XIX.

Liszt's Eintreten in die kirchenmusikalische Reform.

Die Graner Festmesse.

[365] Liszt's Stellung zur kirchlichen Tonkunst. Seine Meßtext. Die histor. Style der Kirchenmusik. Entstehung der Graner Festmesse. Letztere als Kunst- und als Kultusform. Der dramatische Charakter des Meßtextes. Das Wesen der Messe. Liszt's Anschluß an die gregorianischer Hymnen und den Palestrinastyl.Missa solemnis. Cand. Job. Szitovski. Erste Aufführung in Gran. Spätere Aufführungen. Die zeitgenössische Kritik. –


Das Jahr 1855 bedeutet in Liszt's Schaffen der Weimarzeit einen Höhe- und Wendepunkt. In diesem Jahre schuf er seine Graner Festmesse, die schon besprochene Dante-Symphonie und den XIII. Psalm – Werke, die wie Marksteine der Kunst emporragen ... in diesem Jahre auch nahm die innere Leidensgeschichte der Altenburg eine bedrohliche Haltung an.1 Sie lieh in den genannten Werken dem Schmerz und der Demuth, dem Gebet und der geistigen Erhebung über irdisches Misere eine höchste Sprache.

Auf kirchenmusikalischem Gebiet liegt die Schlußgrenze der musikhistorischen Aufgaben des Meisters.

Die Graner Festmesse stellte mit einem Schlag Liszt's Berufung zur kirchlichen Tonkunst fest. Sie ward epochemachend und bezeichnet in der Entwickelung der letztern den Anfang zu einer Neubelebung ihrer Kultusformen, die gleichbedeutend ist mit »reformatorischer That«, wobei die Ideen über eine neu zu erschaffende Kirchenmusik, für die er als Jüngling erglüht,2 gereift und geklärt ersichtlich sind.[366]

Die kompositorischen Grundgedanken seines bisherigen Schaffens sind auch hier bestimmend und das Neue, dem wir jetzt auf kirchenmusikalischem Boden begegnen, liegt in ihrer Übertragung hierher, wobei der freie weltliche Stoff einerseits und der kirchlich gebundene Stoff anderseits von vornherein die Verschiedenheit der Aufgaben kennzeichnet und auch die Grenzscheidung beider vollzieht.

Es lag Liszt's Natur ferne Kirchenmusik für den Koncertsaal zu schreiben: er schrieb für die Kirche, schrieb nicht als Komponist, sondern als gläubiger Christ und Dichter mit kirchenmusikalischer Berufung.

Seine hierher bezüglichen Schöpfungen sind im innigsten Anschluß an den römisch-katholischen Ritus empfunden und entstanden, es läßt sich sagen: aus ihm herausgeblüht. Und gerade dieser Punkt ward für ihre Gestaltung maßgebend. Ähnlich wie es mehr als ein Jahrhundert vor ihm dem protestantischen J.S. Bach vorgeschwebt hatte, Predigt und Kunstgesang zur Hebung der kirchlichen Feier in Verbindung zu bringen, so ging Liszt's Bestreben dahin: den Inhalt der kirchlichen Kultustexte zum Inhalt der kirchlichen Musik zu machen und sie so zu gestalten, daß diese des Selbstzweckes bar, in Einheit mit dem Wort ihre Kraft den hohen Ideen des Kultus weihe.

Das betraf vor allem die musikalische Erfassung des Meßtextes. Die Messe als kirchlicher Akt bildet die Spitze des römisch-katholischen Ritus. In ihr koncentriren sich Dogma und Kultus, indem sie die gottbedürftige, flehende und anbetende Menschheit, und ihre Versöhnung mit Gott mittels Christus umfassen, wobei die Herrlichkeit seiner Geburt (das Gloria), sein Leben, als auch die Tragödie auf Golgatha (imCredo) hineinschimmern und die Mysterien des Glaubens ihre Wunder vollziehen.

Der Meßtext ist feststehend. Ästhetisch als Ganzes, bezüglich seines Inhalts und seiner praktischen Durchführung mit dem Hochamt, betrachtet, enthält sein Aufbau epische und lyrische Sätze und Momente bei durchgehends dramatischem Charakter. Dieser Allseitigkeit konnte die Musik zu keiner der Zeiten ganz gerecht werden. Theils hatte sie in ihrer Entwickelung noch nicht die erforderliche Höhe erreicht, theils irrte sie ab vom Wege der Kirche. Die musikalische Messe durchlief mit der Musik alle ihre Entwickelungsstadien. Sie war gregorianische Choral- und Vokalmesse nach Palestrina, als es noch keine Instrumentalmusik gab, und ward[367] Instrumentalmesse, als die Instrumente sich mit dem Gesang verbanden, sie basirte ausschließlich, episch, auf den alten Kirchentönen, bis die weltliche Lyrik die modernen Tonarten gefunden hatten. Kirchlich zur Zeit, da die Musik als Kunst nur aus Kirchenmusik bestand, ward sie weltlich von dem Moment an, da der weltliche Styl – der lyrische Gesang und die Oper – zur Herrschaft kamen und ob der kirchlichen Kunst siegten. Daß in diesem Laufe der musikalischen Entwickelung der Meßtext zu kurz kam, erscheint sehr begreiflich, auch daß er allmählich quasi Vorwand ward, in der Kirche zu musiciren. Gegen Ende des vorigen Jahrhunderts stand die Musik weit entfernt von der Erfassung der Hoheit und Tiefe des Meßtextes, dessen Ernst sie in der herrschenden Figuralmesse verheiterte, oder auch opermäßig versentimentalisirte. Selbst Jene, die dem weltlichen Treiben in der Kirche zu steuern suchten, entfernten sich vollständig von ihm, indem sie den lebendigen und lebensvollen Fluß desselben in der Meinung daß nur die abstrakten Formen der Polyphonie kirchenwürdig seien, ihn verkontrapunktirten.

Nicht der Text war bestimmend, sondern die musikalische Form an sich. Die musikalische Messe im guten Sinne und von künstlerischem Werth, wie z. B. Joh. Seb. Bach's riesige H moll-Messe, entzog sich durch ihre musikalische Ausdehnung dem Gebrauch beim Gottesdienst, ebenso dem allgemeinen Verständnis, abgesehen von den immensen Darstellungsmitteln, die ihre Aufführung verlangt. Beethoven's Missa solemnis, die sich mit Entschiedenheit zur Großheit, Tiefe und Mystik des Meßtextes hinbewegte, ging wie jene über das praktische Ziel der Messe hinaus. Die Souveränität seines Genius band sich nicht an die Bedingungen, die ein gottesdienstliches Werk der Kunst vorschreibt, aber sie ließ ahnen, was der Meßtext von der Musik fordern soll. Die Ahnung selbst ward Gewißheit in einer zweiten Missa solemnis, »Graner Festmesse« genannt.

Über die Zeit der Entstehung und des Werdens derMissa solemnis giebt der Briefwechsel zwischen Wagner und Liszt die sicherste Auskunft. Unterm 12. März 1855 schrieb Liszt an Wagner:


»Für meinen Theil muß ich ein paar Monate angestrengt arbeiten. Der Kardinal Primas von Ungarn hat mir die Aufgabe gestellt zur Einweihung des Doms in Gran eine große Messe zu komponiren. Die Ceremonie soll spätestens im August sein.«[368]


In einem nächsten Briefe (Nr. 181) ohne Datum, aber noch im März geschrieben, lesen wir:


»Ich arbeite fleißig an meiner Messe, wovonKyrie und Gloria bereits fertig sind.«


Am 2. Mai schrieb er:


»... Während diesen letzten Wochen hatte ich mich gänzlich in meine Messe eingesponnen, und gestern bin ich endlich damit fertig geworden. Ich weiß nicht, wie das Ding klingen wird, – kann aber wohl sagen, daß ich mehr daran gebetet als komponirt habe. –«


Jene zwei Monate völliger Weltabgewandtheit verbrachte der Meister in der That – wie seine fürstliche Freundin mir erzählte – in seinem Arbeitszimmer und dem kleinen daneben liegenden Oratorium.3

»Mehr gebetet als komponirt« – das wird wohl für immer das Wort des Zeichens sein, unter welchem diese Messe nicht nur erstanden ist: auch erlebt und verstanden werden wird. Dieses eine Wort legt ihr Wesen und ihre Form dar und deutet unfehlbar das Moment an, durch welches sie in die kirchenmusikalische Entwickelung der Zeit einzugreifen die hohe Mission in sich trägt. Wenn Haydn, der Schöpfer der Figuralmesse, auf die Frage: woher er die friedliche Heiterkeit ihr geben könne, die köstliche, seinen Standpunkt zum Meßtext bezeichnende Antwort giebt: »Wenn ich an meinen Gott denke, so hüpft mir das Herz vor Freuden, und da hüpft denn meine Musik mit« – so bestätigt uns Liszt's Wort seine inneren Beziehungen zum Meßtext, die sein Werk selbst überwältigend dokumentirt. Jeder Satz lehrt uns, daß das innere Wesen der Messe und ihr Verlauf der Ausgangspunkt desselben ist und die Form bestimmt; wir fühlen uns in der Kirche, wir anticipiren am heiligen Hochamt, und erleben es im Durchleben. Keine sinnwiderige musikalische Deklamation stört den Fluß der Andacht, kein seelenloser Formalismus kühlt die Wärme des religiösen Hochgefühls, aber die Wahrheit und Tiefe, das Mystische des Ausdrucks ergreift mächtig die Seele und führt sie unter innerem Erschauern vom Kyrie zumGloria und weiter durch alle Stadien des Credo bis dahin, wo das »Dona nobis pacem« sie wie mit göttlichem Friedensgeheimnis umfängt, und das »Amen, Amen« das Erlebte im Glauben besiegelt.

[369] Liszt's Graner Messe ist ein einheitliches Kunstwerk.

Sein Genius fand die Form die Vielseitigkeit des textlichen Ordinariums trotz der Verschiedenheit des Charakters und des Inhalts seiner Einzeltheile musikalisch zu einem organischen Ganzen vorzuführen und als Kunstwerk einheitlich zu gestalten. Sie ist die erste Messe, welche dieses Ziel erreicht hat. Die Hauptmittel waren ihm die Behandlung der Themen, der Formen, die Verschmelzung des Homophonen mit dem polyphonen Element. Die Behandlung der Themen, modificirt nach der Verschiedenheit der stofflichen Aufgaben, ist im Princip dieselbe, wie bei seinen symphonischen Dichtungen. Die thematische Transition zeigt sich bei beiden wesentlich, herrscht aber in der Messe als Träger oder auch als Symbol religiöser Ideen und Gefühle vor, in der Weise, wie in der »Hunnenschlacht« das Crux fidelis, im »Nächtlichen Zug« (nach Lenau) das Pange lingua gloriosi. Als Beispiel aus der Graner Messe sei hier des Motivs gedacht, das Gott oder das Göttlich-Ewige, Allmächtige, auch die menschliche Einheit mit ihm, symbolisirt. Es besteht aus reinen Dreiklängen, denen bei Momenten höchster Abstraktion die Terz fehlt, wie gleich anfangs des Kyrie. – Auch bezüglich der Form waltet das Gesetz freien Schaffens, wie es Liszt's Werke weltlicher Richtung entwickelt haben –: der Inhalt bestimmt die äußere und innere Konstruktion des Satzes, er löst die Polyphonie zu freien lyrischen Sätzen auf, oder verdichtet sie zum treibenden Strom der Allgemeinstimmung. Keine der kontrapunktischen Formen, sei es Fuge oder Kanon, steht ihrer selbst willen da. Selbst jene Eigenart des Liszt'schen Styls, die Wiederholungstheile als Ausdrucksmittel einer sich fortentwickelnden Idee neuzugestalten, sowie im Schlußtheil des Ganzen die gesammten Hauptthemen nochmals zu verarbeiten, findet sich wieder und wirkt als agens zur Erreichung der einheitlichen Kunstform.

Einheitlich wie diese, so einheitlich ist die Graner Messe als musikalische Kultusform, identificirt mit dem Kultusakt selbst. Das Wesen der Messe als solche ist in ihrem innersten Sein Aktivität, fasse man sie psychologisch als Hinverlangen und Hinbewegen des religiösen Gefühls zum Übersinnlichen, wie es im Sinne des Opfers liegt, oder fasse man sie als Gnadenakt, der von oben herab sich senkt, wie die Sage vom h. Gral es versinnbildlicht: der Grundton der Aktivität bleibt da wie dort, wenngleich der eine mehr lyrisch (subjektiv), der andere mehr episch (objektiv) bedingt ist.[370]

Diese Aktivität in ihrem Doppelcharakter bestimmt principiell in der Graner-Messe die formelle wie inhaltliche Bewegung. Der gesangliche Theil folgt dem Text Wort für Wort ohne die kirchenmusikalisch üblichen Vokalisen des Figuralstyls, ohne die stereotype Wiederholung der Textphrasen. Ausgenommen da, wo die Vertiefung der Stimmung als auch des Textes solche verlangt, wie in den Sätzen doxologischen Charakters (Kyrie, Sanctus, Hosanna etc.) sind keine Wiederholungen. Liszt's Messe ist durchkomponirt, einfach, knapp dramatisch. Die zweifache Richtung der Aktivität aber – ihr menschliches Hinaufringen zum Höchsten und das göttliche Hinabneigen zur Menschheit –, welches die kontrapunktischen Formen zu keiner Zeit wiederzugeben erreichen konnten, fanden einen wunderbaren Ausdruck durch das Akkordprincip, die Homophonie, welche der Meister in die Messe hineingepflanzt und mittels ihrer derselben nicht allein die Durchsichtigkeit der stofflichen Gruppirung, die so leicht faßliche formelle Einfachheit, die im betenden Gemüth der Masse einen Widerhall findet und weckt, errungen hat: sondern auch zugleich einen Ausdruck für das übersinnliche, mystische Element – das göttliche Geheimnis –, ohne welches der Inhalt des Hochamts undenkbar bleibt.

Traten solchergestalt neue Töne in die Messe, deren Ausdrucksmittel dem Fortschritt der Musik als solcher zufallen, so verkannte der Meister keineswegs, welch unersetzlicher Werth für die Kirchenmusik, abgesehen von ihrem Kunstwerth an sich, in den altrömischen gregorianischen Intonationen und in der Vokalmesse des 16. und der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts liegt, die unter der Bezeichnung Palestrina-Styl fortlebt. Keine andere Musik trägt so ausgeprägt den Typus der Heiligkeit des Orts: der Kirche, dabei den Ausdruck des Ewig-Erhabenen, wie sie. Liszt's Genius fand auch hier den Weg diese Eigenschaften der modernen Kirchenmusik zu sichern, indem er einestheils einfache gregorianische Hymnen, die dem ältesten Kultus entsprossen und mit der Kirche verwachsen sind wie das Dogma selbst, heranzog oder auch seine Themen ihrem Charakter entsprechend erfand, und anderntheils das harmonische Princip des Palestrina-Styls auf die heutigen Ausdrucksmittel sowohl übertrug, als auch sie ihnen assimilirte.

Nach dieser Seite hin bedeutet Liszt's Kirchenmusik eine Wiedergeburt des kirchlich-religiösen Geistes der Tonkunst, eine Thatsache, die Pius IX. mit dem verbreiteten Wort, nach[371] welchem er den Meister »seinen Palestrina« genannt, gekennzeichnet hat.

Das Hinwenden zu den alten Kirchentönen ist Liszt besonders eigen und war seinem persönlich religiösen Empfinden naturgemäß.4

In seinen symphonischen, überhaupt in seinen Werken, lassen sich diese Spuren überall nachweisen. Hier gemahnen sie nicht selten an ein plötzliches Hinflüchten zum Altar. Ausgeprägt treten sie bei Werken nicht-kirchlicher Tendenz insbesondere da hervor, wo religiöse Momente im Vordergrund stehen, wie beim Schlußchor der »Faust-Symphonie«, in der »Hunnenschlacht«, der Dante-Symphonie, (das »Magnificat«) und andere.

Der Instrumalmusik wies der Meister in seiner Graner-Messe eine dem Vokaltheil gleich bedeutsame Aufgabe zu. Beide greifen in einander in Andacht, lobsingend, betend, darstellend, dankend, wobei die Instrumente dem Wort die Farbe, dem bildlichen Inhalt der betreffenden Stelle das dramatische Element der Gegenwart einhauchen, ohne auch nur in einem Moment der Grenze zu nahe zu treten, die außerhalb ihrer zum Kultus mitwirkenden Aufgabe liegt. Sie folgt so eng dem Text, daß man sie, abgezogen vom Wort, füglich eine »kirchliche Meß-Symphonie« nennen könnte.

Die Behandlung des Vokaltheils bietet des Eigenartigen ebenfalls nach allen Seiten hin. Es sei hier insonderheit nur einer Eigenthümlichkeit gedacht, die dramatisch äußerst wirksam und nach Liszt auch von andern Komponisten in Anwendung gebracht worden ist. Sie besteht darin, daß einzelne Textphrasen von Männerstimmen in Oktaven gesungen werden. Man glaubt in hochgewölbtem Dom Betergruppen zu vernehmen. Auch nach rein technischer Seite zeigt sich Liszt als Neuerer; so z.B. in seinem Princip – einer Art moderner Arbeitsvertheilung – dem vokalen Theil in jeder Stimmlage einen hellen, vollen Klang zu gewinnen und auch nach dieser Seite hin der Idealität der Aufgabe näher[372] zu treten. Nach instrumentalem Vorbild begrenzt dasselbe die Gesangsmelodie nicht immer nach dem Umfang einer Stimme, sondern nimmt sie aus dem Gesammtumfang der Stimmen heraus und vertheilt sie je nach dem Wohlaut der Lage der Einzelstimme an mehrere, die einander ablösen, wie z.B. bei Instrumentalsätzen die Bratsche das Violoncello, die Oboe die Klarinette ablöst, so daß die Lagen dunkeln Klanges der menschlichen Kehle in Wegfall kommen, ohne die Töne selbst dabei einzubüßen – ein instrumentales Verfahren, das in der Graner-Messe vielfach angewandt ist und ihr durchweg Schönheit, Fülle und Kraft des vokalen Klanges errungen hat. Es zeigt sich beispielsweise gleich anfangs der Messe (III), deren Betrachtung wir uns nun zuwenden.

Die Graner-Festmesse besteht aus sechs in sich abgeschlossenen Sätzen: dem Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus, Benedictus und dem Agnus Dei mit Einschluß des Dona nobis pacem.

Kyrie, Andante solenne, D dur. Nach einem dreimaligen Anruf –: »Im Namen Gottes des Vaters, des Sohnes und des


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heiligen Geistes« – mit dem jedesmal eine ernstklangende Phrase der Saiten- und Holzblasinstrumente hineintönt, setzt unter geheimnisvollem Wogen des Orchesters über ruhenden Bässen (G-Dreiklang ohne Terz) der Chorgesang ein (das Kyriemotiv, ebenfalls ohne Terz):


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[373] dessen Ruf nach Gott (Kyrie) zum mächtigen Nothschrei der Menschheit: »Erbarme Dich unser!« (eleison) anschwillt. Es verhallt der Schrei und nur eine Solostimme, dann noch eine (zuerst Baß ohne jedes Instrument, dann Tenor, begleitet von schmerzlicher Harmonie) fleht demuthsvoll:


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Schon diese wenigen Eingangstakte, so einfach wie ergreifend, versetzen uns an heiligen Ort und wir fühlen uns hineingezogen in das inbrünstige Flehen. Musikalisch betrachtet, veranschaulichen sie mit wenigen, allgemein verständlichen Strichen bei schlichten Mitteln die dramatische Strömung des Hochamts: auf der einen Seite die in sich ruhende göttliche Erhabenheit, symbolisirt im Kyriemotiv, auf der andern die hülfsbedürftige Menschheit mit ihrem Ruf nach Erbarmen. In ihnen liegt der »Wurf der Situation«. Kein kontrapunktisches Gewebe bemächtigt sich jetzt der Themen zu Gunsten musikalischer Kunst – der Gottesdienst geht weiter. Die Bitten werden dringender, die Instrumente flehen mit, der Kyrie-Ruf tönt mächtig dazwischen, Harmonie und Bewegung drängen nach Erlösung: das Christe eleison – der Mittelsatz des Kyrie – tritt ein.

Das zweite, sich auf die Dreieinigkeit beziehende Hauptmotiv der Messe, welches auf den göttlichen Mittler hinweist, bildet seinen musikalischen Text, der fünftaktig, zuerst instrumental ertönt, worauf der Solo-Tenor ihn mit dem Worttext:


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wiederholt. Die kindlich-innige Weise mit ihrem melodischen Schmiegen an das Wort »Christe« und ihrem hoffenden Bitten geht von Mund zu Mund – es treten zum Tenorsolo die übrigen Solostimmen[374] –, die Instrumente in der Tiefe und in der Höhe, die harmonischen Modulationen, die bisherigen Motive (den Kyrie-Ruf mit Orgel dazwischen), allmählich der Chor: sie alle flehen und füllen den Dom mit ihrem immer mächtiger emporwachsenden »Christe, Christe eleison!«, worauf Einzelne, wie zu Anfang des Mittelsatzes, innig und demüthig ihre Stimme erheben, die andern in kanonischer Form eintreten und endlich die große, an das Extatische streifende Steigerung wieder zurückwallt zur Ruhe, womit die Wiederholung des Eingangs, des Kyriesatzes, eintritt. Das geheimnisvolle Wogen der Instrumente ergreift wie ein Erschauern in Gott und treibt zu dem überwältigenden Schlußruf: »Herr, erbarme Dich unser« – Kyrie eleison!

Gloria. H dur, Allegro, ma non troppo. – Dieser Abschnitt des Meßtextes besteht aus fast nur Lobpreisungen und Anrufen, die hauptsächlich sich auf Christus beziehen und an ihn sich wenden. Sie beginnen mit den Worten der Engelsverkündigung: »Ehre sei Gott in der Höhe« – Gloria in excelsis Deo. Der historischmusikalische Charakter des Gloria ist vorwiegend Frohlocken und Jubelklang, der seit den ältesten Zeiten gleich am Eingang der Messen zum Ausdruck gelangt und mit den gregorianischen Bestimmungen, der Introitus solle mit Heroldstimmen gesungen werden, übereinstimmt. Liszt weicht in der Graner Messe von diesem Gebrauch ab und greift zurück zur biblischen Erzählung. Aus der Himmelsruhe der heiligen Nacht, dem göttlichen Geheimnis (symbolisirt durch ein Geigentremolo des H dur-, später des Es dur-Dreiklangs in hoher Lage auf ruhendem Flötenklang), lösen sich leise Gloria-Rufe (Oboe), welche der Engelschor (erst Frauen-, dann Männer-, dann gemischte Stimmen) aufnimmt und fortsetzt. Mystisch wie die Luft- und Lichtfarben der »heiligen Nacht« von Coreggio, umschweben die bebenden Klänge der Saiten und Flöten den Gloria-Ruf.


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[375] Andere Gruppen folgen, und beschwingt mit Engelsfittigen pflanzt er sich weiter und weiter und füllt frohlockend den Erdkreis, von wo er bei den Völkern freudig widerhallt. Der mächtige Jubelruf bricht ab, desgleichen verstummt das Tremolo, das allmählich unterbrochen, gleich flimmernden Lichtstrahlen über die hoch anschwellenden »Gloria in excelsis Deo!« dahin zuckt.

Das Gloriamotiv ist das erste Hauptthema dieses Satzes, das jetzt, wo die Botschaft erfolgt, in das Orchester übergeht, während das Soloquartett, umspielt von friedlichem Pastoralklang der Flöten, verkündet:


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Das Verkündigungsmotiv ist sein zweites Hauptthema, das im weiteren Verlauf der Messe zu einem ihrer wesentlichen Themen sich entwickelt. Seine Anfangstöne (die abwärts neigende Quart)[376] ist dem Christemotiv entnommen und weist auf Christus hin. Die Worte hingebender Anbetung im Gloria: »Dich loben, Dich preisen, Dich beten wir an« – laudamus te, benedicimus te, adoramus te, sind ihm – eine Exegese im Symbol – als dem Ausgangspunkt christlichen Seins und der Anbetung Gottes in Christo, übergeben. Selig beruhigend wirkt (Beispiel VI) die Harmonie zu den Worten »pax hominibus«, die synonym mit dem ersten Takt, diesem gleichsam entquillt. Die Verkündigung löst der Chor ab, wobei ihm die Pastoralfigur in den tieferen Lagen


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des Vcl. bedeutsam den Untergrund giebt und die Violinen das Gloriamotiv »im Herzen des Chors« intoniren. Diese Stelle ist eine jener dichterischen Eingebungen, die dem Meister so eigen und denen wir in der Graner Messe fast auf jeder Seite der Partitur begegnen.

Der Chor selbst ist in der früher angedeuteten im Kirchenton psallirenden Weise gehalten und alternirt in breitem Styl mit dem Soloquartett. Er vertritt die am Altar fungirenden Priester oder auch die betende Christenheit: ein Kultusmoment im Kultus, welches die am Eingang des Kyrie ausgesprochene dramatische Strömung ergänzt oder auch sich ihr einfügt, und als entschieden kirchlich-dogmatisches Element die ganze Messe durchpulst. Dasselbe zeigte sich schon im Kyrie, aber noch nicht so ausgeprägt, wie hier. Die meisten derartigen Chorstellen bleiben auf einem Ton in der Oktav, wie oben; andere bilden eine Dissonanz, deren Auflösung die Instrumente übernehmen, wie z.B. bei der Parallelle zu Nr. VII:


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[377] Der motivische Zusammenhang der psallirenden Chorstellen mit dem Kyriemotiv ist sofort ersichtlich. Doch sind die liturgisch-dramatischen Phrasen nicht ausschließlich chorisch. Da, wo offenbar die Priester mit der Gemeinde alterniren, vertritt erstere das Soloquartett, letztere der Chor, beide dazwischen mit melodisch-psallirenden Wendungen. Als Beispiel die Stelle: Domine Deus, Rex coelestis, welche auf dem Gloria- und Kyriemotiv – Lobgesang und Gottgefühl – basiren:


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Aus den beiden Hauptthemen, deren erstes (V.) rhythmischen und deren zweites (VI.) melodischen Charakters ist, nebst den soeben berührten liturgischen Chormomenten entwickelt sich in großem einheitlichen Zug der Gloria-Satz. Von wunderbarer Gewalt ist der Aufbau in der Wiedergabe der einander folgenden Textphrasen, die immer höher, immer jauchzender in der Verherrlichung Gottes sich ergehen und in den Worten gipfeln: »denn Du allein bist heilig, Du allein der Herr, Du allein der Allerhöchste –quoniam tu solus sanctus, tu solus Dominus, tu solus altissimus«. Dabei sprechen[378] individuelle Momente, so tief wie ergreifend, wie z.B. bei dem »adoramus te«, wo die Anbetung glühendste Gottbegeisterung, in Demuth versinkt5. Auch an anderen Stellen innerlichster Texterfassung ist der Satz reich, insbesondere bei den auf Christus bezüglichen, die sein Opfer im Keime bergen, wie bei dem Worten: »Lamm Gottes, der Du hinwegnimmst die Sünden der Welt – Agnus Dei, qui tollis peccata mundi«, bei welchen das 2. Hauptthema bedrückten Herzens singt:


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Am Schlusse des Gloria-Satzes übergab der Meister die auf den heiligen Geist bezüglichen Worte: »Cum sancto Spiritu etc.« einer Fuge als dem Sinnbild der Einheit Aller in Einem. Das begeisterte Thema, das aus dem Kyriemotiv herausgewachsen erscheint, lautet:


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Eigenartig schön ist das »Amen«, das der Fuge folgt und den ganzen Satz abschließt. Auf einem Orgelpunkte (H, Orgel) steigt flehenden Ausdrucks das »Amen« des Chors, umwogt von den Gloriarufen der Instrumente, welchen die Solostimmen gleich himmlischen Wortführern:


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singend sich[379] beimischen, in eintaktigen Akkorden stufenweise der Höhe zu, aber ergriffen von dem Gloria-Amen giebt er das Flehen auf und frohlockt gläubig mit den andern:


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worauf das Ganze in kirchlich üblicher Kadenz abschließt.

Credo, C dur, Andante maestoso, risoluto. – ImCredo liegt der dogmatische und liturgische Schwerpunkt der Messe, desgleichen der dramatische als Dogma sowohl, als auch als Kultusmoment. Im Gloria trat das lyrische, das Gefühlselement, in den Vordergrund – die himmlischen Heerschaaren, die Menschheit, die Kirche vereinten sich zu einem großmächtigen Lobgesang. Hier aber steht an der Spitze das im Bewußtsein sich gründende Glaubensbekenntnis,6 das in seinem Verlauf die innerste Genesis des christlichen Gedankens reproducirt. Und aus dieser Genesis steigt Moment um Moment empor, jeder im lebendigen Widerschein der Geschehnisse »bis das alles erfüllet ward«, jeder ein Baustein der Kirche, jeder – weltlich ausgedrückt – eine Scene in dem sich täglich erneuernden, unendlichen, Gott und Mensch umfassenden, Drama. In erhabendster Weise werden im Credo religiöses Denken, Fühlen und Wollen zum inneren Akt der Reinigung und Wiedergeburt im Geist, über welchen die Wunder des christlichen Glaubens (die Inkarnation) ihren überirdischen, mystischen Schein werfen. Im Credo liegt die schwierigste und höchste Aufgabe der kirchlichen Tonkunst. Wir wollen nicht fragen: wer, und ob sie je gelöst. Aber das steht fest: daß Liszt in einer Weise sie erfaßt hat, wie keiner vor ihm. Mit Hülfe seiner am Eingang unserer Darlegung genannten Mittel und Wege schuf er dem Credo eine in ihrer Prägnanz jedem Laien verständliche Form; dabei waltet eine Kraft der Unmittelbarkeit, eine überwältigende Wahrheit des Gefühls bei kirchlicher Weihe, daß man der Kunst und des Künstlers vergißt und nur eines fühlt: die Sache selbst. Bei diesem Punkt aber hören die Definitionen auf. Denn wo das Genie spricht als Werkzeug der Offenbarung, betreffe diese die Kunst oder höhere Ideen- und Gefühlskreise, da fängt das Mysterium selbst an und die Wissenschaft schweigt.[380]

Die Momente, die nach Außen sprechen, sind vor allem die Themen. Schon die ersten Takte des Satzes – er beginnt mit dem Hauptthema – tragen den Credo-Stempel in Zuversicht, Festigkeit und Herzensglut. »Credo – ich glaube«, erschallt es einheitlich aus dem Instrumentenchor, die Posaune als Fundament, – »Credo in unum Deo« setzt der Gesangschor das Thema fort:


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Es bleibt das Fundament des Satzes und kommt sowohl ganz als auch getheilt (a), (b), instrumental und vokal zur Anwendung. Instrumental ertönt es bei mehreren Sätzen, wo es den Chor sowohl einleitet, als auch ihn begleitend sein »Credo«


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hineinsendet, wie beispielsweise bei den Stellen: (1) »der wegen uns Menschen« – qui propter nostram etc., (2) »und sitzet zur Rechten des Vaters« – sedet ad dexteram Patris und: »seines Reiches wird kein Ende sein« – cujus regni non erit finis. Dort (1) giebt es der demüthigen Anbetung, hier (2) der Hoffnung im Tode gleichsam die innere Basis und Begründung, chorisch übernimmt es, jedoch rhythmisch verändert, – die Führung des die Kirche betreffenden[381] Glaubenssatzes: »Ich glaube an eine heilige, allgemeine und apostolische Kirche« – Et unam sanctam, Catholicam et apostolicam ecclesiam,


19. Liszt's Eintreten in die kirchenmusikalische Reform

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wo es die kirchliche Einheit symbolisirt und fugisch behandelt ist. – Was das Chor-Credo (XIIb) betrifft, so liegt es bereits vorbereitet im Quartenschritt des Christemotivs (No. IV), ebenso wie das Instrumental-Credo (XIIa) im Quintenschritt des Kyriemotivs (No. II) wurzelt.

Die Harmonien des ersten, Gott betreffenden Glaubensartikels bewegen sich ausschließlich in konsonirenden Dreiklangsfolgen, was diesem Theil bei der Einfachheit und dem Gedrungensein der thematischen und homophonen Gestaltung den Charakter feierlicher Erhabenheit verleiht, die bei dem Übergang zum zweiten Artikel »und an den einigen Herrn Jesus Christus – et in unum Dominum Jesum Christum«, in höchster Kraft erstrahlt.

»Gott von Gott, Licht von Licht« – Deum de Deo, lumen de lumine fährt der Text fort. Aus den idealsten Klängen und dem geheimnisvoll stillen Wogen der oberen Blas- und der Streichinstrumente erklingt, wie aus Überirdischem heraus, einfach, edel, licht eine Tenorstimme, welcher der Chor antwortet:


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Diese Stelle nebst den ihr folgenden, zählt zu den schönsten Inspirationen der kirchlichen Musik, die hier auf transcendentalem Gebiete stehend die göttlichen Räthsel berührt und sie uns als Ausfluß des Göttlichen fühlbar macht, wie das: »herabgestiegen vom Himmel« – [382] descendit de coelis (Sopran- und Tenor-Solo), das umhüllt von dem Übersinnliches kündenden Aether der Instrumente, melodisch den Text symbolisirt:


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Ebenso ist die Stelle von dem Mysterium der Incarnation in der Geistigkeit ihrer Harmonien eine der merkwürdigsten. – Mit dem: »und ist Mensch geworden« – homo factus est tritt ein Wendepunkt ein. Die übersinnliche Sphäre hat ihr Ziel erreicht und wir stehen auf dem Erdengrund mit seinen Dornen, seinem Kreuz, dem die Grablegung folgt. War bis da harmonisch die absolute Konsonanz maßgebend, so tritt jetzt die Dissonanz, die Vertreterin der Leiden und Schmerzen, ein. Sie kündigt die Menschwerdung mit folgenden, den Kelch in sich bergenden Takten an: –


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Dieselben werden zum Thema des »Crucifixus«, welches das Leiden und Sterben Christi erschütternd zum Ausdruck bringt. Im wesentlichen[383] ist dieser auf Grundlage obigen Themas, dem Orchester übergeben. Das Thema wiederholt sich auf verschiedenen Tonstufen, wobei seine Synkopen immer schneidender und zuckender, es immer gewaltiger zur Höhe, zur Tiefe wächst –: das Kreuz, das alle Menschheit überragt und die Welt trägt bis an ihr Ende. Und während es sich so aufrichtet, ruft Menschheit und Welt (Soloquartett, Chor und Orgel), gleichsam beschauend und doch wie erstarrt in Klage und Jammer: »gekreuziget« – crucifixus.


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Mit dem Orchester schwillt, dreimal das »crucifixus« (ebenfalls auf anderen Tonstufen) wiederholend, der Wechselgesang, worauf sich die Stimmen in dem Ausbruch bitterster Zerknirschung vereinen:


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»gestorben für uns« – zugleich schieben sich gewaltsam Harmonien empor – es scheint die Erde zu erbeben, Blitze zu zucken, der Himmel zu dräuen. In diesen sechs Takten gipfelt der Abschnitt der Kreuzigung. Sie fassen die Erhabenheit des Opfers und den Schmerz Derer, für die es gebracht ward und ausrufen: »für uns!« – während ihr Bewußtsein jammernd hinzufügt: »Deum de Deo, lumen de lumine!« (vergl. obige Stelle mit Beispiel XIV) zu wunderbarer Einheit zusammen, die uns wie eine Ahnung der Entsühnung durch den Schmerz überkommt.

»Unter Pontius Pilatus gelitten und begraben«, geht der Text weiter – ein stilles Weinen – homo factus est – klingt ihm nach:


19. Liszt's Eintreten in die kirchenmusikalische Reform

[384] Da schwebt der Ostermorgen schon heran: »und auferstanden am dritten Tag« – et resurrexit tertia die kündet das Gloriamotiv (V) trostbringend den Trauernden – die Besiegelung der göttlichen Sendung des Gekreuzigten. Den die Auferstehung betreffenden Textesworten unterbreitete der Meister die Engelsrufe, den Eingang des Gloria-Satzes. Eine poetisch-tiefe Inspiration, die mit der biblischen Auffassung des Gloria seitens des Meisters korrespondirt. Anfang und Ende des Erdenlebens Christi verweben sich so gleichsam in der Wesenheit ihres Seins.

Das »ascendit in coelum« bewegt sich – gegensätzlich zu dem in geheimnisvolle Atmosphäre getauchten »descendit de coeli« – instrumentalen Glanzes der Höhe zu. Es bildet den Übergang zu dem Abschnitt, der von der Erhöhung Christi, seinem dereinstigen Gericht über die Lebendigen und die Todten und seinem Reich ohne Ende handelt, und mündet in den Anfang des in Pracht und Majestät erklingenden Credosatzes (jetzt E dur). Die Konsonanz steht wieder in Kraft.

Mit dem Wiedereintritt des Credothemas beginnt der Wiederholungstheil, modificirt nach dem fortlaufenden Text. Gewaltig ist die Wiedergabe der Worte »zu richten die Lebendigen und die Todten« – judicare vivos et mortuos. Gemessenen Klanges singt sie der gesammte Chor in Oktaven, dabei umschmettert von den in eherner Strenge erklingenden Fanfaren des Weltgerichts, in welche erschreckende Tubarufe hineindröhnen:


19. Liszt's Eintreten in die kirchenmusikalische Reform

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– jeder Tubaruf zugleich der[385] Träger eines mächtigen Akkordes, der mit zermalmender Kraft das Richtwort in sich trägt und scheidet: hier die Lebenden – da die Todten:


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Bei dem Wort »mortuos« erbebt gleichsam die Erde, es scheinen die Gräber sich zu öffnen. Die Rufe und tremoli werden schwächer und verhallen sanft aber bewegt in einem Orgelpunkt (vibr. Vc.), über dem das Credothema in milder Hoheit ertönt und die Wiederholung sich hiermit fortsetzt. Das Zeitmaß bleibt bewegter.

Das »Ich glaube an den h. Geist«, entspricht dem »Gott von Gott, Licht von Licht« (XIV). Der die Kirche betreffende Glaubenssatz ist, wie bereits erwähnt, in Fugenform (Allegro militante) ausgedrückt (XIII), und kraftvollen feurigen Charakters. Von überwältigender Feierlichkeit und Kraft ist der Schluß des Credo-Satzes mit der Hoffnung auf das Jenseits. Harmoniefolgen (Dreiklänge) wie aus anderer Welt herüberklingend:


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leihen ihr in dreimaliger Wiederholung Ausdruck. Ein »Amen« aller instrumentalen und vokalen Stimmen (C dur-Dreiklang ohne Terz) beschließt erhaben dasCredo.

Sanctus. Andante solenne, G dur, 6/4-Takt. – Der Anfang des innerlichen, feierlichen Sanctus steht im großen[386] Kontrast zu dem thatkräftig-gewaltigenCredo-Amen. Eine ruhig heilige Flamme steigt das: »Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth« – Sanctus, sanctus, sanctus Dominus Deus Sabaoth des Chors, der Orgel, Streich- und Holzblasinstrumente in kirchlicher Feier empor:


19. Liszt's Eintreten in die kirchenmusikalische Reform

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Die Harmonien von dort scheinen wohl herüberzutönen und finden gewissermaßen in dem mächtigen Gefühlsdrang eine Fortsetzung. Die Stimmung jedoch ist eine andere: das Geheimnis des Altars – die Opferung – liegt, wenn auch latent, dazwischen und klingt fort. In diesem Dazwischenliegen aber begründet sich psychologisch die Auffaßung des Sanctus seitens des Meisters, die ebenso eigenartig, wie dichterisch und gefühlswahr die Vorbereitung oder auch Einleitung zur Kommunion – die Stellung des Sanctus im Meßtext – in dem Nachhall findet, welchen der feierliche Akt der Transsubstantiation in dem der Entsühnung entgegen harrenden Gemüth zurückgelassen hat. Das Motiv des Sanctus-Themas liegt im Gloria (Part. S. 42) in den Bässen des gewaltigen: tu solus sanctus Dominus.


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Das Sanctus währt nur vierzehn Takte. Es verstummt vor dem übermächtigen des Gedankens: »voll sind Himmel und Erde Deiner Herrlichkeit« – pleni sunt coeli et terra gloria tua. Die Wunder der göttlichen Liebe thuen sich auf, Harfen erklingen, wie Segen[387] thaut es von oben, und geheimnisvoll schwingt es von Stimme zu Stimme:


19. Liszt's Eintreten in die kirchenmusikalische Reform

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– »sunt coeli et terra« murmelt der Beterchor und singt es vom Altare her. Wieder erklingt wie eine Vision das »pleni, pleni.« Deutlicher tritt das Gloriamotiv hervor. Und wie am Eingang des »Gloria« (s. Beispiel V) erzittern die Saiten, das »Ehre sei Gott in der Höhe« durchschwirrt die Luft, während, versunken in die Mysterien des Himmels, der Chor leise: »Hosanna in excelsis« singt, um plötzlich wie aus tiefstem Erwachen mit voller Kraft »Hosanna!« zu frohlocken. Zugleich ergreifen die Posaunen mit dem übrigen Bläserchor das Sanctusmotiv (Nr. XXIII), welches jetzt zum Träger des Hosanna wird. Hehren Klanges, voll Pracht der Harmonien, wie getaucht in goldenen[388] Glanz, steigert es sich zu extatischer Kraft (9/4 = Takt, 3 Takte), wonach das Aufleuchten zurücksinkt in die Gluthen des gläubigen Gemüthes. In Verzückung ertönt es:


19. Liszt's Eintreten in die kirchenmusikalische Reform

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worauf wieder das Sanctusmotiv mit dem »Hosanna in excelsis, Hosanna« eintritt und wie in höheren Regionen verschwebt.

Das Sanctus der Graner Messe steht kirchenmusikalisch einzig da in seiner Mischung von kirchlicher Feier, Poesie, Exegetik und religiöser Extase. Harmonie und Instrumentirung sind hierbei das wundersamste Sprachorgan. Es ist kurz, seine Form einfach, klar, durchsichtig. Das ihm folgende:

Benedictus, Andante con pietà, Es dur, ist in seinem Gefühlsinhalt der lyrische Ausfluß seiner extatischen Momente. Ganz Melodie, ganz Versenktsein in Demuth und Hingabe an Christus, bildet das Christemotiv (IV) den musikalischen[389] Grundton, in den alles Sinnen und Fühlen hineinfließt und aus dem heraus sich jede Bewegung entwickelt – »entwickelt« so weit ein in sich ruhendes Gefühl und ein einthemiger Satz Entwickelung zuläßt. – Die Ausführung des vokalen Theiles ist den Solostimmen übergeben, die des instrumentalen den Streichinstrumenten, im Klange durch die Holzbläser gefärbt. Der Satz ist – das Schluß-Hosanna abgerechnet – von zartestem Kolorit. Ein Hornsolo intonirt das Christe eleison:


19. Liszt's Eintreten in die kirchenmusikalische Reform

das im Kyrie vom Violoncello gesungen, begleitet von Streichinstrumenten, im fünftaktigen Rhythmus stand, während es hier viertaktig ist, worauf eine Altstimme (dort Tenor) dieselbe Strophe mit den Worten: »Gebenedeiet« – benedictus, benedictus wiederholt. Im innigsten Ergehen lösen die Stimmen einan der ab – dazwischen eine Altarstimme:


19. Liszt's Eintreten in die kirchenmusikalische Reform

–, bis sie zum Quartett sich verbinden und in ein abermaliges Hosanna! übergehen. Das Hosanna desSanctus schließt das Benedictus ab, was formell mit dem Meßtext, nach dem das Benedictus der Schluß des Sanctus ist, übereinstimmt. Die eigenthümliche Schlußformel Liszt's lautet harmonisch:


19. Liszt's Eintreten in die kirchenmusikalische Reform

Das Agnus Dei nebst dem Dona nobis pacem – Adagio non troppo, E moll, 3/4-Takt – ist der letzte Theil der Graner Messe. Er hebt an:


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und kündet mit diesen[390] wenigen Tönen den Schmerz und das tiefe Bußgefühl an, das reuevoll sich dem Erlöser naht und, nach den Worten: »O du Lamm Gottes, das du hinnimmst die Sünden der Welt, erbarme Dich unser!« – Agnus Dei, qui tollis peccata mundi, miserere nobis! Vergebung der Sünden erfleht. Der Chor tritt wieder ein, desgleichen alle Instrumentstimmen. Sie verbinden sich mit jenem zum Organ der inneren Bedrängnis und seufzen, flehen und beten mit ihm:


19. Liszt's Eintreten in die kirchenmusikalische Reform

Der gesammte musikalisch-thematische Theil des Schlußsatzes beruht – nach früherer Andeutung – auf einer frei bearbeiteten Rekapitulation der wesentlichen Hauptscenen, auf welche der Meßtext selbst hinweist, insbesondere mit den Themen: IV (XXVIII), V, VI, (XXIX), III, I, II, XII. In allen seinen Atomen ist das Agnus Dei in den drei ersten Theilen (Kyrie, Gloria, Credo) der Messe begründet. Es ist kurz – 53 Takte –, aber in jedem Takt von ergreifender Wahrheit, koncentrirt religiösem Gefühl und Ausdruck, formell einfach, durchsichtig und überzeugend.

Nur zweier Momente sei noch speciell gedacht: des »Gieb uns den Frieden« – dona nobis pacem, und des Schlußes, von denen das eine ein Gefühls-, das andere, ich möchte sagen, ein dogmatisches Moment ist. Beide sind von höchster Art: das erste in seiner einfachen psychologischen Wahrheit, das zweite als Logik des gläubigen Geistes. Nach des Meisters Wiedergabe ist das »Dona nobis pacem« zweifach: ein Beten zum Frieden, und der Friede selbst, der wie eine himmlische Erscheinung in das menschliche Gemüth einzieht, oder auch mit anderen Worten: die selige Ruhe des Gemüths, die aus dem Versenken in Gebet hervorgeht. Diesen Proceß drückt der Meister – Allegro non troppo – durch einen Orgelpunkt aus, der instrumental über bebendem Basse:


19. Liszt's Eintreten in die kirchenmusikalische Reform

[391] mild und trostreich das Christemotiv (Hornsolo, 4 Takte) bringt. Das betende Wort (Solostimmen a capella):


19. Liszt's Eintreten in die kirchenmusikalische Reform

unterbricht ihn, worauf er in gleicher Weise fortfährt und der Wechsel von trostschöpfender Ruhe und bittender Hingabe allmählich in sich verhaucht – kirchlich verhaucht. Denn auch hier, bei diesem so einfach und naturwahr gegebenen Vorgang, der ebensowohl im stillen Kämmerlein wie unter Gottes freiem Himmel sich vollziehen kann, fühlen wir uns an geweihtem Ort: das Verhauchen des Gebets, dem Chor in Oktaven übergeben, vollzieht sich in liturgischer Form:


19. Liszt's Eintreten in die kirchenmusikalische Reform

Mit dem Eintritt des d löst sich der Orgelpunkt. Beschleunigten Tempos – Allegro mosso – steigt unter leise vibrirenden Bässen das Gloriamotiv empor, aus dem, friedselig umspielt von der Pastoralfigur (VI), auf den Tönen der Engelsverkündigung das:


19. Liszt's Eintreten in die kirchenmusikalische Reform

ertönt.

Wie diese Stelle ist der Schluß von eigenartigen Inspiration. Nachdem im weiteren Fortgange des Satzes das »Dona nobis pacem« der Solostimmen choralartig (D dur) abgeschlossen, tritt Segen spendend der Anfang des Kyrie (I) ein, zu dessen dreimaligem D der Frauenchor in Oktaven die Bitte liturgisch zum Ausklingen bringt. Das Kyrie setzt sich fort. Auf reinem Dreiklang ohne Terz erklingt anstatt der Worte »Kyrie eleison«: »Amen«. So, – Gott zum Fundament – setzt es leise ein, bei jeder Wiederholung verstärkt durch neu hinzutretende Stimmen, bis alle, vokale und instrumentale, über dem erhabenen Wogen des[392] Basses in einem All-Amen ertönen. Der Satz könnte auf seiner Kyriegrundlage, ideell genommen, füglich schließen, aber er bricht einen Moment ab, und die Posaunen intoniren in voller Kraft und Stärke: »Ich glaube« – credo! (XII) – und: »Amen, Amen« ruft die Christenheit in den mächtigen Klängen desCredo-Themas.

Mit diesem großartigen Zug meßtextlicher Erfassung endet die Graner Messe. Ihr Schlußwort heißt:


19. Liszt's Eintreten in die kirchenmusikalische Reform

Die erste Aufführung der »Missa solemnis« von Fr. Liszt fand am 31. August 1856 zur feierlichen Einweihung der Basilika zu Gran statt. In Gegenwart der mit großem Gefolge erschienenen K.K. Majestäten von Österreich-Ungarn, der kirchlichen Würdenträger und Magnaten des Landes, zahlreicher Musiker und Vertreter der Presse von auswärts, unter dem Donner der Geschütze begann die Ceremonie der Einweihung früh um 9 Uhr. Ihr folgte Predigt und Hochamt. Letzteres celebrirte persönlich der Kardinal-Primas, Erzbischof zu Gran, Johann Szitovsky, begleitet von den Klängen der Graner Messe, dirigirt von dem Meister selbst.

Die Messe war nicht ohne Hemmnisse und Mißhelligkeiten zur Aufführung gelangt; letztere stand sogar noch einige Monate vor der Einweihungsfeier in Zweifel. Dem Berichte von Pest, wo das Werk einstudirt wurde und die Vorarbeiten Liszt seinem Freunde, dem Grafen Leo Festitics anvertraut hatte,7 gelangten zu Gunsten einer Kantate von diesem nach Gran, daß es von mehrstündiger Dauer, übergroße Schwierigkeiten böte und sich nicht zur Einweihungsfeier eigne8; auch seine Kirchlichkeit machte man ihm streitig. Allein es hätte nicht einer Deputation des Konservatoriums bedurft, um den Fürst-Primas für die Messe, der ein Brief des Meisters eine knappe einstündige Dauer zusprach, zu bestimmen und die Einladung zur Direktion definitiv[393] an ihn ergehen zu lassen. Ohne diese würde Liszt zweifelsohne sein Werk zurückgezogen haben, da es – wie er äußerte – sich dabei um »einige nicht übliche Bagatellen, wie Accent, Andacht, Geist etc.« handle. Im vollen Bewußtsein des Werthes seines Werkes schrieb er damals an Edm. Singer, an einige »Striche« knüpfend, die er zur Kürzung der Messe zur Graner Festfeier gemacht:


»Blos bin ich nicht gesonnen, ungeachtet manchen vorsichtigen Rathes, meine Messe und mich selbst ganz zu streichen, umsoweniger als sich bei dieser Gelegenheit meine Freunde und Landsleute so vortrefflich und liebenswürdig für mich gezeigt haben. Ich bin ihnen deswegen schuldig, den thatsächlichen Beweis zu liefern, daß mir ihr Vertrauen und ihre Sympathie nicht gänzlich unverdient zu Theil geworden ist – und mit Gottes Hilfe soll dies auch unumstößlich dargelegt sein!«


Schon am 12. August traf Liszt in Pest ein und übernahm das Einstudiren seiner Messe. Mit nur 90 Sängern – Chor- und Orchesterpersonal 140 Personen – führte er den Beweis ihrer Durchführbarkeit bezüglich der technischen Schwierigkeiten, wie bezüglich der Zeitdauer9. Für ihre Kirchlichkeit hatte die Messe selbst zu sprechen. Auf Wunsch des Klerus fanden in Pest zwei öffentliche Generalproben im Prunksaal des Museums am 28. und 29. August statt, die sehr gelangen und dem Werke enthusiastische Sympathien errangen.

Auf der Donau fuhr der Meister am 30. August früh mit dem gesammten Musikerpersonal nach Gran. Um 10 Uhr begann die Hauptprobe in der Basilika. Sie fiel unbefriedigend aus. Die Akustik des neuen Baues war schlecht – Pause um Pause mußte gemacht werden, um die Töne, die chaotisch in einander schwirrten, in der Kuppel verklingen zu lassen. Die Entmuthigung kam der Verstimmung nahe, als sich erwies, daß in Gran kein Quartier für die Musiker war und sie bei heftigem Sturm die Nacht auf dem allerdings bekränzten Schiffe verbleiben mußten, nicht Speise, nicht Trank, nicht Licht an Bord. Der Meister, der »zu Land« einquartirt werden sollte, blieb bei seinen Musikern und verbrachte die Nacht in einer Kabine. Trotz allem Ungemach gelang die Aufführung besser, als man nach der Probe[394] hoffen durfte. Die Akustik wirkte bei gefülltem Raume nicht mehr geradezu zerstörend; einzelnes sogar, wie die Weltgerichtsposaunen – der Meister hatte seinen Große mitgenommen10 – wirkte überwältigend; aber im Ganzen konnte das Werk nur eine mittelmäßige Aufführung erreichen. Der Eindruck, den es machte, war sehr getheilt. Dem Kaiser mißfiel die Messe, die Weltgerichtsposaunen namentlich. Der Primas dagegen war ergriffen und entflammt. Liszt selbst war verstimmt, aber beleidigt war er von der Rücksichtslosigkeit bezüglich der persönlichen Aufnahme. Zu der an diesem Tage stattfindenden Kaisertafel war er nicht hinzugezogen, die Botschaftstafel konnte in diesem Augenblick keine Bedeutung für ihn haben. Er entfloh ihr Morgens und kehrte nach Pest zurück. Hier fand er volle Genugthuung in einer abermaligen Aufführung der Messe in der Pfarrkirche am 4. September. Sie erfüllte alle Erwartungen, die er von seinem Werke gehegt. Ergriffen, weinte er.

An Eduard Liszt schrieb er folgenden Tags:


– – »Ohne Übertreibung und in aller christlichen Bescheidenheit kann ich Dir sagen, daß manche Thränen geflossen sind, und daß das sehr zahlreiche Auditorium (die Kirche der Stadtpfarrei war gedrängt voll) sowie das ausführende Personal sich mit Leib und Seele in meine Anschauung der heiligen Mysterien der Messe hinaufgeschwungen hatten ...und alles und alles nur ein demüthiges Gebet zu dem Allmächtigen und dem Erlöser war.« –


In jenen Tagen religiöser Hochwellen sprach Liszt bei einem, ihm von Mitgliedern des Pester Franziskanerklosters gegebenen, Festmahl in gehobener Stimmung seine Sympathien für den Franziskanerorden aus, hinzufügend, daß er es als eine Ehre empfinden würde, ihm verbündet zu sein. Nach einigen Monaten11 empfing er das Diplom resp. Urkunde als Tertiarier dieses Ordens.12 In voller Würdigung der kirchenmusikalischen Bedeutung der Graner Messe und des Genies ihres Schöpfers, als auch in dem Verlangen dem kirchlicherseits für das Land großen Akt der Einweihung des Doms – einem zweiten St. Peter – ein bleibendes Monument zu sichern, veranstaltete der Kardinal-Primas [395] Johann Szitovsky, daß die Messe auf Staatskosten gedruckt werden solle,13 was seitens der K.K. Staatsdruckerei zu Wien geschah. Die Herstellung dehnte sich in Folge mancher Änderungen, kleiner und größerer Zusätze (wie z.B. die h. Geist-Fuge), die Liszt von Druckbogen zu Druckbogen vornahm, fast anderthalb Jahre aus.

Die nächste Aufführung der Graner Messe war in Prag zur St. Wenzel-Feier, dem Schutzpatron der Stadt, am 28. September desselben Jahres, geleitet vom M.-D. Skraup. Der Meister war zugegen; die Aufführung war eine verfehlte – aber es gelang ihm, A.W. Ambros für die von ihm vertretenen Ideen, welche dieser zu bestreiten geneigt war, zu gewinnen. Sie wurde ferner in Wien (am 22. und 23. März 1858), sodann abermals in Pest (am 10. und 11. April 1858), in Leipzig (1859), in München (am 29. November 1859), in Amsterdam (1863 und 23. April 1866), in Paris (am 15. März 1866) u.s.f. öffentlich zu Gehör gebracht.

Über keines der Werke Liszt's ist so viel polemesirt worden, wie über dieses. In ihm spitzten sich gleichsam die gegnerischen Pfeile zur äußersten Schärfe. Fachschriften, Broschüren, Tagespresse betheiligten sich am Kampf für und gegen der Hauptsache nach dreier sie betreffender Fragen: ob die Festmesse religiösen Geistes? ob ein musikalisch-dramatischer Kirchenstyl mit den Ideen der Kirche vereinbar? ob die Festmesse sich der Missa solemnis von Beethoven anschließe? Die Diskussion leitete Zellner's Broschüre14 ein, die historisch einen Ehrenplatz neben der Graner Messe wohl für immer behaupten wird. Der Fortschritt der Zeit beantwortete allmählich sämmtliche Punkte zu Gunsten des großen Werkes – obgleich noch heute eine große Strömung seitens der reformatorischen Bestrebungen der Cäcilienvereine dem Style Liszt's im Princip widerspricht, indem sie sich auf den a-Capella-Styl stützt und Liszt's Kirchenwerke dem Koncertsaal zu überlassen sucht.[396] Doch das sind Dinge, die der Zeit, die unaufhaltsam weiterschreitet, richtet und rechtet, anheimfallen.

Damals beschäftigte jedoch nicht ausschließlich die kirchliche Stylfrage die öffentliche Meinung. Auch den musikalischen Theil der Festmesse focht man an. Man wollte nicht den logischen Faden der Harmonie, nicht die Dissonanzlösungen finden. Dieser letztere Vorwurf traf Liszt einstimmig seitens der Kritik in Paris nach der Aufführung der Messe in der Kirche St. Eustache am 15. März 1866. Dissonanzführungen und ihre Auflösungen, wie sie beziehungsweise Beispiel VIII und XVII angedeutet, entgingen ihr. Da lud der Meister die gesammten Kritiker – unter ihnen d'Ortigue – zu sich ein. Die Partitur in der Hand, zwang er sie, die Auflösung jeder Dissonanz von ihm sich nachweisen zu lassen. Sie verstummten. – Gegen Napoleon III. sprach er damals das scharfbezeichnende Wort: daß man seine Graner Messe »mehr kritisirt als gehört« habe.

Im Ganzen war Liszt gegenüber den Angriffen der Kritik kaltblütig. Über diesen Fall aber äußerte er sich ein Jahrzehnt später gegen mich, noch in der Erinnerung erregt: es habe ihm weh gethan, d'Ortigue's wegen. »Er mußte wissen, wie ernst ich die Kunst nehme – er kannte mich von Jugend an.« Dieser Vorgang und Löwy's Verleugnung blieben in ihm haften.

Fußnoten

1 Siehe XX. Kapitel.


2 I. Band, Kapitel: »Abbé Lamennais!«


3 S. II. Kapitel.


4 Ein kleiner charakteristischer Vorfall aus meinen Begegnissen mit dem Meister mag diese Thatsache illustriren. Bei einem seiner Besuche, die er mir in Nürnberg abstattete, waren wir kirchenmusikalisch beschäftigt. Hiebei zeigte ich auf eine Stelle einer seiner kirchlichen Partituren mit der Bemerkung: »Dorisch – meine Lieblingstonart.« »»Ah – rief er erfreut, auch meine,«« ging zum Flügel und improvisirte in dieser Tonart einen Satz von wunderbarem Klang. Bald aber wandelte er dorisch in unser D dur um und bemerkte dabei: »Ich muß immer hinein, aber ich halte es nicht allzulange aus.« – –


5 Eine phychologische Analyse dieser wundervollen Stelle unternahm s. Z.L.A. Zellner, der erste Verfechter der Graner Messe: »Über Fr. Lisz'ts Graner Messe etc.« (Wien, F. Manz & Co. 1858).


6 Das allen christlichen Konfessionen zu Grunde liegende nikäische Glaubensbekenntnis.


7 Graf Leo Festitics stand damals an der Spitze der Verwaltung des ungarischen Nationaltheaters und gebot über die wesentl. musik. Kräfte Pests.


8 »Magyar Sajtó« vom 2. Juli.


9 Bei der Graner Aufführung betrug dieselbe 42 Minuten. Die daselbst vorgenommenen Kürzungen sind in der Partitur-Ausgabe der Graner Messe angegeben.


10 Große hatte auch die Messingbläser für die Messe geschult.


11 Irrthümlicherweise gab Frau Fürstin v. Wittgenstein durch Dr. J. Brichta das Jahr 1858 als die Zeit der Ordensaufnahme Liszt's an. (Vergl. »Budapester Tageblatt«, December 1886).


12 S. II/1. Band d.W.S. 126.


13 Ein im Liszt-Museum zu Weimar sich befindendes Briefkoncept Liszt's an den österreichischen Kultusminister Freiherrn von Bach, abgedruckt im II. Band (Nr. 397) der von La Mara herausgegebenen »Franz Liszt's Briefe« (1893 Breitkopf & Härtel) hebt diese Thatsache nicht auf. Zweifellos erfüllte er nur eine Formalität.


14 »Über Franz Liszt's Graner Festmesse etc.« (Wien, Manz & Co. 1858).

Quelle:
Ramann, Lina: Franz Liszt. Als Künstler und Mensch, Band 2.2, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1892.
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