25.

Der Engel des Todes.

[282] Durch die herabgelassenen Vorhänge des Mozartschen Zimmers fiel heute nur ein matter Schein des Tages. Im Ofen knisterte das Feuer; sonst herrschte eine tiefe Stille ringsumher, denn .... Mozart war krank. Aber Mozart arbeitete doch ..... es ließ ihm keine Ruhe, das Requiem .... das Requiem mußte fertig werden.

Constanze hatte nach jener Fahrt nach dem Prater wiederholt mit Doctor Clossel über ihres Mannes Zustand gesprochen. Clossel fand ihn nicht gerade bedenklich, nur empfahl er Ruhe und drang darauf, daß Mozart die Partitur des Requiems wenigstens auf einige Tage ganz zurücklegte.

Es kostete dies Wolfgang Amadeus freilich eine große Ueberwindung; dennoch konnte er den anstürmenden Bitten Constanzens, seiner Schwägerin Sophie und der Freunde nicht widerstehen; aber er wurde dadurch nur noch trauriger, denn er fühlte wohl, daß dieses Opfer ihn nicht zu retten vermöge, und der Gedanke: dies Werk am Ende gar nicht mehr[282] vollenden zu können, peinigte ihn Tag und Nacht. Sein Lieblingsschüler Süßmayer – der ihn und seine Art zu componiren ja so gut verstand und ihm schon bei dem »Titus« so treu beigestanden – kam daher fast nicht mehr von seiner Seite. Mozart erklärte ihm Alles und sprach sich so unumwunden und detaillirt über die musikalischen Ideen aus, die ihn bei dem Requiem leiteten und vorschwebten, wie er dies bisher noch nie gethan.

Das war nun freilich nicht des Arztes Meinung gewesen; dennoch gewahrte Constanze zu ihrer innigen Freude bald, daß die erzwungene Ruhe sehr günstig auf ihren Gatten zurückwirke; ja Mozart fühlte sich in der That nach einigen Tagen wieder so erträglich, daß er im Stande war, eine kleine Cantate: »Das Lob der Freundschaft« zu schreiben, welche die Freimaurerloge, der er angehörte, bei ihm bestellt hatte.89

Die gute Aufführung und der große Beifall, mit dem sie aufgenommen wurde, belebten aber seinen Geist noch mehr. Wolfgang war wieder heiterer, ja er scherzte sogar von Zeit zu Zeit wieder. Constanze strahlte von Glück. Als er daher die Rückgabe der Partitur des Requiem verlangte, nahm sie keinen Anstand, seinen Bitten zu willfahren.

Aber sonderbar, kaum hatte Mozart dies Werk des Todes wieder in seiner Hand, als der Gedanke, der ihn schon am Tage der Bestellung erfaßt und bis in die letzte Zeit verfolgt hatte, wieder mit dämonischer Gewalt in ihm aufblitzte.

Furchtbares Licht! Dieses Grab, für welches man von ihm Harmonische Thränen verlangt, ist sein eigenes. Kein Zweifel, keine Hoffnung mehr, er muß sterben!

Jeden Augenblick gewinnt dieser niederdrückende Gedanke mehr Consistenz und setzt sich in dem Geiste des Kranken fester; aber die Inspiration, welche er daraus schöpft, verleiht ihm bis dahin unbekannte unermeßliche, übernatürliche Kräfte. Er schreibt, und alles Uebrige ist vergessen. Mag von nun an die Nacht auf den Tag, der Tag auf die Nacht folgen, für ihn – den göttlich-erhabene Melodien auf den Schwingen der höchsten, der heiligsten Begeisterung bis zu dem Throne des Ewigen emportragen und in die unermeßlichen Tiefen der Ewigkeit schauen lassen, – für ihn giebt es keine Zeit mehr![283]

Das Licht, welches wieder aufsteigt, ohne ihm Hoffnung zu bringen, – die Dunkelheit, welche die Erde umhüllt, ohne ihn in Ruhe zu versenken, verlassen und finden ihn immer wieder auf derselben Stelle, ohne aufzuhören, nachdenkend, schreibend. Ein unaussprechliches Interesse, eine schmerzliche Begeisterung kettet ihn an diese Arbeit, die – wie er selbst fühlt – sein letztes Geschäft in dieser Welt ist .... denn ..... an der Arbeit Ziel ..... erblickt er den Tod!

Er sieht ihn sich gegenüber, wie er sich bewegt, .... wie er sich mehr und mehr nähert ..... wie er den knöchernen Arm begierig nach ihm ausstreckt ..... wie er ihn mit einem triumphirend grinsenden Lächeln und hohlen Augen vernichtend anstarrt!

Er sieht ihn .... und die Furcht, die erhabene Hymne der Ewigkeit nicht mehr zu Ende bringen zu können, treibt ihn zu immer angestrengterer Arbeit.

Die Seiten des Requiems füllen sich ... aber das Leben des begeisterten Meisters schmilzt, wie die letzten Reste einer Wachskerze, welche vor dem Bilde des Heilandes brennt, und die wie in Thränen der Anbetung tropfenweise ihr letztes Dasein aufzehrt!90

Das Requiem ist bis zu dem Sanctus vollendet ... da aber bricht der edle Maestro todtkrank zusammen.

Du sankst auf dein Lager? – – Wehe! – wehe der Welt! wehe der Kunst! Ich sehe den Engel des Todes seine düsteren Schwingen über dich ausbreiten! – Still, in dich gekehrt, ohne Klagen legst du dich nieder! Wehe! wehe der Welt! wehe der Kunst! wehe all' den Herzen, die dich lieben! Ich sehe den Engel des Todes mit umgekehrter Fackel zu deinen Füßen stehen!


Durch die herabgelassenen Vorhänge des Mozartschen Zimmers fiel heute nur ein matter Schein des Tages. Im Ofen knisterte das Feuer; sonst herrschte eine tiefe Stille ringsumher, denn Mozart war krank .... aber Mozart arbeitete doch.

Dicht neben dem Bette saß Süßmayer an einem Tische und schrieb. Constanze ging auf den Zehen ab und zu. Ihre Augen waren roth geweint.

[284] Wolfgang Amadeus lag ruhig.

Seine Augen, gedankenvoll nach oben schauend, verriethen das Arbeiten seines Geistes. Er schrieb ja seine Musik nie eher nieder, bis er sie, bis auf die letzte Note im Kopfe vollendet hatte.

Aber wie blaß dies Antlitz war, wie erschlafft die Züge, wie unheimlich das flackernde Feuer dieser, sonst so schönen Augen. Und doch verkündet ihr zeitweises Aufblitzen den noch immer gewaltig schaffenden Geist. Ja, so still er daliegt, der große Meister, es umrauschen ihn wunderbar herrliche Töne, himmlische Melodien von gigantischer Größe!

Jetzt wendet er sich mühsam dem neben ihm schreibenden Süßmayer zu.

»Süßmayer« – sagt er dann mit matter Stimme »haben Sie die Fuge Quam olim nach meinen Angaben fertig geschrieben?«

»Ja, Maestro!« – versetzte der Angeredete mit einem schmerzlichen Blick auf den theuren Freund und Lehrer.

»Und haben Sie auch deren Anfang durch das Einfallen der Posaunen bezeichnet?«

»Ganz, wie Sie es angaben.«

»Lassen Sie sehen.«

Und Mozart nahm die dargereichten Blätter und sah das Geschriebene durch. Von Zeit zu Zeit nickte er dabei leise mit dem Kopfe, und ein mattes, ersterbendes Lächeln der Befriedigung flog über seine Züge.

Süßmayers Blicke ruhten mit unendlicher Wehmuth auf den Zügen des Freundes. Niemand wußte ja genauer, was die Welt hier in musikalischer Beziehung bald verlieren werde; – Niemand kannte ja die Größe, die Fülle dieses schöpferischen Geistes mehr, als er; Niemand hatte so, wie er, die Gelegenheit gehabt, sich staunend vor dieser Schöpferkraft zu beugen, vor dieser Schöpferkraft, die, fast schon mit dem Tode ringend, gewaltiger denn jemals im frischen freudigen Leben, gerade jetzt wieder, dem zerfallenen Körper zum Trotze, ihre Adlerschwingen mit Riesenkraft entfaltete. Er hatte ja eben noch die bewunderungswürdige Fuge: Quam olim nach den Notizen und Angaben des Meisters vollendet, und er wußte, daß während er an dieser schrieb, der nie rastende Geist Mozarts schon mit sich über das Sanctus einig geworden.[285]

Jetzt gab Wolfgang Amadeus die Notenblätter zurück:

»Ich danke Ihnen, lieber Süßmayer« – sagte er dabei milde und freundlich – »Sie haben mich verstanden und alles nach Wunsch gemacht. Es ist ein rechtes Glück, daß ich Sie habe. Sie müssen, sollte ich vor Vollendung des Requiems sterben ..... es nach meinen Angaben vollenden. Sie kennen ja meine Intention, .... und .... dort auf meinem Schreibtische ... da liegen die Papierstreifen, .... die meine Notizen und musikalischen Gedanken für ..... das Sanctus, Benedictus und Agnus enthalten.«

»Sprechen Sie nicht so, lieber theurer Maestro!« – sagte hier Süßmayer besorgt. – »Sie werden alles selbst vollenden und noch andere die Welt zu Staunen und Begeisterung hinreißende Werke.«

Mozart schüttelte mit dem Haupte. – »Er kommt zu schnell, der leidige Tod!« – flüsterte er dann leise und besorgt, damit es Constanze nicht höre. – »Wir haben keine Zeit zu verlieren .... Geben Sie mir einen Streifen Notenpapier und mein Bleistift, .... ich habe da einen herrlichen Gedanken für das ›dona eis requiem‹ .... für das: gieb ihnen ewige Ruhe des ›Agnus Dei.‹«

Süßmayer reichte ihm Papier und Bleistift.

»Sehn Sie,« – fuhr Mozart dann fort – »das ist die Figur des Accompagnements ..... sie muß die ganze Majestät des Todes und der Ewigkeit ausdrücken!« .... Dann will ich hier die vierstimmigen Sätze für das »Dona eis requiem« ...... und die Ritornells bemerken. Merken Sie wohl, lieber Süßmayer, welchen Gedanken ich damit verbinde; es ist der Gedanke der Kirche selbst ..... Im Offertorium heißt es: »Sed signifer sanctus Michael repraesentat eas in lucem sanctam« .... »Hoch erhebe der heilige Engel Michael sein Panier, und führe sie hinauf in's ewige Licht ein.« Hören Sie nun wohl, Lieber ... hier muß also der Gedanke festgehalten und musikalisch ausgedrückt werden: »daß Engel ... die Seelen der Hingeschiedenen .... zu Gott tragen.«

Mozart war erschöpft; – sein Haupt sank zurück; – er winkte Süßmayer an seine Arbeit zu gehen und schloß die Augen.

Der Schüler gehorchte und der Meister hatte sich nach einiger Zeit so weit erholt, daß er die ebenerwähnten Notizen mit Bleistift auf das Papier werfen konnte.[286]

Alles war wieder still, nur das Feuer knisterte. Mozart und Süßmayer schrieben; Constanze saß – den Gatten nicht zu stören – entfernt und schien zu arbeiten; aber es arbeitete nur eines in ihr, ihr Herz, das vor Sorge, Angst und Kummer zerspringen wollte.

Aber die Erschöpfung gewann unter dem Arbeiten wieder die Oberhand; nach einer halben Stunde mußte Mozart Papier und Bleistift wieder zurücklegen ..... ein leichter Schlummer senkte sich zu ihm nieder.

Als Wolfgang Amadeus erwachte, saßen – außer Süßmayer – Constanze und seine Schwägerin Sophie Weber, die mit liebevoller Besorgniß sich mit der Schwester in seine Pflege theilte, an seinem Bette. Auch Stadler und Schack waren gekommen, um sich nach dem Befinden des theuren Freundes zu erkundigen.

Mozart lächelte freundlich, als er die kleine Versammlung überblickte:

»Ihr seid doch treue Seelen!« – sagte er dann – »daß Ihr mich altes, verfallenes Haus noch so pflegt und hätschelt. Es giebt also doch auch Freunde, die in trüben Zeiten aushalten.«

»Aber, liebes Herz,« – versetzte Constanze – »glaubst du denn nicht, daß wir Alle, die dich lieben, für dich und mit dir freudig durch alle Trübsale des Lebens gingen?«

»Ja, ich glaube es!« – sagte Wolfgang Amadeus mit einem Blick innigster Liebe auf seine Umgebung, indem er jedem der Anwesenden seine Hand reichte. Ach! wie war aber diese sonst so schöne Hand jetzt so welk und abgezehrt. Schack erblaßte, als er sie sah; war es ihm doch, als habe der Tod hier schon sein Recht geltend gemacht.

»Lieber Freund,« – hub jetzt Abt Stadler an – »die Freundschaft, die uns an dich kettet, ist kein Verdienst für uns. Das ganze Leben des Menschen ist ein fortgesetzter Kampf; wir haben ihn zu bestehen, ob wir wollen oder nicht. Aber eine gewisse Zuversicht und Sicherheit mitten in diesem Kampfe müssen wir uns doch bewahren, wenn wir des Sieges und nicht des Unterganges gewiß sein wollen. Es ist dies die innere Zuversicht und die innere Sicherheit, die uns treue Liebe und aufrichtige Freundschaft giebt.«

»Es ist wahr,« – versetzte Mozart leise – »kein Herz ist so stark, daß es im Kampfe mit seinen Widersachern nicht[287] verzagte, wenn es allein und verlassen steht in seinem Streite; .... wenn ..... kein Freundeswort ermuthigt zum standhaften Ausharren .... keine Freundeshand hilft, den .... übermüthigen Feind zu demüthigen.«

»Darum schließen sich auch zur Zeit der Anfeindung verwandte Herzen so leicht aneinander!« – fuhr Stadler fort, da es ihm darauf ankam, den Patienten etwas zu zerstreuen. – »Aber es bindet sie auch noch etwas anderes, und dies ist ein gleiches Streben nach gleichem Ziele.«

»Gewiß!« – fiel hier Schack ein – »was knüpft uns Menschen enger an einander, als gleiche Begeisterung, gleiches Streben, gleiche Gefahren und gleiche Siege. Ein Blick auf den Freund macht uns sicher und fest, wenn wir wanken; ein Blick auf den Freund lindert den Schmerz jeder empfangenen Wunde; ein Blick auf den Freund stiebt uns Zuversicht, Muth und Kraft zum Siege.«

»Nun!« – sagte hier Mozart trübe – »so laßt mich auf Euch blicken, Ihr Freunde, daß auch ich Muth und Kraft zum baldigen Siege finde. Versprecht mir ...... wenn ich sterbe .... mein Weib und meine Kinder nicht zu verlassen.«

»Wolfgang!« – rief hier Constanze und Thränen stürzten aus ihren Augen.

»Sei ruhig, liebes Kind!« – sagte dieser – »es wäre kindisch und unklug, sich hier zu täuschen .... und du wirst des Rathes und der Stütze der Freunde sehr bedürfen, ..... denn leider, leider vermag ich dir ..... trotz allem Schaffen und Kämpfen und Ringen .... nur Sorgen .... zu hinterlassen.«

»O Wolfgang, sprich nicht davon!« – rief Constanze schluchzend; aber sie konnte nicht weiter sprechen, denn sie wußte, daß wenn Mozart jetzt sterben würde, sie nicht mehr das Geld im Hause hätte, ihn anständig begraben zu lassen.

In diesem Augenblicke klopfte es leise an der Thüre und zwei Personen traten ein: Seyfried und das Dienstmädchen. Beide brachten etwas: ersterer ein, im Contrast mit dem Krankenzimmer und Mozarts Lage sehr freudestrahlendes Gesicht, und letzteres drei Briefe, die der Postbote eben abgegeben.

Die Briefe waren an den Kranken. Sophie reichte sie ihm auf das Bett und Mozart erbrach sie mit zitternder Hand.[288]

Aber während er einen nach dem andern las, bedeckte bald Blässe, bald Röthe sein Gesicht, – die Augen leuchteten fieberhaft auf – ein Schimmer der Freude übergoß seine Züge .... aber es war nur ein Moment; dann strich er sich langsam mit der kleinen, weißen, abgemagerten Hand über die Stirne und mit dem Ausdruck der tiefsten Trauer lispelte er kaum vernehmbar: – – »Es ist zu spät!« Die Briefe entglitten ihm und die Augen schließend, lehnte er sich, von einer allzustarken Gemüthsbewegung überwältigt, langsam in Constanzens Armen zurück.

Entsetzen hatte sich aller Anwesenden bemächtigt – – athemlos standen sie da – – Mozarts letzten Seufzer erwartend. Aber noch stand der Zeiger seiner Lebensuhr nicht still! Nach einigen Minuten schlug Wolfgang Amadeus die Augen wieder auf, – ja – ein Lächeln spielte um seine Züge, als er zu Constanzen sagte:

»Du behältst .... wieder einmal .... Recht. Das Glück kommt .... nur etwas spät. Lies die Briefe.«

Constanze gehorchte: eine der ersten Bühnen Deutschlands bot dem Componisten der »Zauberflöte« unter glänzenden Verhältnissen die Direction ihrer Capelle an; – die beiden anderen Briefe waren aus Preßburg und Amsterdam und brachten Mozart Anträge gegen ansehnliches Honorar periodische Arbeiten von verschiedener Gattung, musikalische Miscellaneen, zu liefern.91

Das Staunen – aber auch der zerschmetternde Gedanke, in welchem Momente diese Wendung des Geschicks in des großen Meisters Leben eintrete – war so allgemein, daß eine Todtenstille eintrat.

Seyfried fand zuerst das Wort:

»Nein!« – sagte er mit jugendlichem Ungestüm – »das ist doch unendlich seltsam! Wissen Sie, warum ich fast athemlos hierher geeilt bin? Ich hoffte unserem edlen, lieben Freunde, meinem theuren Lehrer, eine köstliche Medicin zu bringen; eine Freudenbotschaft, die ihm hoffentlich die alte Lebenslust und Lebenskraft zurückgiebt: der Magistrat von Wien hat ihn zum Capellmeister der Kathedrale von St. Stephan ernannt, zu einer Stelle, die, wie Sie Alle wissen, nicht nur sehr ehrend ist, sondern mit welcher auch ein bedeutender Gehalt und[289] beträchtliche Nebeneinkünfte verbunden sind.92 Hier ist das Dekret! Mein Ohm, der Mitglied des Magistrats ist, hat mir die Freude nicht vorenthalten wollen, es selbst meinem theuren Lehrer zu überreichen.«

Und Seyfried reichte das Papier Mozart hin.

Alle standen sprachlos. Mozart öffnete sein Anstellungsdekret langsam; aber während seine Augen, die Zeilen überfliegend, sich mit Thränen füllten, sagte er kopfschüttelnd:

»Es ist zu spät!«

Aber plötzlich überwältigte ihn das Gefühl; das furchtbar Tragische seines Geschickes trat in seiner ganzen Größe vor seine Seele; sein Herz durchbohrte ein unnennbarer Schmerz und sich aufrichtend, rief er unter Thränenströmen:

»Jetzt! jetzt soll ich fort, da ich ruhig leben könnte! jetzt meine Kunst verlassen, da ich nicht mehr als Sclave der Mode, nicht mehr von Speculanten gefesselt, den Regungen meiner Empfindungen folgen, frei und unabhängig schreiben dürfte, was mein Herz mir eingiebt! Ich soll fort von meiner Familie, von meinen armen Kindern, in dem Augenblicke, da ich im Stande gewesen wäre, für ihr Wohl besser zu sorgen!« 93

Und er sank laut weinend in die Arme seiner Gattin, die ihre Thränen mit den seinen mischte. Aber auch bei den Umstehenden blieb kein Auge trocken. Tief, tief schnitt das tragische: »Es ist zu spät!« in Aller Herzen. Zu zerschmetternd und niederdrückend war der Gedanke: daß dies ganze, herrliche Leben vergebens nach dem gerungen, was das Geschick jetzt bot .... da, durch das Hervorbringen übermenschlicher Werke, alle Lebenskräfte bereits erschöpft waren.

O schneidende Ironie des Lebens! ..... Gerade jetzt gewöhnt der allgemeine Beifall, den die »Zauberflöte« in allen Ländern und in allen Ständen erntet, das deutsche Volk daran, den Namen Wolfgang Amadeus Mozart mit Stolz auszusprechen; bereits erbleichen alle gleichzeitigen Berühmtheiten vor seinem wunderbaren Gestirne; noch einige Jahre und dies Gestirn überstrahlt mit seiner Unermeßlichkeit[290] und der Fülle seines Glanzes den ganzen musikalischen Horizont Europas. Selbst das Glück, müde und beschämt, den großen, herrlichen Mann länger zu verfolgen, reichte ihm die Hand zur Versöhnung – es winkt freundlich die Belohnung irdischen Strebens ..... da schlägt es »Mitternacht voll«! ..... der Zeiger stockt ..... und mit dem Seufzer: »Es ist zu spät!« sinkt Mozart auf sein Todtenbett zurück! – – –

Quelle:
Heribert Rau: Mozart. Ein Künstlerleben. Berlin 4[o.J.], S. 282-291.
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