VII.

Liszt als Lehrer der reproducirenden Künstler.

[100] Ausgangspunkt. Principien. Die Virtuosität eine Schaffenskraft. Die Gefühls- und allgemeine Geistesbildung als Vorbedingung künstlerischer Reproduktion. Liszt's Lehrform. »Kein Konservatoriumstyl!« Das »Atelier« des Meisters. Pädagogische Ironie. Die Schüler der Lisztschule, die Weimarperiode: Pianisten, Organisten; Harfe und Posaune. Liszt gegen das »Mechanisiren« der Konservatorien.


Als Lehrer der Künstler ist Liszt von dem Dirigenten Liszt nicht zu trennen. Der eine giebt dem andern die Erklärung. Betrachten wir ihn als ersteren, so bleibt vor allem als Ausgangspunkt festzuhalten, daß seine Reform als Dirigent eine erweiterte und zum Styl erhobene Transkription seiner pianistischen Interpretationen auf das Orchester war, daß beide eine schöpferische Kundgebung des Genies, der Verwirklichung gleicher Ideale und gleicher Ziele zustrebten. Seine Lehre war der letzteren Ausfluß. Sie wandte sich hauptsächlich an Klavier-Virtuosen, wie an Virtuosen überhaupt und begründete eine neue Epoche des Klavierspiels, welche als Liszt-Schule den Höhepunkt der modernen klavieristischen Errungenschaften in Technik, Geist und Idee repräsentirt.

Gestaltete sich Liszt's Aufgabe einerseits, die von ihm geschaffene Technik und den Vortrag seiner eigenen Kompositionen Anderen zu übermitteln, so galt sie andererseits der unmittelbaren Übertragung seiner Auffassung und Wiedergabe der Werke der Meister auf seine Schüler und Jünger.

Somit ward seine Lehre eine Übergabe des Vortrags, wie letzterer aus dem Widerspiegel des schaffenden Geistes hervorgeht.


Periodischer Vortrag –,

Styl in der Ausführung –,

Erfassung der individuellen Eigenart der Meister –,[101]


das waren die drei Hauptpunkte, die er als Grundzüge des höheren Klavierspiels heischte.

In dem Verhältnis des Virtuosen und der Virtuosität zur Kunst und zum Kunstwerk erkannte er den lebendigen, immer treibenden individuellen Faktor, von dem Leben, Wärme und Lebensströmung der Reproduktion abhängt.

Er protestirte gegen den »Egoismus, gegen die Bornirtheit des singenden und spielenden Virtuosenthums, welches gleich einem Schönredner ohne Verständnis dessen, was es sagt, nur Kunststücke ohne alle tiefere intellektuelle Grundlage bewundern läßt.«1

Die nur vorschrift- und notengetreue Wiedergabe war nach seinem Ausdruck »Metier«, nicht Kunst.

Die Virtuosität selbst stellte er in die Reihe der schaffenden Künste, indem er sie durch seine eigene Künstlerschaft zur schaffenden Kunst erhob und als solche manifestirte.

»Nicht ein Auswuchs« – lehrte er – »sondern ein nothwendiges Element der Musik ist die Virtuosität. Was die Tageshelle dem Gemälde – das ist die Aufführung dem Musikwerk! Jenes verkommt ungenossen in der Dunkelheit, dieses im Staub der Bibliotheken.«

»Nicht passive Dienerin der Komposition ist die Virtuosität; denn von ihrem Hauche hängt das Leben wie der Tod des ihr anvertrauten Kunstwerkes ab: sie kann es im Glanz seiner Schönheit, seiner Frische, seiner Begeisterung wiedergeben, sie kann es eben so verdrehen, verunschönen, entstellen.«

»Niemand wird die Malerei eine knechtische, stoffliche Reproduktion der Natur nennen. In demselben Verhältnis, wie jene zu dieser, steht die Reproduktion zur producirenden Tonkunst. Und dieselbe Kluft, welche zwischen einer Landschaft, wie etwa der Tempelruine von Pästum von Calame und einer bloßen Ansicht liegt, trennt auch die Ausführungen eines und desselben Musikstücks durch zwei Künstler, von denen der eine »Metier macht«, während der andere »Kunst schafft«. Mag jener, um den inneren Sinn, die poetische Wirkung, die Lösung des im Modell verborgenen Räthsels wiederzugeben, noch so sorgfältig und gewissenhaft die natürlichen Linien seines Gegenstandes nachahmen, so muß der[102] Maler, wie der Virtuose, seinen Vorwurf dennoch mit einem ungewöhnlichen Blick durchdringen, ihm seine geheime unbeschreibbare Harmonie ablauschen, ihn in seinem besonderen Gesichtspunkt auffassen, ihm ein besonderes Licht, einen ideellen Rahmen abgewinnen und verleihen.«

»Das wäre ein schlechter oder gar kein Künstler, der mit verständnisloser Treue bloß den ihm vorliegenden Konturen folgte, ohne diese auch mit dem aus der Auffassung der Leidenschaften oder Gefühle geschöpften Leben zu durchdringen!«

»Die Virtuosität ist so wenig, wie die Malerei, den andern Künsten untergeordnet: denn beide erfordern schöpferische Fähigkeit, welche ihre Formen nach einer in der Seele des Künstlers erfaßten Idee, nach einem Typus bildet und ohne welche sich sein Produkt nicht über Industrieerzeugnisse zum Kunstwerk erheben kann. Sie ist kein Akt leerer Receptivität – sie plappert nicht wie ein Staar eingelernte Redensarten nach. Im Gegentheil: sie bringt die Ideen zur Erscheinung und versetzt sie aus dem Limbus unkörperlicher Abstraktion in die fühlbare, sichtbare Welt.«2

Die Voraussetzung zum Erreichen solcher Hochziele – lehrte er weiter – falle nicht nur dem künstlerischen Können, sondern ebenso dem menschlichen Sein zu. Der Werth der Virtuosität »hängt, wie der der Komposition, von der Gefühlsbildung des Künstlers und der ihm verliehenen Gabe ab, der Intensität eines Gefühls auch die entsprechende, Andern faßlich sich mittheilende Form zu finden.«

»Ohne diese lebeneinhauchende Gewalt des Gefühls, welche einzig und allein die Formen des Schönen diktirt und den Willen verleiht, sie ausschließlich zu produciren, sind beide, die Komposition wie die Virtuosität, nur ein sinnreicher Kopf- oder Fingermechanismus, eine geistlose Fertigkeit oder eine Berechnung.«

Seine Lehre band Liszt nicht an die akademische Form. Er betonte zu allen Zeiten, daß er kein Musik- oder auch »Klavier-Professor« sei, womit er andeuten wollte, daß er weder in System gebrachte Lehre, gleich dem Vorschriften nachkommenden Kunstbeamtenthum, ausübe, noch überhaupt den Akademie- oder »Konservatoriumstyl« des, Unterrichts als künstlerisch bildend anerkenne. Sie ging aus der Praxis her vor, und was er an Theorie und Ästhetik seinen[103] Schülern übergab, geschah in der freien Weise der Gelegenheitsform, die gleichsam als schaffender Geist der Praxis, diese durch Erläuterungen, Erklärungen, Beleuchtungen, Hinweis auf Meister- und Musterwerke der Tonkunst sowohl, als auch auf die der anderen Künste leitete und potenzirte.

Seine Lehrform war durchaus frei; vom Schöpfergeist bedingt, galt sie der Virtuosität, als auch der Komposition. Nach beiden Richtungen hin übergab er nichts in der Art und Weise fertig formulirter Regel, obwohl das von ihm Übergebene kunstbedingende Regel war, doch ohne Formel. Das Genie als Person gewordene Regel macht nicht Regeln. Siegfried kann nicht Fafner sein, und Faust nicht Famulus. Die von einem Meister geschaffene neubeseelte und befruchtete Kunsttechnik enthält wohl und ist ein Inbegriff aller vorausgegangenen Entwickelungen: aber der neue Geist will einen neuen Leib, der sich nicht in Buchstaben fassen läßt. Es ist alles persönlich, und was daran lernbar ist, kann nur praktisch mitgetheilt werden.3

Alle Mittel des Vortrags, die Style der Ausführung der Koncert- und Kammermusik aller Meister von I.S. Bach bis zur unmittelbaren Gegenwart herauf, sowie alle nur einigermaßen bemerkenswerthen Novitäten, übermittelte Liszt seinen Schülern aus den ihm offenen Büchern musikalischer Genesis.4

Bezüglich der Bildung seiner Schüler mußten künstlerische Voraussetzungen walten. Alle die technischen Vorbedingungen und geistige Vorarbeit, welche der Regel und der Schulung, sei es durch Privat- oder akademischen (Konservatorien-) Unterricht anheimfallen, setzte Liszt – wie gegenüber den Orchestern, die er leitete – bei den jungen Künstlern, die er in den Kreis seiner Jünger aufnahm, als »überwunden«, voraus, so daß er vom Geist des Kunstwerks ausgehend seine großen technischen Neuerungen und kompositorischen Principien als »Mittel zum Zweck«, d.i. als Sprache des Geistes, ihnen übergeben konnte. Ein mit [104] Musik gefüllter Ton galt ihm hiebei nach Seite der Anschlags-, d.i. der Tonbildung, als unerläßlich.

Wie in einem Hörsaal versammelten sich zu bestimmten Zeiten angehende und bereits erprobte Künstler, Komponisten und Virtuosen in seinem Musisalon, den der Meister bei dieser Gelegenheit »Atelier« zu benennen liebte. Stehende und sitzende Gruppen, wie in einem solchen, lauschten den Bemerkungen und Korrekturen, die er zu der einen, zu der andern sich gesellend, im Stehen, im Gehen, bald neben, bald vor dem Flügel ertheilte.

Zwanglos und frei war die Form, wie seine Lehrmethode. Weder dem Vortragenden noch seiner Wahl der Komposition ging eine Vorherbestimmung seitens Liszt's voraus, dazwischen aber erbat er sich den Vortrag dieser oder jener Komposition, die er vielleicht vor Wochen gehört und glossirt hatte, als Wiederholung.

Feile, Vertiefung und Befestigung des Gelehrten auf der einen Seite – Zusammenfassen alles Könnens im Augenblick: prima vista auf der andern Seite: das waren die zwei Grundfäden, die beständig ineinander spielten.

Die Vorträge kritisirte er in Spiel und Wort; jenes indem er am Klavier das Vorbild gab, dieses durch ästhetische oder historische Erläuterungen, durch analoge Beispiele, die er der Poesie aller Zonen, der Skulptur, der Malerei, wie der Natur entnahm. Seine Rede war kurz, blitzend, mehr aphoristisch als lange verweilend. Seine Intentionen drückte er vorzugsweise in Bildern, auch durch Gesten aus. Seine Mimik sprach. Die Bilder waren neu, treffend, allen Geistesregionen entnommen. Oft genügte ein einziges Wort ganze Strecken einer Komposition zu erhellen. Auch übersetzte er, um verständlich zu machen, Geistiges in Sichtbares. So konnte z.B. ein Virtuose Chopin's tempo rubato5 nicht finden. Der Meister spielte ihm vor, erklärte – umsonst. Da zog er ihn an das Fenster (die kleine Scene spielte in der Hofgärtnerei). Ein heftiger Wind durchtobte die Bäume. »Sehen Sie die Zweige, wie sie wogen! die Blätter, wie sie ineinander sich schütteln? Stamm und Geäst halten fest –: das ist tempo rubato!« Einem anderen, der den Unterschied zwischen dem betonten und unbetonten Auftakt nicht in sich trug, recitirte er Verse und[105] verwies ihn auf den Iambus und Spondeus, deren Bewegung er zugleich im Schritt darstellte.

Manuskripte jeder Art, für Klavier, Gesang, Violine, Soli wie Ensembles, Trios, Quartette, Koncerte, symphonische Sätze wurden, oft frisch von der Feder weg, gleich probirt und besprochen.

Individueller Auffassung seitens seiner Schüler wahrte Liszt das Recht, selbst wenn sie nicht der seinigen entsprach. »Man kann es auch so machen« oder: »Ich ziehe es so vor«, pflegte er dann zu sagen und spielte die betreffende Stelle. Auswüchsiges suchte er zu beschränken, oft drastisch genug, wie einstmals gegen Rudolf Viole, der ihm an einem hellen Sommermorgen eine seiner einsätzigen Sonaten6 nach der von Liszt geschaffenen Form vorlegte. Der Meister saß am Schreibtisch, die Feder in der Hand. »Das geht nicht« – sagte er und wies auf eine mehr als gewagte Modulation des Manuskripts. »Aber – es klingt schön«, meinte der junge Komponist. »Nein, es geht nicht – das darf nicht sein«, entgegnete nochmals bestimmteren Tones der Meister. ›Warum nicht »sein«?! – es klingt schön, es geht‹, rief hartnäckig Viole. Gelassen erhob sich Liszt, trat dicht vor ihn hin, spritzte seine volle Feder auf dessen frisch gewaschene weiße Weste und sagte ernst zu dem erschreckt Zurückweichenden: »Das geht auch – aber es darf doch nicht sein.« –

Häufig war die Ironie die Form seiner Kritik, die aber nicht immer verstanden, dazwischen schmeichelhaft gedeutet wurde, auch unangenehme Mißverständnisse hervorrufen konnte. – »Prometheus« ironisirte er gern Kraftproben der Muskelausdauer – an manchem Ohr blieb nur der schmeichelhafte Klang »Prometheus« hängen. »Konservatoriumspiel«, geißelte er die inhaltslose Glätte des Klavierspiels, jener Fertigkeitsspielerei, die eine technische Tonmassen-Bildung, aber nicht Tonbildung ist, und keine Ahnung von der Idee einer Tonbildung in sich trägt. Solche, die mit unfertiger Technik, noch im schülerhaften Stadium kühn genug waren, sich vor ihm zu produciren, suchte er mit den Worten: »Ich bin kein Musik-Professor« in ihre Schranken zu verweisen.

Die Schüler der Weimarperiode waren, alphabetisch geordnet: Fr. Altschul, W. (?) Bauer, Carl Bärmann, H.v. Bronsart, H.v. Bülow, Franz Bendel, Dietrich, A.W. Gottschlag,[106] Louis Hartmann, Ad. Jensen, Karl Klindworth, William Mason, N. Nélisoff, Robert Pflughaupt, Dionys Prukner, Theod. Ratzenberger, Jul. Reubke, Ferd. Schreiber, Karl Tausig, Rud. Viole, Al. Winterberger;7 unter ihnen die Damen: Josefine Bondy (?), Gisberte Freiligrath, Marie Gärtner, Aline Hundt, Rosa Kastner (?), Sophie Pflughaupt, Clara Riese, Martha v. Sabinin, Ingeb. Stark, Hilda Tegerström.

Die Genannten bilden den Kern der Liszt-Schule. Andere, die während der genannten Zeit nur vorübergehend die Anregungen des Meisters genossen, lassen sich ihnen nicht beizählen. Nicht ungleich den fahrenden Schülern, fanden sich jahrein, jahraus, Künstler und Virtuosen aller Himmelsstriche auf der Altenburg in vollster Freizügigkeit ein, zogen bereichert von hinnen, doch ohne im Princip, noch im praktischen Können der Liszt-Schule entschieden anzugehören – obwohl auch sie die Bezeichnung Lisztschüler beanspruchten.8

Drei der als Lisztschüler genannten Künstler: Alex. Winterberger, A.W. Gottschalg und Julius Reubke, sind insbesondere zu erwähnen. Sie gingen vom pianistischen zum Orgelgebiet – als Orgelschüler des Meisters. Dieser hatte bereits seine großartige Orgelfuge über den Choral »Ad nos, ad salutarem undam« komponirt und der Öffentlichkeit übergeben, ohne den Organisten zu kennen, der sie auszuführen im Stande sei. Der von ihm hier verfolgte Gedanke: dem gewaltigsten Organ kirchlicher Feier, der Orgel, neue Wirkungen abzuringen und sie dem modernen Geist als Ausdrucksmittel zu gewinnen, harrte noch praktisch der Lebendigmachung. Da sprang begeistert Alex. Winterberger ein. Er wurde des Meisters erster Orgelschüler und der Erste, der seine großen Orgelschöpfungen in die Welt hinaus trug.[107]

Die andern Beiden – Gottschalg und Reubke – genossen in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre seine Lehre. Mit den Genannten arbeitete Liszt an dem Rieseninstrument. Stundenlang konnte er mit ihnen sitzen und probiren, wie den Eingebungen seines Genies die praktische Folge zu geben, wie die in seiner Phantasie lebende Wirkung zu erreichen sei. Solche Sitzungen wurden Entdeckungsreisen in noch unbekannte Zonen, wobei er die Kräfte der jungen Künstler zu noch unbemessenen Aufgaben spannte und hob. Solchergestalt arbeitete der Meister mit Alex. Winterberger die Ausführung der soeben genannten Orgelfuge buchstäblich »zu Tage«, desgleichen seine große. B-A-C-H-Fuge. – Bei Gottschalg, der bereits installirter Kantor zu Tiefurth war, erstrebte er weniger virtuose Ziele als das Orgelrepertorium mit Stücken nach dem oben angedeuteten Sinne zu bereichern. Es entstanden ein großer Theil der Bearbeitungen und Orgelübertragungen,9 welche einen wesentlichen Bestandtheil des von Gottschalg ein Jahrzehnt später herausgegebenen Orgel-Repertoriums bilden,10 und deren meiste Gottschalg veranlaßt hat. Der dritte der Schüler, Reubke, ward inmitten vielversprechenden schaffenden Beginnens vom Leben abberufen. Seine Orgel-Sonate – einsätzig – mit dem 94. Psalm als Programm,11 wird sein Andenken wach erhalten. – Als beeinflußt[108] von Liszt und als vorzügliche Interpreten seiner Orgelschöpfungen, schließen sich den Genannten die Orgel-Virtuosen August Fischer (Dresden), Ad. Wald (Wiesbaden), S. de Lange (Haag), der Amerikaner Eddy u.A. an.

Ähnlich wie gegenüber der Orgel ging der Meister mit der Harfe und der Posaune vor. Bei der ersteren diente die Großh. Hof-Harfenistin Johanna Eith-Pohl – die erste Gattin Dr. Richard Pohl's – seinen Zwecken, während er zugleich ihr Spiel zu höherem Flug antrieb. Die praktische Durchführbarkeit seiner ebenso vielseitigen wie charakteristischen Behandlung der Harfe als Orchesterinstrument, von Liszt wie von keinem andern Komponisten dem Orchester inkorporirt, ist zum großen Theil Resultat der Studien mit dieser Künstlerin, mit der er fast sämmtliche in der Weimarperiode entstandenen Harfenstimmen (zu den »Prometheus«-Chören, zur »Faust«- und Dante-Symphonie u.a.) probirte, ehe er sie endgültig niederschrieb. Die Harfenpartie der letzteren, als auch die der Psalmen mit Harfe und Orgel, hat Liszt eigens für Joha. Eith geschrieben. Eine noch unedirte Harfen-Übertragung seiner Cantique d'amour12 schrieb er ebenfalls für sie. – Gleicherweise entriß der Meister der Posaune mächtigste Klänge. Hier war es der Posaunen-Virtuos Große, Mitglied der Weimaraner Hofkapelle, den er bis zur denkbarsten Beherrschung dieses Instrumentes influencirte und ihn zum Interpreten seiner Intentionen bezüglich der Posaune erhob. Die große Posaunenpartie der Graner Messe u.a. war speziell für Große's Machtklänge berechnet. – Er, wie Joha. Eith-Pohl, sind, obwohl im weiteren Sinne, in die Reihe der Schüler Liszt's zu stellen.

Überblickt man Liszt's Thätigkeit als Lehrer in Princip und Form, so zeigt sich auch sie als Ausdruck einer Schöpferkraft, die mit Entschiedenheit die Bahnen des Fortschritts vorzeichnet. Ein großer Pädagog, war er dennoch kein »Musik-Professor«. Seine Lehre setzte da ein, wo dieser aufhört. Nur das Genie kann das – das Genie, das neue Bahnen zeigt und geht. Im Hinblick auf die bestehenden Musik-Erziehung sformen und Methoden befand sie sich im vollsten Gegensatz zu diesen. Dem System der Konservatorien standen sie, schon durch das Princip des Fortschritts und der freien individuellen Entwicklung, diametral gegenüber. Mit[109] Recht erhob Liszt denselben Vorwurf gegen die Konservatorien, der den Maler-Akademien, zu deren Lehrsystem sie eine Paralelle bilden, schon früher gemacht worden war –: den Vorwurf des Mechanisirens der künstlerischen Technik, auch des Theiles, der sich mit dem freien ästhetischen Gefühl verbinden soll; den Vorwurf der Verstumpfung der Phantasie durch geisttödtende, jedes vernünftige Maaß überschreitende Übung; den Vorwurf der Erziehung aufstrebender Talente zur Manier und Schablone durch die akademische Diktatur – mit einem Wort: den Vorwurf der Unterdrückung freier individueller Entfaltung.

Gleich wie auf dem Gebiete der Malerei, deren hervorragendste Künstler ihre Ateliers talentirten Schülern, die den nothwendigen Theil akademischer Schulung hinter sich hatten, öffneten und hier das Princip individueller Entwicklung in freier Form an Stelle der Konvention des akademischen Systems stellten, gab Liszt durch die Eröffnung seines »Ateliers« der musikalischen Künstlererziehung einen energischen Vorschub, und durch den Hinweis theils auf die im akademischen System liegenden, eine freie individuelle Künstlererziehung hemmende Lehrmethode, theils auf die Wege, welche einzuschlagen sind, um diese Hemmnisse aufzuheben, so, daß die musikalischen Staatsanstalten – seien sie Konservatorium, Akademie oder Hochschule benannt – ihre Aufgabe nicht allein gegenüber den Todten, sondern auch gegenüber den Lebenden, dem Leben und der Zeit, erfüllen.

Summa summarum: seine Lehrthätigkeit war ein energischer Protest gegen jenen mechanisirten und mechanisirenden Theil der Künstlererziehung, der den Geist abtödtet und dem Geist historischer Fortentwicklung fremd ist.13[110]

Auf das aber, was sich von dem von Liszt Gegebenen für die akademische Künstlererziehung als letzte Spitze der musikalischen Pädagogik herausziehen und gestalten läßt, dürfte sein großer Schüler H.v. Bülow hingedeutet haben, indem er, demselben praktische Folge gebend, den jungen Künstlern der Raff-Schule zu Frankfurt a.M., im Lehrsaale dieser Anstalt, Beethoven, Brahms u.a. Meister durch harmonische, formelle und ästhetische Analyse, verbunden mit seiner Interpretation am Klavier, docirte.

Fußnoten

1 Ges. Schr. IV. Bd., S. 191.


2 Ebend. S. 129 u.f.


3 Vergl. Vischer's »Ästhetik« § 520.


4 »Als Frucht seiner Lehre« gedachte ich bereits (I. Bd. S. 272) der Beethoven-Ausgabe H.v. Bülow's. Desselben Bearbeitung des Ital. Koncertes, der Chrom. Fant. u. Fuge u.a. von Bach, der zwölf Klavierstücke Händel's (Aibel, München), Karl Klindworth's Chopin-Ausgabe u.a. dürften ebenfalls auf sie zurückzuführen sein.


5 I. Bd. S. 226.


6 R. Viole komponirte deren zehn, die C.F. Kahnt (Leipzig) edirt hat.


7 Ein damaliger Kompositionsjünger sei noch erwähnt: der junge Badenser Karl Friedrich aus Freiburg, der von der badischen Regierung durch ein Reisestipendium ausgezeichnet, sich mehrere Monate in Weimar aufhielt und sich Liszt's Lehren anschloß. Eine Frucht dieser Studien war eine symph. Dichtung: »Sakuntala«, das erste Werk, das symph. Liszt nachstrebte. Er dedicirte es dem Großh. Fr. v. Baden.


8 Einen Versuch die Schüler und Schülerinnen Liszt's, auch die von ihm indirekt beeinflußten Künstler und Künstlerinnen, verzeichnisartig zusammen zustellen, enthält Aug. Göllerich's Liszt-Biographie. (Ph. Reclam's Universal-Bibliothek 1887).


9 Siehe XVII. Kapitel.


10 Gottschalg genoß das Glück bis zu des Meisters Ende ununterbrochen in thätiger Beziehung zu ihm bleiben zu können, wozu seine spätere Anstellung in Weimar ihm noch besondere Möglichkeit gewährte. Von redlichem Charakter und Liszt uneigennützig ergeben, ward er in der »Hofgärtnerei«quasi Haus- und Musikfaktotum. Ähnlich wie Anton Schindler Beethoven, stand er Liszt in vielen Dienstleistungen zur Seite. Vielerlei ging durch seine Hand, namentlich alles, was sich seitens Liszt's auf die Orgel bezog. Er übernahm so ziemlich durchweg alle Reinschriften seiner Orgelkompositionen – in Folge dessen kam G. in den Besitz der meisten Original-Orgelmanuskripte des Meisters, da dieser seine MS. Denen zu schenken pflegte, die ihre Reinschrift besorgten, – nahm ihm während seines römischen Aufenthaltes lästige Verlagsangelegenheiten und Korrespondenzen ab u. dgl. m. – Liszt betitelte ihn »legendarischer Kantor« wegen mancher Märchen, die er ersann, auch weil ihn die Weimaraner, Groß und Klein, trotz Organistenstelle zu Weimar und Professorentitel »Tiefurther Kantor« fortnannten. Unter dieser Bezeichnung wird er wohl für immer in Schriften, welche des Meisters Weimarzeiten behandeln, sich behaupten. Gegen die Angriffe, die ihm vielfach kleiner Sinn und Mißgunst schufen, nahm ihn L. stets in Schutz. Er äußerte sich brieflich über ihn (an Julius Schuberth 31/VIII. 1870): »Ich schätze Gottschalg als einen sehr redlichen, tüchtigen, ernstlich strebenden und verdienstlichen Kunstgenossen und interessire mich für sein weiteres Emporkommen – was ihm gebührt.«


11 Das MS. im Besitz des »Allg. D. Musik-Vereins«.


12 Im Besitz Rich. Pohl's.


13 Hier sei auf eine kleine Schrift jener Zeit hingewiesen, die, wenig bekannt, als eine Konsequenz der Lehrforderungen Liszt's zu erachten ist: Youryi von Arnold's Broschüre: »Über Schulen für dramatische und musikalische Kunst« (Paul Rhode, Leipzig 1867). – Nach Seite der allgemeinen musikalischen Erziehung war die Verfasserin dieses Werkes bestrebt dem Fortschritt Rechnung zu tragen und die Konsequenzen der Ideen Liszt's für das Allgemeine zu ziehen in den Schriften: »die Musik als Gegenstand der Erziehung« (C. Merseburger, Leipzig 1868) und »Allg. musik. Erzieh- und Unterrichtslehre der Jugend« (Schmid u. Günther, Leipzig 1870) – die technischen Errungenschaften Liszt's in ihrem: »Grundriß der Technik des Klavierspiels«, drei Theile: Elementar-, Mittel- und Virtuositätsschule (Breitkopf und Härtel, Leipzig 1885).

Quelle:
Ramann, Lina: Franz Liszt. Als Künstler und Mensch, Band 2.2, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1892.
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