt, im Wesentlichen dem Orchester übergab. Dieses Hereinziehen der symphonischen Kunst in das Oratorium ist sicher von großer Folgewichtigkeit, nicht allein bezüglich einer universellen Zusammenfassung der musikalischen Mittel zu Gunsten seiner inhaltlichen Erweiterung, auch bezüglich der symphonischen Kunst als solcher –: denn wer kann sagen: ob in diesen Fällen geistlicher Stoffe nicht ein Hinweis liegt auf eine zukünftig zu erblühende »geistliche Symphonie«? – Jedenfalls aber wird man ästhetischerseits von nun an von einer »oratorischen Instrumentalmusik« sprechen können.


»Die Legende von der heiligen Elisabeth.«6


Oratorium nach Worten von Otto Roquette.

(Sr. Majestät Ludwig II. König von Bayern.) –


ging dem »Christus« voraus. Ihre Veranlaßung bot die Wartburg-Feier im Jahre 1867, die dem 800 jährigen Bestehen dieser historisch bedeutsamen Thüringer Burg galt, deren eben beendete, so sinnig wie künstlerisch durchgeführte Restauration zu einem Doppelfeste aufforderte. Der Großherzog Alexander von Weimar regte bei Liszt das Oratorium an.

Die Textdichtung von O. Roquette lehnt sich an die die Wartburg schmückenden Fresken Moritz Schwind's, welche Scenen aus der Legende der in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts hier waltenden edlen und frommen Landgräfin Elisabeth darstellen. Nach diesen Wandbildern theilt sie sich in sechs Abschnitte, von denen wieder drei und drei zu einem Theil verbunden sind. Das Oratorium zerfällt in zwei Theile.

Erster Theil. Der I. Abschnitt des Textes schildert die Ankunft der Elisabeth auf Wartburg. Das ungarische Königskind, Tochter Andreas II., bereits von der Wiege an dem künftigen Landgrafen zur dereinstigen Gemahlin bestimmt, wird, geleitet von ungarischen Magnaten, der Obhut des Landgrafen Hermann – dem Vater des Knaben Ludwig – übergeben und von ihm und dem Volke (Chor) bewillkommt. Das bräutliche[446] Paar begrüßt sich; mit Kinderspielen und -Chor huldigt die Jugend. Eine wiederholte Bewillkommnung des Chors schließt diesen Abschnitt. Sein Verlauf faßt sich – nach der Partitur – wie folgt zusammen: a) Bewillkommnung des Volks und des Landgrafen Hermann; b) Ansprache des ungar. Magnaten und Einstimmung des Chors; c) Erwiderung des Landgrafen Hermann; d) Erstes Mittheilen Ludwigs und Elisabeths; e) Kinderspiele und Kinderchor; f) Wiederholte Bewillkommnung des Chors. – II. Ludwig. Der 1. Abschnitt bildet die Exposition der vorliegenden Legende, dieser leitet – obwohl verdeckt – das bittere Geschick Elisabeths in dem Rosenwunder, dem Kernpunkt dieses Theiles, ein, das auch bereits auf ihre künftige Glorie hindeutet. Zwischen dem ersten und zweiten Abschnitt liegen Jahre.

Beide sind vermählt und die mildthätige Elisabeth hat sich zur Charitas der Hungernden und Armen ent wickelt, welchem Thun Ludwig hatte Einhalt gebieten müssen. Jetzt (II.) ereignet sich, daß er, dem Weidwerk obliegend, seine Gemahlin vermummt auf einsamem Pfade erblickt, die trotz seines Verbotes ihrem frommen Werke nachgeht. Auf seine Frage: was sie im Körblein berge? erwidert sie erschrocken. »Ich pflückte Rosen im Geheg'.« Und siehe! – die Engel der Armen und der barmherzigen Liebe beschützten sie: Rosen, blühende, duftende Rosen statt Wein und Brod erschaute Ludwig. Sie bekennt ihre Lüge – aber das Rosenwunder hat sie geheiligt und Beide vereinen sich im Gott dankenden und preisenden Gebet. – Die Bezeichnungen der Unterabtheilungen heißen: a) Jagdlied; b) Begegnung Ludwigs und Elisabeths; c) Das Rosenmirakel; d) Danksagungsgebet Ludwigs und Elisabeths mit Zufügung des Chors. – III. Die Kreuzritter. Ein Zug von Kreuzrittern fordert Ludwig auf, sich ihnen anzuschließen. Dieser, fromm wie Elisabeth, erblickt hierin einen Ruf Gottes und folgt ihm, nachdem er seiner Gemahlin als Herrin von den Zurückbleibenden hatte Treue geloben lassen. Die Momente dieses Abschnittes sind benannt: a) Chor der Kreuzritter; b) Recitativ des Landgrafen Ludwig; c) der Abschied Ludwigs von Elisabeth; d) Chor und Marsch der Kreuzritter.

Zweiter Theil. IV. Landgräfin Sophie. Die Nachricht, daß Ludwig im Kampf gegen die Sarascenen gefallen, macht Elisabeth zur Herrin der Burg. Seine Mutter, die harte und herrschsüchtige Landgräfin Sophie, aber neidet sie darum und reißt[447] mit Hülfe ihres Seneschals noch in selbiger Nacht die Macht an sich, indem sie die mit Schmerz um ihren Gemahl erfüllte Elisabeth nebst ihren Kindern unter furchtbarem Donner und Sturmesgeheul zur Burg hinaus ins Obdachlose stößt –: a) Dialog der Landgräfin Sophie mit dem Seneschal; b) Klage der Elisabeth; c) ihre Vertreibung aus Wartburg; d) Sturm. – V. Elisabeth. a) Gebet; b) Heimaths Traum und Gedenken; c) Chor der Armen, Stimmen der Werke der Barmherzigkeit; d) Elisabeths Hinscheiden; e) Chor der Engel. – VI. Feierliche Bestattung der Elisabeth. – Der Schluß handelt von der auf Befehl des Papstes Gregor IX. in der Kathedrale zu Marburg (1235) erfolgten feierlichen Kanonisirung Elisabeths –: a) Rekapitulirung der Hauptmotive als Orchester-Interludium; b) Der Kaiser Friedrich II. von Hohenstaufen; c) Trauerchor der Armen und des Volks; d) Aufzug der Kreuzritter; e) Kirchenchor; Ungarische und deutsche Bischöfe. –

Die ersten musikalischen Skizzen der »Elisabeth«-Legende fallen in die Weimarepoche, in das Jahr 1858,7 wenn nicht 1857. In diesem Jahre wenigstens bestimmte sich Liszt für den Roquette'schen Text, den ihm der Großherzog nach Aachen zur Durchsicht gesandt – damals, als er die »Ideale« niederschrieb. Nach einer mehrjährigen Pause erfolgte die Wiederaufnahme der Komposition zu Rom. Sie ist die erste große unvergängliche Frucht seiner Zurückgezogenheit vom künstlerischen Weltgetümmel. Er vollendete sie gegen Ende Juli 1862. Der Klavierauszug und die Übertragung der instrumentalen Sätze8 für Klavier schlossen sich bis gegen Ende August der Partitur an.

Liszt's musikalische Erfassung des im Sinne eines Oratoriums gedichteten und doch durch Anlage und dramatischen Aufbau über die Epik eines solchen hinausgehenden Textes entwickelte die dramatischen Momente desselben zu dem Höhepunkt, der das Werk als »geistliches Drama« erkennen ließ. Sein dichterischer Geist vertiefte die dramatischen Keime und führte sie mittels seiner thematischen Verknüpfung, seiner scharfen Charakteristik der Situationen, der Personen, der Handlungen und – als innersten Lebensnerv des Kunstwerks – durch die Wahrheit und Kraft der Empfindung,[448] der Zeichnung und des Kolorits zur dramatischen Gestalt vor. Die Personen sind ausgezeichnete Individualitäten voll Leben und Blut, Eins mit ihren Handlungen, Eins mit sich selbst. Elisabeth, die Heiligkeit in sich: die verkörperte. Barmherzigkeit und das innig tief empfindende Weib; Ludwig: der fromme Ritter; die Landgräfin Sophie: die Mensch gewordene Härte. – Selbst die Nebenpersonen treten als charakteristische Gestalten vor uns hin –: der Landgraf Hermann und der ungarische Magnat: das Bild ritterlicher Treue und Biederkeit; der Seneschal: das Bild des wankelmüthigen Fürstendieners; Friedrich II.: das der Kaiser- und Christenwürde.

Nicht minder hoch in der Zeichnung, dramatisch lebensvoll, stehen die Chöre. Aus der Situation herausgewachsen und sie charakterisirend, wie der jubelnde. Bewillkommnungsgruß des Fürstenkindes auf Wartburg (I. Abth.), der ergreifende Chor der Armen mit den Stimmen der Barmherzigkeit am Sterbelager der frommen Dulderin nebst dem überirdischen Frieden athmenden Engelschor, der ihre Seele gleichsam der Himmelspforte entgegenführt (V. Abth.), desgleichen die verschiedenen Chöre bei der Bestattung der Heiligen, individualisiren einige andere ganze Zeitstrecken des Lebens und der Geschichte, wie der rivallose Kinderchor (I. Abth.), in dem sich der naiv-heitere Jugendgeist in sonnig idealem Glanze eine Verkörperung geschaffen, der Kreuzritter-Chor, den die christlich-glühende Atmosphäre einer Kulturepoche durchweht, die sich von da dem ganzen Oratorium mittheilt, die verschiedenen kirchlichen Schlußchöre – unter ihnen die das deutsch- und das ungarisch-nationale Element durch die Bischöfe vertretenden –, nicht zu vergessen.

H.v. Bülow beschränkt in seinem schon einmal berührten »Elisabeth«-Aufsatz mit Recht die »Elisabeth« als Drama auf die ersten fünf Abtheilungen, und sieht in der sechsten Abtheilung – in der Bestattungsfeierlichkeit – einen »vokalen und instrumentalen Epilog im Gegensatz zur Instrumentaleinleitung, dem Prolog des Werkes«. Doch dürfte dieser episch-oratorische Abschluß mit seinen betrachtenden Chören kirchlichen Geistes, besehen vom Standpunkt des geistlichen Dramas, ebensowohl der Ausprägung des Wesens und der Form des letzteren zufallen.

Als einer Eigenart der Liszt'schen Legende sei im Vorübergehen des charakteristischen und stimmungsvollen Kolorits der[449] Harmonien und Instrumentation der Abschnitte gedacht, das einem jeden für sich eine Einheit verleiht, die sowohl den epischen Grundton des geistlichen Dramas festhält, als auch deren ersten Ausgangspunkt – die Bilder von Moritz Schwind – sichtbar und fühlbar läßt. Der I. Abschnitt ist ganz von Sonnenstrahlen umgeben, von Sonnenlicht durchwärmt; – der II.: ein Halbdunkel von der erquickenden Frische einer Waldlandschaft mit duftendem Rosengesträuch, dem das Rosenwunder entblüht; – der III. trägt Ernst und Gluth der Farben: der Burghof gefüllt mit den Gestalten der Kreuzritter; – der IV.: Elisabeths Vertreibung, ein Nachtbild, von Blitzen durchzuckt; der V.: dumpf, trüb und doch unendlich mild und licht: der Tod Elisabeths; – und endlich der VI.: hehrer Glanz, feierlicher Vollton. –

Der thematische Theil des Werkes beruht im Wesentlichen auf zwei Haupt- und mehreren Haupt-Nebenthemen. Der Meister entnahm sie zu Gunsten des historischen und nationalen Stimmungskolorits dem liturgischen Kirchen- und dem ungarisch-nationalen Melodienschatz. Das dem kirchlichen Elisabeth-Kultus »In festo sanctae Elisabeth« angehörende erste Hauptthema fällt


I. (Orchester-Einleitung.)


2. »Elisabeth«, »Christus«, »Stanislaus«

in frühere Jahrhunderte.9 Es nimmt den vornehmsten Platz im ganzen Werke ein und durchdringt es von A bis Z. Wie eine Überschrift steht es an der Spitze der Legende, wo es, harmonisch verarbeitet, in kunstvoller Stimmenverwebung zur Orchester-Einleitung sich gestaltet, die zu den bedeutendsten und eigenartigsten Ouvertüren der nach-Beethoven'schen Zeit zählt und nur neben R. Wagner's Dramen-Einleitungen genannt werden kann. H.v. Bülow erblickt in ihr das in Tönen entrollte Bild der Heldin, dessen rührende Melodie hier gewissermaßen das Leben der Heiligen vor uns durchlebt.[450]

Identificirt mit Elisabeth selbst, stehen die verschiedenen Gestaltungen des Elisabeththemas im Widerschein ihres Geschicks, oder richtiger gesagt: sie werden zum charakteristischen Ausdruck, zum Träger desselben. Der Sonnenschein, das Rosenwunder, der Trennungsschmerz, die Sturmscene, die Verklärung auf dem Sterbelager und endlich die Verherrlichung der edlen Dulderin bis zur Apotheose volksthümlichen Kirchengesangs finden in ihm ihren thematischen Ursprung. In früher nicht gekannter, alle Theile durchdringender dichterischen Einheit erkennen wir überall dieselben keuschen, erst in Licht, dann in Leid getauchten, dann in Verklärung erstrahlenden, dann von Jahrhunderten geheiligten seelischen Züge dieser christlichen Heldin der Barmherzigkeit und frommer Duldung.


II. Ungar. Volksmelodie.


2. »Elisabeth«, »Christus«, »Stanislaus«

2. »Elisabeth«, »Christus«, »Stanislaus«

Das II. Hauptthema – eine echt magyarische Melo die – vertritt das ursprüngliche Vaterland Elisabeths. Es durchläuft ebenfalls einen von ihrem Schicksal bestimmten Gestaltungsproceß, indem es die Situationen gleichsam reflektirt, aber auch ihren seelischen Strahl auffängt und leitmotivisch verkörpert. Ihm entstammen die Motive des Magnaten (I. Abschnitt), der jubelnde Refrain des Bewillkommnungschores:


»Es herrsche lang und leb' in Ehren

Das theure Pfand des Ungarlands!« –;


desgleichen ertönt es (IV. Abschnitt) hoheitsvollen Ausdrucks in der ergreifenden Scene mit der Landgräfin Sophie, als diese Elisabeth befiehlt, die Burg zu verlassen und sie ihr entgegnet:


»Du willst wie eine Bettlerin

Vertreiben mich aus diesen Thoren?

Von Ungarns Königstamme bin

Als Fürstin ich geboren.« –


Edel und ruhig begleitet es (unter dem Heranziehen des Gewitters) Elisabeths Verlassen der Burg. Rührend schwebt es an ihrem Sterbelager (V. Abschnitt) wie eine Vision vorüber:[451]


»O Kindheitstraum! Erinnerung zeigt

Mir plötzlich längst vergeß'ne Zeiten.« –


und begleitet ihr Gebet fürs Vaterland. Im Schlußtheil endlich (VI. Abschnitt), beim Eintritt der ungarischen Bischöfe, wird es zum Hymnus der Anbetung:

Die von dem Meister seinem Werke angeeigneten Nebenthemen sind ebenfalls zwei: das eine ein ungar. Kirchenlied des Elisabethkults,10 das andere ein – der Annahme nach – den Kreuzzügen entsprossenes Pilgerlied, dem sich eine gregorianische Intonation anschließt. Das erste der Nebenthemen:


Ungar. Kirchenlied zur h. Elisabeth.


2. »Elisabeth«, »Christus«, »Stanislaus«

2. »Elisabeth«, »Christus«, »Stanislaus«

gab (V. Abschnitt) dem Armenchor bei dem Dahinscheiden der Elisabeth kirchlich-historische Motive. Es leitet (VI. Abschnitt) das Orchester-Interludium der Bestattungsfeier ein und tritt nochmals in den Vordergrund, verarbeitet mit dem Trauerchor der Armen und des Volks.

Die Melodie des Pilgerliedes:


2. »Elisabeth«, »Christus«, »Stanislaus«

2. »Elisabeth«, »Christus«, »Stanislaus«

dem Kreuzritter-Marsch als Trio inkrustirt, verleiht diesem historische Wahrheit der Stimmung, dem Werke selbst einen großen historischen Hintergrund. Im Orchester-Interludium des Schlußtheils findet es eine nochmalige Verarbeitung. – Die[452] greorianische Intonation aber, 2. »Elisabeth«, »Christus«, »Stanislaus« die im gregorianischen Gesang sehr haüfig zu finden ist,11 bildet das Hauptmotiv des Kreuzritter-Chors, sowie des Marsches. Es ist dasselbe Motiv, welchem der Meister mehrfach »als Symbol des Kreuzes« bei seinen Werken (Dante-Symphonie, Graner Messe, »Hunnenschlacht«, »Der nächtliche Zug«) einen Ideen tragenden Platz angewiesen hat.

Neben dem bekannten thematisch transformirenden Principe Liszt's macht sich in der »Elisabeth« auch das leitmotivische bemerkbar, worin unverkennbar Spuren des Einflusses Wagner's liegen, aber noch – wie z.B. im »Lohengrin« – nur mehr ahnungsweise, einem dramatischen Fluidum gleich; denn als herrschendes Princip hier auf dem Boden des Oratoriums und des geistlichen Dramas sind beide Arten ein Erstlingsreis zu einer psychologisch-dramatischen Verknüpfung und Vertiefung des Stoffes und seiner Theile.

Die Thematik des Oratoriums


»Christus«12


nach Texten aus der h. Schrift und der kath. Liturgie, für Soli, Chor, Orgel und großes Orchester. –


beruht auf gleichem Princip, ist aber hier bei aller Freiheit der Bewegung mit einem Ernst, einer Strenge und Schärfe der Logik, auch nach rein-musikalischer Seite, durchgeführt, daß wir keinen Moment zaudern, es als den Inbegriff des Liszt'schen Schaffens zu bezeichnen. Der Christus-Stoff ist ein so hoher, so gewaltig Göttliches und Menschliches umfassender, so vom Anfang der Dinge an in die Ewigkeit hineinragend, daß jeder andere Stoff vor ihm zurückweicht. Keiner – mit Ausnahme des heiligen Meßtextes – ist so außer uns und in uns zugleich, so objektiver Gedanke und ebenso subjektives Gefühl. Keiner bindet, wie er, und keiner befreit, wie er. In jedem seiner Einzeltheile heischt er vom Künstler Vertiefung der Idealität als solcher.[453]

Diese eben genannten Charaktermomente in ihrer Einheit auszusprechen, scheint der Leitstern des Meisters bei dem Entwurf oder der Wahl und Durchführung seiner Themen gewesen zu sein. Den Grundstoff derselben erblickte er in der alt-liturgischen (gregorianischen?) Weise zu dem »Rorate coeli« – »Thauet ihr Himmel« des Propheten Jesaias, mit gleichlautendem Motiv (I) in der Osterhymne »O filii et filiae!« Von hier stammen die Hauptmotive seines Werkes, die als Fugenthema dasselbe instrumental einleiten:


2. »Elisabeth«, »Christus«, »Stanislaus«

und es vom Anfang bis zum Schluß in drei Hauptthemen thematisch fundiren. Aus der Tiefe des Gemüths objektivirt, scheint es doch auch wieder in das Gemüth hinein, einem geheimnisvollen Keim zur künftigen Erfüllung des Prophetenwortes gleichend. Dem entspricht auch seine Verarbeitung zur Einleitungsfuge des »Christus«, die wie aus seherischem Halbdunkel heraus auf Kommendes mit Posaunenstimme hinweist.

In liturgisch-thematischem Anschluß steht ferner das »Pater noster«, dessen melodischer Theil in einer gregorianischen, in der katholischen Kirche gebräuchlichen Intonation des »Vaterunsers« wurzelt;13 des gleichen der Osterhymnus »O filii et filiae!« –

Der Gedanke, ein »Christus«-Oratorium zu schreiben, beschäftigte Liszt bereits im Jahre 1856. Damals schwebte ihm textlich ähnliches wie Rückert's Evangelienharmonien vor. Es scheint auch, als habe er mit Rückert hierüber konferirt, möglich auch, daß dieser ihm einen Entwurf vorgelegt, ohne daß er seiner Idee nahe kam.[454] Nach vielem vergeblichen Suchen, stellte sich Liszt schließlich selbst einen solchen zusammen – den von ihm komponirten. Er faßte ihn in drei Theile, von denen jeder aus mehreren Unterabtheilungen besteht. Der erste Theil trägt die Überschrift: Weihnachtsoratorium; der zweite: Nach Epiphania; der dritte: Passion und Auferstehung. Das Weihnachtsoratorium besteht aus: 1) einer symphonischen Einleitung mit der Weissagung des Jesaias (XLV, 8) als Überschrift; 2) einem Pastorale mit der Verkündigung des Engels; 3) dem Stabat mater speciosa; 4) dem Instrumentalsatz »Hirtenspiel an der Krippe«; 5) dem »Marsch der heiligen drei Könige«, ebenfalls ein Instrumentalsatz. – Nach Epiphania umfaßt: 6) die Seligpreisungen; 7) dasPater noster; 8) die Gründung der Kirche; 9) das Wunder (Seesturm); 10) den Einzug in Jerusalem. – Der die Passion und Auferstehung behandelnde III. Theil gliedert sich in vier Nummern: 11) Tristis est anima mea; 12) Stabat mater dolorosa; 13) die Osterhymne: Filii e filiae und 14). Resurrexit.

Der Listz'sche Text weicht von allen andern den messianischen Stoff behandelnden Oratorientexten ab. Er umspannt das ganze Leben Christi, das biblische und liturgische Texte der viel späteren (nachbiblischen) Zeit gleichsam biographisch reflektiren, während andere nur Abrisse, Hauptmomente desselben brachten. Trotzdem ist die Darstellung des Lebens nicht die letzte Ausgabe, die der Meister sich gestellt. Sie bildet nur den faßbaren Untergrund für das unaussprechlich Gewaltige, göttlich Weltumfassende, das aus diesem Leben den Jahrtausenden erwuchs und als Christusidee fortleben wird bis an der Welt Ende. In Folge ihrer vergeistigte der Meister theilweise den Stoff in Instrumentalsätze, wie im ersten der Kindheit des Herrn gewidmeten Theil (Weihnachtsoratorium) und wählte Texte, welche sein Leben, aber vor allem: die Idee in ihren Grundelementen widerspiegeln. Eine weitere Konsequenz der von dem Meister verfolgten Aufgabe betrifft die Person Christus. Sie hielt er latent. Nur im 2ten Theil tritt das Wort Christi lehrend ein (die Seligpreisungen), desgl. mit dem kurzen Verweis: Quid timidi estis modicae fidei – »Was seid ihr so furchtsam, ihr Kleingläubigen?« (Seesturm), und endlich im 3ten Theil in dem Ringen am Ölberg mit dem Angstschrei: Tristis est anima mea – »Meine Seele ist betrübt bis in den Tod.«

Die Textanlage schließt sich eng, laut Überschriften, dem[455] katholisch-kirchlichen Kultus an. Trotzdem aber ist zu betonen, daß der Kern des Inhalts nicht auf eng konfessionellem Boden steht –: er wendet sich entschieden zum Universellen hin, das alle Konfessionen umschließt. Der katholisch-kirchliche Text ist, als im ersten Zusammenhang mit der Entwickelung des Christenthums stehend, ein historischer; er ist auch der poetischeste zur künstlerischen Verwirklichung jener Idee, und in Folge dessen erleidet unsere Auffassung keinen Abbruch. Gestützt aber wird sie durch den Umstand, daß der Text ohne jede dogmatische Beimischung geblieben, und die universelle Richtung des Werkes pointirt ist in der Weissagung des Jesaias (die Instrumental-Einleitung), in der »allem Volke, das guten Willens ist,« gewordenen Verkündigung des Engels, in den die Wege des Heils lehrenden Seligpreisungen, welche den Mittelpunkt des Liszt'schen »Christus« bilden. Auch auf das der Partitur als Motto mitgegebene paulinische Wort: »Wahrheit in Liebe wirkend, lasset uns in Allem wachsen an Dem, der das Haupt ist, Christus«, sei noch hingewiesen. Aus Allem leuchtet die Universalität der Christusidee, welche der Meister musikalisch zu fassen erstrebte, hervor. Diese Universalität ist der innerste Charakterzug, ja der Lebensodem selbst seiner »Christus«-Schöpfung.

Diesem Charakter entsprechen die musikalischen Mittel und die Form des Werkes, welche erstere in schärffter kunstphilosophischer, wie philosophischer Sichtung überhaupt, ihre Anwendung gefunden. Nach vokaler Seite ist der »Christus« überwiegend Chorwerk, dessen einige Nummern, wie die«Seligpreisungen«, der Osterhymnus, sich dem a Capella-Satz nähern, während andere, wie das Hosanna (der Einzug in Jerusalem), Partien des Stabat mater dolorosa, das gewaltige Resurrexit, sich mit den Instrumenten im kühnsten Akkordgewebe und polyphonen Aufbau der Harmonien verbinden. Das Vergangenheit und Jetztzeit umspannende Geäder von Themen, Harmonien und Formen, von gesanglicher und symphonischer Sprache, hat hier eine reifste dichterische Kraft zu jener Einheit verschmolzen, die dem »Christus« als Kunst- und als kirchliches Werk eine Universalität des Styls verlieh, die auf kirchenmusikalischem. Boden nur dies eine Mal zur Erscheinung gekommen ist.

Gleich der »Elisabeth«, aber in noch strengerem Sinne, hält sich der Gefühls- und Stimmungskreis des »Christus« frei von persönlichen Accenten. Die Großheit, Idealität und Innigkeit seines Gefühlsausdrucks, selbst die erschütternden Schmerzenslaute[456] (am Ölberg) halten die, wir möchten sagen: außerweltliche Linie ein, die der erhabene Stoff dem Dichter gebeut. Groß, hoheitsvoll, tief innerlich, erschütternd und doch auch wieder einfach, ja naiv und schlicht, nimmt der »Christus« auch nach dieser Richtung hin eine Sonderstellung ein.

Unsere bisherige Beleuchtung der kirchen-musikalischen Schöpfungen Liszt's und ihrer leitenden Ideen suchte die Grundzüge ihrer Eigenart, speciell in Bezug auf das Gesammtschaffen des Meisters, darzulegen. Sie hat zugleich die Grundzüge des »Christus« erörtert. Was aber einen andern Theil desselben anbelangt: seine Stellung zur Musikgeschichte und kirchlichen Tonkunst, sowie zum fortgeschrittenen Bewußtsein unseres Jahrhunderts gegenüber dem Christusstoff, sei auf die diese Punkte, als auch eine eingehende musikalische Analyse, behandelnde Specialstudie der Verfasserin14 verwiesen.

Uns steht es außer Zweifel, daß Liszt's »Christus« sich den vollendetsten Meisterwerken der Zeiten beigesellt, zugleich aber auch den eigenartigsten und höchsten Reformwerken auf dem Gebiet der kirchlichen Tonkunst. –

Die Komposition des Werkes – dessen Anfang in das Jahr 1856 (Seligpreisungen) der Weimarepoche fällt – erfolgte nach der Beendigung der »Elisabeth«- Legende (Ende Juli 1862). Mit Unterbrechungen vollendete es der Meister anfangs Oktober 1866. Der Fertigstellung der Partitur schloß sich unmittelbar die des Klavierauszugs an.

Die erste Aufführung des ganzen Werkes war in Weimar am 29. Mai 1873 in der Stadtkirche und wurde persönlich vom Meister dirigirt. Im Vorjahre (1872) fand eine solche des I. Theils, des Weihnachtsoratoriums, in Wien unter Rubinstein seitens der Gesellschaftskoncerte statt, wobei Hanslick15 nicht versäumte die Komposition mit der Lauge jeder Gêne und jeder sachlich wissenschaftlichen Beleuchtung ledigen Witzes zu überschütten, so daß die Bekenner des Meisters nicht ohne Unruhe der Weimaraner Aufführung entgegensahen – eine Unruhe, die nicht beschwichtigt werden konnte durch die Thatsache mangelnder Mittel, die dem[457] großen, ernsten Werke nur zwei Gesammtproben16 erlaubten, da gerade die Vorbereitung einer komischen Oper – wenn ich nicht irre, »Beatrice und Bendict« von Berlioz – Zeit und Kräfte der Hofkapelle sehr in Anspruch nahmen. Die mancherlei Ausstellung, die der Ausführung am Haupttage selbst gemacht werden konnten, schwanden gegenüber der Macht des Eindrucks, welchen die Hörer, die größtentheils aus einem aus der Ferne herbeigeeilten Künstlerauditorium bestanden, von dem Werke selbst empfingen. Unter ihnen befand sich auch Rich. Wagner nebst seiner Gemahlin, der geschiedenen Frau v. Bülow, Liszt's einzigen lebenden Tochter. – Es war nach einigen Jahren innerer Fernhaltung ein erstes Wiederbegegnen. Der Eindruck, welchen das Werk auf Wagner machte, dürfte einen Widerschein in einem an Liszt gerichteten und aus intimer Feder stammenden Brief gefunden haben, wo es heißt, daß es staunenswerth sei


»de voir une foi naive et ardente s'emparer de la formation actuelle de l'eglise, et tout accepter et tout illustrer de cette formation, où selon aucuns la politique a plus de part que la foi«


daß man kaum glauben könne


»le catholicisme de nos jours fût capable de produire une oeuvre d'art qui le resumât d'une façon aussi vivante et aussi saisisante«


und man die Überzeugung hege,


»si l'église catholique subsiste telle qu'elle s'est cristallisée en notre siècle, votre Christ subsistera avec elle, et si elle se décompose pour prendre d'autres formes, le Christ lui survivra comme son expression concrète; et s'il y avait à Rome d'autres moteurs, que me semble, un aveugle et agressif instinct de conservation, si l'on y était aussi éclairé qu'infaillible, les fragments du Christ devraient être exécutés a chacune des fêtes aux quelles ils se rapportent et l'oeuvre entière aux grands jours de l'église. Plus que les missions, plus que la propagande ocuelle, plus que l'action par la terreur, cette exécution affermirait et gagnerait les âmes;«


Nach Weimar kam der »Christus« noch im selben Jahr (November 1873) zu Budapest zu Gehör; 1875: zu München,[458] ausgeführt von Karl Hoffbauer17 mit seinem kaum einjährigen Verein – eine Aufführung, welche im Verlaufe von vier Wochen unter Hof-Kapellmeister Levi, noch zwei, befohlen von König Ludwig II., (die eine separat, die andere öffentlich), nach sich zog; 1879: zu Frankfurt a/M. (Rühl'scher Verein); 1880: zu Baden-Baden18 (XVII. Tonkünstler-Versammlung), Hamburg19 (Bach-Gesellschaft); 1881: zu Freiburg i/Br. (Dimmler), Berlin (Holländer); 1882: zu Leipzig (Riedel) u.a. Den meisten dieser Aufführungen wohnte der Meister persönlich bei. Im Ganzen harrt der »Christus« seines Ostermorgens nach manchem Charfreitagsleiden gegnerischer Kritik und der von ihr hervorgerufenen Vorurtheile.

Anderes Loos ward der »Elisabeth«. Hatte sie auch anfangs nach ihrer ersten Aufführung zu Budapest 1865,20 zur Wartburgfeier am 28. August 1867, zu Leipzig 1868 (Riedel), zu Wien 1869 (Herbeck) u.a. die bekannten Fluthen über sich ergießen lassen müssen, so stand ihr, gegenüber dem allgemeinen Verständnis, der so überaus poetische Legendenstoff zur Seite, der die Gemüther edel ergreift und rührt, ohne an den Ernst des religiösen Gemüths und Bewußtseins so hohe Forderung zu stellen, wie der»Christus«, bei dem das Verlassen des traditionellen Oratoriengeleises auch noch schwerer ins Gewicht fällt als hier. Die »Elisabeth« hat eine europäische Weltrunde hinter sich.

Es bleibt uns im Vorübergehen noch eines dritten aber unedirten Oratoriums Franz Liszt's –: des »heiligen Stanislaus« zu gedenken. Der Stoff gehört der Polengeschichte an und spielt im 11 ten Jahrhundert. Er behandelt die Lebensepisode des Bischofs Stanislaus von Krakau, da er dem König Boleslaw dem Kühnen seine Ausschweifungen rügt und ihn mit dem Banne belegt. Er wurde hierauf von Boleslaw selbst vor dem Altar niedergehauen. Der König zog in tiefer Reue sich in ein Kloster zurück, Stanislaus aber, von Innocenz IV. heilig gesprochen, ward Schutzpatron des Polenlandes.[459]

Dieses Oratorium – ein polnisches – zu komponiren, war ein Herzenswunsch der Fürstin und von ihr angeregt. Aber seit dem Anfang der siebziger Jahre – der Zeit, welcher der Plan angehört – bis zum Schluß waltete ein textlicher Unstern, der den Meister so und so oft zur Unterbrechung der Arbeit zwang. Dem Anscheine nach stammt der Entwurf von der Fürstin. Er war in französischen Versen verfaßt, die sie ins Deutsche zu bearbeiten Peter Cornelius übergab. Trotz aller Mühe wollte es diesem nicht gelingen, die Verse, das Ganze musikfähig zugestalten. Liszt stellte die Arbeit bald ein und übergab den Text an Dingelstedt (1877/78), aber auch dessen Bearbeitung widerstrebte ihm stellenweise als »zu theatralisch«. Dann übergab die Fürstin einzelne Textpartien einem Frl. G., doch auch diese Versionen blieben untauglich und wurden als »musikalisch unmöglich« von Liszt erklärt. Wie er endlich zurecht kam, wird sich erst in späterer Zeit, wenn das Werk der Öffentlichkeit vorliegt, ergeben.

Eine neue Kalamität erwuchs ihm noch im Schluß, welcher nach der Textanlage mit dem himmlischen Apparat der Engel sich vollziehen sollte. »Mit den Engeln läßt sich nicht mehr operiren – der Stoff ist verbraucht«, sagte er mir 1883. Im Jahr darauf, bei unserer nächsten Begegnung; theilte er mir erfreut mit, daß er den Schluß gefunden habe. Ein glücklicher Zufall gab ihm Kunde von dem in einem Kloster zu Ossiach in Kärnthen aufgefundenen Grabstein Boleslaw's mit der Inschrift: »Der Mörder Stanislaus«. Ein, auf eine Anfrage seitens Liszt's, von dem Bürgermeister zu Ossiach an ihn gerichtetes Schreiben, bestätigte den Fund.21 Auf ihn baute der Meister den Schluß des Oratoriums; das Wie blieb mir unbekannt.

Obwohl die Rede lautet: das Oratorium »Stanislaus« sei beendet, liegt es doch unedirt. Der Meister hatte im Sinn dasselbe, dessen Einzeltheile zu so verschiedenen Zeiten entstanden waren, umzuarbeiten, was ihm versagt geblieben. Nur zwei seiner Bruchstücke sind publicirt: das Orchester-Interludium »Salve Polonia«22 und die Skizze des Bußpsalms: »Aus der Tiefe[460] rufe ich, o Herr, zu Dir«,23 welcher hier für Baßsolo mit Orgel, in seiner Ausarbeitung jedoch mit Chor verwoben ist. »Salve Polonia« kam am 25. Mai 1884 zu Weimar (XXI. Tonkünstler-Versammlung) unter dem Dirigentenstab des greisen Meisters zum ersten Mal zu Gehör, zum zweiten Mal, tags darauf, auf Verlangen der Künstler. 1886 hatte das Direktorium des Vereins abermals das Orchester-Interludium zur XXIII. Versammlung in Sondershausen angesetzt. Allein Liszt zog es zurück, wegen der damaligen Polenausweisung Bismarck's. Er fand es nicht passend, in diesem Moment »Salve Polonia« zu singen.

Die Devise, die der Meister dem »Stanislaus« gab, lautet: »Patria in Religion et Religion in patria«. – –

Die beiden erstgenannten Oratorien – »Elisabeth« und »Christus« – schließen den Ring der Kunstmissionen Liszt's.

Im Hinweis aber auf sein in den Jünglingsgluthen seines Genius erschautes Ideal einer künftigen Kirchenmusik24, will uns dieses gegenüber den beiden Oratorien als ein Vorblick erscheinen, der seine künstlerische Verkörperung in ihnen gefunden hat.

Fußnoten

1 S. 404


2 S. 406.


3 Später erweitert zu zwölf.


4 S. 409.


5 »N.Z.f.M.« 1865, Bd. 61 Nr. 37.


6 Edirt 1868 –: Partitur, C.F. Kahnt.

Edirt 1867 –: Klavierausgabe, C.F. Kahnt.


7 Vergl. »Frz. Liszt's Briefe«, I. Band Brief Nr. 205.


8 Siehe: Chronolog. Verzeichnis.


9 Nach Liszt's Angabe in der Partitur ist sie in Brevieren und Choralbüchern des 16. und 17. Jahrh. enthalten in folgender Gestalt:


»In festo s. Elisabeth.«


5. Antiphona.

2. »Elisabeth«, »Christus«, »Stanislaus«

10 Laut einer Partitur-Nota aus dem Druckwerk: »Lira coellestis« etc.


11 Z.B. in dem Magnificat – nach Liszt's Angabe –


2. »Elisabeth«, »Christus«, »Stanislaus«

dem Hymnus


2. »Elisabeth«, »Christus«, »Stanislaus«

etc.


12 Edirt: Partitur-Ausgabe 1872 – J. Schuberth u. Co.

Edirt: Klavier-Ausgabe 1872 – J. Schubert u. Co.


13

2. »Elisabeth«, »Christus«, »Stanislaus«

Dieser Intonation folgt auch des Meisters im Jahre 1846 komponirtes Pater noster, welcher also beginnt:


2. »Elisabeth«, »Christus«, »Stanislaus«

14 Franz Liszt's Oratorium Christus. Eine Studie als Beitrag zur zeit- und musikgeschichtlichen Stellung desselben. Mit Noten-Beispielen. Edirt 1874 –; dritte Ausgabe: C.F. Kahnt, Leipzig.


15 S. Hanslick's »Koncerte, Komponisten« etc. (1870–1885). Seite 41 u.f.


16 Die Chöre waren sorgfältig von Müller-Hartung (Weimar), Dr. Naumann (Jena), und M- D. Mertel (Erfurt) einstudirt. Die Christusworte sang R. Milde, der erste hochbedeutende Interpret der »Seligpreisungen.«


17 Die Christustexte gesungen von Schuegraf.


18 Nur einige Nummern.


19 Nur einige Chöre.


20 Mit ungarischem, vorzüglich von Cornel Abrànyi übersetzten Text. Ihm folgten später Übersetzungen von Constance Bache in die englische, und von M. Lagye in die französische Sprache.


21 Herr August Göllerich, der diese Korrespondenzen besorgt hat, nannte mir auch einen zweiten bestätigenden Brief von einem Gutsbesitzer Kärnthens. Göllerich hatte auch dem Meister Reinschriften mehrerer Nummern besorgt, die nach seiner Aussage stichfertig vorliegen.


22 Edirt: Partitur-Ausgabe 1884– C.F. Kahnt.

Edirt: Klavier-Ausgabe zu 2 H. 1884– C.F. Kahnt.

Edirt: Klavier-Ausgabe zu 4 H. 1884– C.F. Kahnt.


23 Siehe XX. Kap. Seite 419.


24 Siehe I. Bd. Seite 246.

Quelle:
Ramann, Lina: Franz Liszt. Als Künstler und Mensch, Band 2.2, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1892.
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