XVIII.

Balladen mit melodramatischer Klavierbegleitung.

Rob. Schumann's Balladen als Ausgangspunkt zu Liszt's: »Lenore« nach Bürger und: »Der traurige Mönch« nach Lenau. Tonleiter und harmonische Grunglage des Letzteren. »Des todten Dichters Liebe« nach Jokai und »Der blinde Sänger« nach Graf Tolstoy. Die Bearbeitung von Felix Dräseke's »Helge's Treu« nach Graf Strchwitz.


Dem Zweig einer dramatischen Nebenform – der Deklamation mit melodramatischer Klavierbegleitung – schenkte der Meister in jener so fruchtbaren Zeit seines Schaffens ebenfalls Beachtung und bereicherte die Gattung als solche.

Schumann's melodramatische Klavierbegleitung zu den Balladen »Der Haideknabe« und »Schön Hedwig« von Hebbel, sowie seine Musik großen Styls zu Byron's »Manfred« hatten die Zeitgenössische Beachtung auf diese Mischform gelenkt. Man diskutirte ihre ästhetische Berechtigung und Nichtberechtigung, sowie die Rolle, welche der Musik dabei zufalle. Schumann jedoch hatte gezeigt, wie hoch sich auch hier ihre Aufgabe stellen lasse. Vom Standpunkt untergeordneter Begleitung erhob er sie zu dem eines wesentlich inneren Bestandtheils der betreffenden Form, welche lyrische, wie epische und dramatische Momente der Dichtung rhythmisch stützt und als Gefühlssprache pointirt. Seine Musik »begleitete« nicht nur die Ereignisse, sondern brachte auch ihren Gefühlsgehalt zu lebendigstem Schwingen, ja objektivirte ihn gleichsam in Momenten musikalischer Malerei, wie beispielsweise sein »Haideknabe« –dieses vollendete Meisterwerk melodramatischer Balladen – deren mehrere enthält. Schumann bleibt für immer das Verdienst diese Gattung in den Kreis der höheren selbständigen Kunstaufgaben gerückt zu haben.[359]

Dem Vorgange Schumann's und zweifellos von ihm angeregt, folgte Liszt mit seinen melodramatischen Klavierbegleitungen zu den Balladen: »Lenore« von Bürger, »Der traurige Mönch« von Lenau, »Der blinde Sänger« von Graf Tolstoy und »Des todten Dichters Liebe« von Moritz Jokai, zu denen die Bearbeitung der von Felix Dräseke für Bariton und Klavier komponirten musikalisch bedeutenden Ballade »Helge's Treu« von Graf Strachwitz, für Deklamation und melodramatische Klavierbegleitung noch hinzutritt.

Die erst genannten beiden Kompositionen gehören der Weimarzeit an. Beide sind muster- und meistergiltige Gebilde musikalischer Gestaltungskraft, welche Schumann's Vorgehen bestätigt und erweitert haben. Der Anschluß der Musik an die Deklamation ist bei beiden von einer Feinfühligkeit, daß sie nicht als ein Anschluß, sondern als ihr Ausdruck selbst wirkt. Beide identificiren sich mit dem Text, werden Gedicht mit dem Gedicht, Eins mit ihm in Körper und Geist. Wer Gedicht und Musik kennt, wird sich eines ohne das andere nicht mehr denken können. Als Musik betrachtet, sind sie, trotz der formellen Schwierigkeit, welche diese Mischgattung bietet, von vollendet formeller und thematischer Einheit. Sie hält den epischen Grundton der Ballade fest, der immer wieder hindurch klingt, selbst bei dem breiten Spielraum, den die »Lenore« z.B. der Tonmalerei anweist. Ihr harmonisches Kolorit erinnert an Gemälde, deren Farbentöne die Atmosphäre seines Sujets verrathen, wäre auch dieses verhüllt.

Jede dieser Balladenmusiken schlägt einen neuen Ton an – einen Ton, der der Sonne entbehrt, aber grundverschieden von einander ist. Das Nachtpoëm »Lenore« objektivirt seine Gespensterdämonik phantastisch nach Außen, »der traurige Mönch« läßt die Saite eines Elends ertönen, dessen mystische Glanzlosigkeit nach Innen hallt. Ähnliches – wenigstens was die letztere Ballade betrifft – hat die Musik noch niemals ausgesprochen.

Die Musik zu »Lenore« gipfelt in dem Gespenstischen, Dämonischen, Schaurigen, das nach zwei Richtungen hin Form gewinnt: nach epischer Färbung bei der Stelle: »Holla, holla! thu auf, mein Kind« und fort die nächsten fünf Verse, welche der Meister mit folgendem Thema:


18. Balladen mit melodramatischer Klavierbegleitung

zu vier und[360] vier Verszeilen, wobei die Oberstimme stets eine Oktav höher eintritt, bis die ganze Atmosphäre von Unheimlichkeit gefüllt scheint, begleitet:


18. Balladen mit melodramatischer Klavierbegleitung

18. Balladen mit melodramatischer Klavierbegleitung

– und dann nach dramatischer im Gespensterritt von der Stelle an: »Und hurre, hurre, hop, hop, hop!« Letzterer findet, obwohl er in anderem Rahmen steht und der Meister ihn an kleine Dimensionen bannen mußte, sein Seitenstück und seinen Gegensatz in der Tonmalerei des Mazeppa-Ritts: hier ein Todes-, dort ein Todtenritt. –

Aus Lenau's »Traurigem Mönch« spricht nicht nur eine Welt verschattete Seele. Wie der Dichter in einem seiner »Schilflieder« den Frost bittet, ihm ins Herz hinein zufrieren, so findet in der mystischen Trauer des Mönchs das geheime Leid der Welt ohne Anfang und ohne Ende, ohne Thräne und ohne Hoffnung, einen Widerhall. Gedichte wie dieses, zählen zu den dichterischen Offenbarungen, die nur dem Genie vorbehalten bleiben. Auch musikalisch.


18. Balladen mit melodramatischer Klavierbegleitung

18. Balladen mit melodramatischer Klavierbegleitung

Tonleitergänge, die sich auf Des, H (Ces) wiederholen, gefolgt von einem viertaktigen Tremolo eines Moll-Sextakkords, dem sich ein übermäßiger Dreiklang verbindet:


18. Balladen mit melodramatischer Klavierbegleitung

[361] leiten bedeutungsschwer die Deklamation ein.

Der düster-schwere Stimmungsausdruck mit seinem bebenden und doch in sich geschlossenen Weh, wie die Einleitung ihn bringt, durchzieht die ganze Dichtung. »Fremdartig« berührt ihr Klang unser Ohr – fremdartig und mystisch wie die Worte des Gedichts:


»Und wer dem Mönch ins Aug' gesehen,

Wird traurig und will sterben gehn –«


Wir sind ergriffen, erschüttert.

Dem fremden Klang theoretisch nachgehend, ergiebt sich die tonale Grundlage der Komposition auf der Ganzton-Leiter Es:


18. Balladen mit melodramatischer Klavierbegleitung

– eine Grundlage, die harmonischen Bildungen ungeahnte Konsequenzen eröffnet, aber auch der Aesthetik neue Gesichtspunkte zuführt. Der Halbtöne ermangelnd, sind ihre Akkorde unvollständig, nur dissonirend bei überwiegend übermäßigen Dreiklängen. Da ihr Bau keinen Leiteton zuläßt, ist sie auch ohne Dominantbeziehung im Sinne unserer diatonischen Systeme, auch ohne tonalen Abschluß im gleichen Sinn. Die »Endlosigkeit in sich« dieser Leiter, ihre schmerzgetränkten Harmonien verleihen ihr einen Ausdruck, dessen Lichtleere das Gemüth bedrückt, der an ein Weites, Unabsehbares gemahnt, über das farblos der Himmel sich breitet.

Man könnte sie als die »Skala absoluter Düsterheit« bezeichnen. So wenigstens ist ihre Wirkung in der vorliegenden Liszt'schen Behandlung.

Der Meister wandte sie – worauf wir des öfteren Gelegenheit nahmen hinzudeuten – in seinen Werken mehrfach an; allein nicht tonal als Basis wie hier, wo die Ausblicke auf eine andere Tonart, oder auf andere in ihr enthaltene Harmonien eben nur[362] charakteristische Ausblicke sind, wie z.B. bei der wunderbar ergreifenden Stelle (8 Takte):


18. Balladen mit melodramatischer Klavierbegleitung

wo plötzlich Dur-Dreiklänge (die einzigen der Ballade) eintreten, sondern in umgekehrter Weise: in nur sehr vereinzelten Fällen vorübergehend wie in demMagnificat der »Divina Commedia«, in dem Orgel-Variationenwerk u.a., und in anderer Behandlungsweise,1 nicht thematisch wie im »Traurigen Mönch.« –

Der Themen sind hier zwei: die Ganzton-Leiter in folgender Form:


18. Balladen mit melodramatischer Klavierbegleitung

und das Akkordmotiv:


18. Balladen mit melodramatischer Klavierbegleitung

– beide in der Einleitung enthalten.

Der Schluß der Ballade biegt nach Cmoll um:


18. Balladen mit melodramatischer Klavierbegleitung

Die »Lenore« entstand 1857,2 »Der traurige Mönch«, 1860.3 (?)[363] Die erste Ballade war ursprünglich für Marie Seebach geschrieben. Sie aber erklärte: das Gedicht mit dieser Begleitung nicht sprechen zu können, worauf Franciska Wagner-Ritter den Versuch wagte. Gelegentlich der Tonkünstler-Versammlung zu Leipzig in der Matinée im Gewandhaussaal am 4. Juni 1859 trat, von ihr gesprochen, der Klavierpart in den Händen Hans v. Bronsart's, die »Lenore« zum ersten Mal in die Öffentlichkeit. Frau Ritter bewies die Durchführbarkeit der schwierigen Aufgabe. Ihre Accente waren ergreifend, erschütternd und verbanden sich mit der Musik zu einer, wie gleichzeitig geborenen Einheit dramatischen Lebens. Die »Lenore« zündete.4 – Der Meister versprach hierauf für Frau Ritter eine Ballade, den Text nach ihrer Wahl, zu komponiren. Diese fiel auf Lenau's »Mönch«. Zum ersten Mal – noch Manuskript – trug sie ihn in einer Privatmatinée des Meisters, begleitet von ihm, zur Zeit der Meininger Tonkünstler-Versammlung 1867 vor. »Der traurige Mönch« trägt die Widmung: An Frau Franziska-Ritter geb. Wagner.

Des Meisters noch übrigen melodramatischen Begleitungen – zu Moritz Jokai's: »Des todten Dichters Liebe«5 und Graf Tolstoy's: »Der blinde Sänger«6, fallen in die 1870ger Jahre (1873? und 1874?). Reich an charakteristischen, wirkungsvollen, ja weihevollen Stimmungsmomenten, wie z.B. die »des todten Dichters Liebe«, sind sie nicht von der Tragweite und dem Kunstwerth, wie jene. Ihre Texte, aus der ungarischen und russischen Sprache ins Deutsche übersetzt, bewegen sich in einer sprachlichen Zwangsjacke; sie kommen der Musik weniger, nur in einigen Momenten entgegen, und es will scheinen, als sei ihre Wahl mehr eine den Dichtern dargebrachte sympathische Gesinnung als künstlerisch bestimmt.

Die Musik zum »Blinden Sänger« übergab Liszt auch dem Klavier als Ballade gleichen Namens.

Anders ist es mit der Bearbeitung des Opus 1, »Helge's[364] Treu« von Felix Dräseke, das ein durchkomponirtes Balladenlied bereits musikalischer Körper war – eine Form, die es auch in der neuen Gestalt überwiegend beibehalten hat. In der Liszt'schen Fassung ist es eine Liedübertragung, dessen Text der Deklamation übergeben ist. Diese Doppelsprache des Textes: als Melodie (in der Klavierbegleitung) und als gesprochenes Wort, giebt dieser Ballade einen eigenthümlichen Reiz, der die Mischform von Melodrama und Lied, welche Liszt hier angedeutet, einen Platz neben dem ersteren anweisen dürfte. – Von Dräseke 1859 komponirt, fand »Helge's Treu« ebenfalls zu Anfang der 1870ger Jahre seine Neugestaltung.7

Fußnoten

1 Eine kleine Zusammenstellung von Akkord-Passagen auf der Ganzton-Leiter befindet sich als »Anhang« im III. Bd. – Virtuositätsschule – meines »Grundrisses der Technik des Klavierspiels« (Breitkopf & Härtel). –

Die Musiktheorie und Forschung hat sich, soweit mir bekannt, dieses Stoffes noch nicht eingehend bemächtigt. Es bleibt zu wünschen, daß sie der in Redestehenden sechsstufigen, als auch der ungarischen Tonleiter auf Grundlage der Liszt'schen Werke und als Bestandtheil der modernen Tonkunst, ihr Augenmerk zuwende.


2 Edirt 1860 –: C.F. Kahnt.


3 Edirt 1870 –: C.F. Kahnt.R. Pohl nennt als Entstehungsjahr 1860. Eine Abschrift der Komposition, welche Liszt Frau Ritter übergab, trägt das Datum August 1861. Ob diese Angabe sich auf die Kompositionszeit oder auf die der Übergabe an Frau Ritter bezieht, konnte ich nicht ermitteln.


4 Dawison trug sie später in Prag vor.


5 Edirt 1874 –: Táborszky & Parsch, Budapest.


6 Edirt 1877 –: (C.F. Leede, Leipzig) u. B. Bessel & Co., Petersburg.


7 Edirt 1874 –: Schuberth & Co., Leipzig.

Quelle:
Ramann, Lina: Franz Liszt. Als Künstler und Mensch, Band 2.2, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1892, S. 359-365.
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