Fünftes Kapitel.

Die französische Oper.

Schon der veränderte Ursprung, auf welchen die französische Arie zurückweist, giebt ihr eine von der der italienischen abweichende Entwickelung. Sie ging direct aus den, im Anfange des 17. Jahrhunderts am französischen Hofe sehr beliebten Ballets hervor. Es waren dies nicht etwa nur aus Einzeln-Tänzen und mimisch plastischen Gruppen bestehende Gesammt-Tänze, sondern sie waren zugleich mit Dichtung, Musik und Gesang verbunden, und wurden von den höchsten Kreisen der Gesellschaft mit Vorliebe gepflegt. Man darf sie als die Ausläufer der Tourniere, dieser ritterlichen Passionen des Mittelalters ansehen. Diese wurden im Laufe der Zeit zu sogenannten Caroussels (Scheintournieren und wirkliche Spiele) umgestaltet, die man dann auch mit abenteuerlichen phantastischen Aufzügen verband. Indem man ihnen eine bestimmte Handlung zu Grunde legte, entstanden die sogenannten Inventionen und Masqueraden, aus denen steh dann wiederum, und in Frankreich zuerst, die Ballets entwickelten, in denen mit dem Tanz auch Dialog, Einzelgesänge und Chöre sich vereinigten. Schon 1581 wurde zur Hochzeit des Herzogs von Joyeuse mit Mademoiselle de Vaudemont ein Ballet von Baltazarini: Ballet comique de la [91] rayne rempli de diverses divises, mascarades, chanson de musique et autres gentilleses mit Musik von Beaulieu und Salomon (Musikern der königl. Kapelle) aufgeführt. Dies scheint der Anfang der sogenannten Ballets héroiques und historiques zu sein, die dann von den französischen Componisten und vor Allem von Lully zu der französischen Oper weiter gebildet wurden. Es ist bekannt, daß Lully nicht die erste französische Oper schrieb, dies Verdienst beansprucht vielmehr Cambert (geb. 1628 zu Paris), der die Musik zu des Abbé Perrin Schäferspiele: »La pastorale« setzte, das als erste französische Oper auf dem Schlosse Issy mit solchem Erfolge aufgeführt wurde, daß beide Autoren noch mehrere derartige Werke folgen ließen, wie »Ariane ou le mariage de Bacchus« und »Adonis«. 1668 erhielt Perrin einen königl. Freibrief, der ihm das Recht der ausschließlichen Veranstaltung von derartigen theatralischen Aufführungen gewährte. Er errichtete in Folge dessen 1671 die erste stehende Opernbühne in Paris und eröffnete sie mit dem von ihm gedichteten und von Cambert mit Musik versehenen Schäferspiele: »Pomona«, aber noch in demselben Jahre mußte er sein Privilegium an Lully abtreten, der nun die Weiterbildung der neuen Form im national-französischen Sinne mit großer Energie verfolgte. Er eröffnete das Theater mit: »Les fêtes de l'Amour et de Bacchus«, das mit Hülfe des Dichters Quinault aus den beliebtesten Stücken seiner Ballete zusammengesetzt war. Der Erfolg war ein günstiger und schon im Jahre 1673 folgte als erste Tragédie lyrique des französischen Theaters die Oper »Kadmus«, Tragédie en cinq actes, zu welcher ihm Quinault den Text dichtete. In derselben Weise bearbeitete der Dichter »Alceste« (1673), »Theseus« (1675), »Carnaval« (1675), »Atys« (1676) und »Isis« (1677), welche Lully componirte und inscenirte. Dann verband dieser sich mit Thomas Corneille, der ihm die Texte: »Psyche« (1678) und »Bellophoron« (1679) schrieb. Im folgenden Jahre finden wir Lully wieder mit Quinault vereinigt, der ihm die Texte zu »Persee« (1682), »Phaëton« (1683), »Amadis« (1686), »Roland« (1685), »Armide« (1686) u.s.w. dichtete.

[92] Lully's Opern verleugnen keinen Augenblick ihren eigentlichen Ursprung. Die ganze Gattung entsprang aus Spielen, welche zur Ergötzlichkeit und Unterhaltung der höheren genußsüchtigen Kreise der Gesellschaft bestimmt waren. Auch an dem Hofe Ludwigs XIV. galt die Oper nur als eine Art Vergnügung für die hohen Herrschaften; sie sollte nur, als außergewöhnliches Schauspiel, bestimmte Festlichkeiten ausschmücken und durch allerlei Künste ergötzen. Dem entsprechend werden auch die antiken Stoffe dem Gelüste der Zeit und speciell des Hofes gemäß umgeschmolzen. Die alte Fabel wurde den besonderen Neigungen und Liebhabereien des Hofes dienstbar gemacht und nicht selten zu den plumpsten Schmeicheleien für den König benutzt. Und hierbei verfuhr man selbst schon mit einem gewissen Raffinement. Der Poet schlug mehrere Stücke vor, aus denen dann der König wählte, darauf entwarf der Dichter den Plan, der dann der Censur Lully's unterworfen wurde, welcher nach Gutdünken änderte und die Decorationen und Tänze bestimmte. Dann erst begann der Poet die Ausführung, und wenn diese noch der Akademie zur Beurtheilung vorgelegen hatte, begann Lully seine Arbeit, während welcher der Dichter meist noch durchgreifende und umfassende Veränderungen vornehmen mußte. Darnach bot der Text in der Regel nicht viel mehr als die dürftige Grundlage für Musik und äußeres Schaugepränge; und dem entsprechend sind die Instrumentalsätze, die Tänze und Märsche, die Ouverturen und Ritornelle der Opern Lully's meist bedeutender als die Vocalsätze, einzelne Chöre ausgenommen.

Seine Recitative entbehren fast durchweg des melodischen Reizes, den wir doch an denen der Italiener fanden; Lully notirt meist ziemlich trocken nur die Sprachaccente, ohne besondere charakteristische Intervallenschritte; durch Tactwechsel sucht er etwas lebhafteres Interesse zu erwecken:


[93] Aus: Phaëton. Scène III.


5. Kapitel

5. Kapitel

[95] Dieser rhythmische Wechsel wird häufig auch in der Arie fortgesetzt; sie bietet meist noch weniger charakteristische Momente dar, als das Recitativ. Die Texte der Arien enthalten in der Regel nichts weiter, als witzig zugespitzte Sentenzen aus der Lebensphilosophie jener Zeit, Liebes- und Lebensregeln, welche weder die breitere melodische Entfaltung, noch auch die erhöhten Gefühlsmomente erfordern, die wir bei den Italienern finden. Die Arien Lully's sind vorwiegend im knappsten Chansonstil gehalten, so daß die meisten ohne Weiteres auf der Straße ihr dankbares Publikum fanden, und sie haben so unterschied- und charakterlose Physiognomien, daß die fromme Guion im Kerker zu Vincennes mehrere ihrer mystischen Lieder nach den Melodien Lully'scher Opern-Arien dichten konnte. Das gilt auch von den Chören. Fast alle Völker des griechischen Alterthums werden uns vorgeführt, aber sie, wie die Nymphen, Najaden und Amazonen seiner Opern, tragen alle dasselbe Costüm, das seiner Zeit. Entgegen der Praxis der italienischen Operncomponisten, die bald Alles ausschieden, was der nationalen Luft an jener Gefühlsschwelgerei – die jede dramatische Entfaltung aufhebt und das dramatische Kunstwerk in einzelne Gefühlsausbrüche auflöst, nicht die gehörige Rechnung trug, weiche die Arie und zwar die möglichst reich colorirte zur Hauptsache machte, nur spärlich zwei- und noch seltener mehrstimmige Solosätze einführt, und den Chor auf das geringste Maß beschränkt oder ganz ausweist, cultivirt Lully alle Formen, aber in der knappsten, dramatisch schlagfertigen Gedrängtheit. Arien, Chöre und Ballete, ja selbst Anfänge von Ensemblesätzen greifen geschickt und wirksam zusammengefügt in einan der, und damit überliefert er jenen Meistern, welche nach dramatischer Wahrheit rangen, den vollständig ausreichenden technischen Apparat, den sie zu einem lebendigen Organismus beseelten. Lully führte seine Gesänge und Instrumentalsätze meist in der knappen Form des Tanzes ein, die seinen Zielen natürlich am meisten entsprach. Dabei gewinnt das Instrumentale bereits eine gewisse Bedeutung. Er schreibt als Einleitungssatz keine Sinfonie wie die Italiener, sondern eine Ouverture (Eröffnungsstück), die zum Prologue gehörte. Bei [96] seinen Balletten ist dies häufig nur ein »Prelude«, wie zu »Achille e Polixene«, das nur aus 15 Tacten besteht. Ja er begnügt sich selbst mit einer Intrata, die nichts weiter ist als die Wiederholung desselben Accordes durch mehrere Tacte. Das Ballet: »Le Temple de la Paix« (1685) hat dagegen eine Ouverture in der Form, die feststehend bei ihm wurde. Einem kurzen langsamen Satze (12 Tacte) folgt ein Satz von raschem Tempo (6/8-Tact) weiter ausgeführt, diesem dann ein kurzer langsamer, worauf der rasche Satz (daher Reprise genannt) wiederholt wird. Dieser erscheint demnach als Hauptsatz, dem die langsamen als gegensätzliche Einleitung dienen. In derselben Weise ist die Ouverture zu »Iris« angelegt, der rasche Satz ist fugirt – ebenso die zu »Atys« oder zu »Armida«. In der Ouverture zu »Phaëton«, zu »Amadis«, zu »Belerophon« findet kein Tactwechsel statt. Der Gegensatz ist dadurch hergestellt, daß im zweiten Theil Notengattungen von geringerem Werthe verwendet werden. Die Anordnung dieser Sätze legt demnach bereits entschieden das Bestreben dar, in Gegensätzen zu wirken, das den breiteren zusammengesetzten Instrumentalsätzen Form giebt und dieselben beherrscht.

Das Streichquartett bildet auch beim Lully'schen Orchester die Grundlage, Recitativ und Arie sind aber meistens nur mit dem bezifferten Baß versehen, wurden also mit einem Tasteninstrumente begleitet. Doch erhalten die Arien größtentheils eine Instrumentaleinleitung, die der Arie nah verwandt ist, und die dann am Ende als Postludium, meist verkürzt wiederkehrt.

Länger als ein halbes Jahrhundert nach Lully's Tode (1687) beherrschten seine Opern die französische Bühne und seine Söhne Louis und Jean Louis wie seine Schüler, von denen unstreitig Pascal Colasse der bedeutendste ist, wirkten in seinem Sinne weiter. Marin Marais (1650–1718) führte die französische Oper schon bedeutsam über Lully hinaus; in seinen. Recitativen schließt er sich noch sclavisch an Lully an, aber in den Arien erhebt er sich zu größerer melodischer Freiheit und zugleich auch zu größerer dramatischer Wahrheit. Ihm schlossen sich dann eine Menge Anderer an, wie: Desmarets, Charpentier, [97] Gervais, Campra, Destouches, Monteclair u.A. Sie bildeten den Stil weiter, der selbst auf Joh. Seb. Bach nicht ohne Einfluß blieb.

Mit dem Jahre 1734 trat wiederum ein Umschwung ein durch Jean Baptiste Rameau (1683–1764). Er faßte mit großer Kraft und dem feinsten Verständniß alle die, durch die Einzelbestrebungen der genannten Meister gewonnenen Neuerungen und Erweiterungen zusammen, indem er zugleich wieder auf die knappen Formen von Lully zurückging. Das, was Rameau's Opern die erhöhte Bedeutung giebt, sie aber auch zum Gegenstande der heftigsten Angriffe seiner Zeitgenossen machte, ist die reichere Harmonik, mit der er sie ausstattet, durch die er ihren inneren Gehalt und ihre Ausdrucksfähigkeit vertiefte. Seine Vorgänger seit Lully auf diesem Gebiete waren allmälig von dem ursprünglich knappen Formalismus desselben abgegangen, zum Theil in dem Bestreben, größere dramatische Wahrheit zu erreichen; und sie waren dabei auf den weitschweifigen Mechanismus der italienischen Oper gerathen. Rameau geht wieder zurück auf die ursprünglich knappen Formen der französischen Oper, aber er trägt zugleich alle Elemente der musikalischen Darstellung, welche mittlerweile auf den anderen Gebieten durch die Bestrebungen der Instrumentalisten wie durch seine eigenen Untersuchungen gewonnen waren, und die sich für dramatischen Ausdruck verwerthen ließen, auf die Oper über.

In den Recitativen schließt sich Rameau dem »Recitatif mesure« Lully's an, aber wie er selbst in der Vorrede zu: »Les Indes galantes« (Paris 1745) sagt: non en Copiste servile, mais en prenant, comme lui, la belle et simple nature pour modèle. Hier namentlich zeigt Rameau sein tiefes Verständniß für wirksame Unterstützung durch die Harmonik.

Auch die Arienform der französischen Oper hatte allmälig mehr die der italienischen Opern angenommen. Rameau führte sie meist wieder zurück auf die nationale Form des Rondeau; und indem er ihr zugleich die reichere Melismatik der italienischen Arie einwebt und sie mit seinen bedeutenderen harmonischen Mitteln ausstattet, wird sie schon eine wirkliche Macht dramatischer Darstellung. Wo er ganz bewußt[98] den italienischen Arienstil anwendet, bezeichnet er die Arie als solche mit Air italien, wie in der Oper: »Les Indes galantes«. Auch die Recitative sind nicht selten schon sein abwägend instrumentirt, namentlich aber weiß er die Wirkung der Arien durch eine gewählte Instrumentation zu erhöhen. Diese erhält durch eine vorwiegend polyphone Führung eine weit größere Gewalt dramatischer Wirkung, besonders gelingt es ihm, durch die selbständigere Einführung der Rohrblaseinstrumente dem Streichquartett gegenüber reizende Wirkung zu erzielen. Mit ganz besonderer Sorgfalt behandelt er endlich den Chor und die Ensem blesätze, denen er durch die kunstvollste Polyphonie oft seltene dramatische Gewalt zu geben weiß.

So erscheinen Rameau's Opern entschieden als die ersten Versuche, den französischen Opernstil Lully's mit dem der Italiener zu verschmelzen, um so den dramatischen Stil überhaupt zu finden. Wie vertraut er mit den Mitteln der italienischen Oper war, das beweisen nicht nur die Arien, welche er als im Stil derselben gehalten bezeichnet, sondern seine Arien, Duette und Chöre überhaupt. Dennoch gelangte er durch alle diese Bestrebungen nur zur feineren Detailmalerei. Es entgeht ihm selten ein Zug, der musikalisch näher zu erläutern ist; aber er vermochte nicht auch diese einzelnen Züge einheitlich zusammenzufassen, so daß die Personen uns in bestimmten Charakteren, die Handlung sich in abgeschlossenen Situationen auch musikalisch darstellt. Diese letzte Bedingung sollte für die Bühne erst jener deutsche Meister erfüllen, der sich ebenso der Vorzüge der italienischen Cantabilität, wie der französischen Declamation bewußt worden war, und beide dann seiner tieferen Erkenntniß dramatischer Erforderniß dienstbar machte: Christoph von Gluck.

Daß Gluck Rameau's Bestrebungen kannte und daß sie nicht ohne Einwirkung bei ihm geblieben waren, ersahen wir bereits aus seinen Opern: »Telemacco« und den nachfolgenden, wie »La Clemenza di Tito« oder: »L' Innocenza giustificata«.

[99] Direct fördernd wirkten dann jene bereits erwähnten leichten französischen Operetten wie die Einlagen zu denselben, die Gluck in jener Zeit für den Wiener Hof schrieb.

In der sorgfältigen Ausbildung der Sprach-Accente zum Recitativ und der knappen Fassung der Vocal-und Instrumentalformen hatte die französische Oper die hauptsächlichsten Erfordernisse der komischen Oper gewonnen, und die »Agrements«, welche in den Gesängen und Instrumentalstücken der französischen Oper so ausgedehnt zur Verwendung kamen, sind für den Ausdruck der übermüthigen Laune und naiver Schalkhaftigkeit vielmehr geeignet, wie für die Stimmung der seriösen Oper. Als sich dann das französische Recitativ der komischen Wirkung hinderlich erwies, denn auch die sein zugespitzteste musikalische Recitation hindert den sprudelnden Witz des Dialogs, wurde dies einfach ausgeworfen und wich dem gesprochenen Dialoge.

Der eigentliche Anstoß hierzu ging wieder von Italien aus, denn die Oper von Jean Jacques Rousseau: »Devin du village« fällt hierbei kaum ins Gewicht. Rousseau hatte mit ihr nur die schwungvolle große italienische Cantilene ins Französische übersetzt, für die gefühlvollen Pariser seiner Zeit gehörig verschnitten. Die französische Oper von Lully und Rameau verstand Rousseau so wenig, daß er die Möglichkeit einer französischen Musik überhaupt bestritt; erst durch Gluck scheint ihm das Verständniß einer solchen eröffnet worden zu sein.

Durch die italienischen Sänger, welche 1752 nach Paris kamen und im Saale der großen Oper komische Opern aufführten (daher Les Buffons genannt), wurde auch die französische Oper in diese neue Bahn gelenkt. »La serva padrona« von Pergolese – »Il giocatore« von Orlandini – »Il maestra di musica« ein Pasticcio – »La finta Cameriera« von Atella – »La Zingara« von Rinaldo da Capua – »Il paratagio« von Jomelli – »I viaggiatori« von Leo u.s.w. waren die Opern, welche die Buffonisten innerhalb zweier Jahre in Paris aufführten und zwar unter ungeheuerem Beifalle [100] der Pariser. Die Anhänger der nationalen Musik aber traten entschieden gegen diese Buffonisten auf, die wiederum an hervorragenden Männern ihre eifrigsten Verfechter fanden. Jene wußten es durchzusetzen, daß die Buffonisten 1754 Paris verlassen mußten. Unterstützt wurden die Anti-Buffonisten noch durch den Erfolg, welchen die französische Oper »Titon et Aurore« von Mondonville hatte. Doch erst Egidio Romoaldo Duni (1709–1775) – ein Neapolitaner – ist als der erste der neuen französischen Schule zu betrachten, welche in dem bereits angedeuteten Sinne der Opera buffa mit den Mitteln der national-franzö sischen Oper eine wirklich nationale Bedeutung gab, die dann als Opéra comique die begünstigte und glückliche Rivalin der großen französischen Oper wurde.

Das neue Genre bot natürlich dem schaffenslustigen Dilettantismus ein weites Feld für erfolgreiche Arbeit. Die große Oper erforderte immer noch einen nicht geringen Grad contrapunktischer Fertigkeit; wir finden die bisher genannten Operncomponisten Frankreichs auch auf dem Gebiete der Kirchenmusik, in Motetten und selbst Oratorien thätig und einige zeigen sich hier als ganz bedeutende Contrapunktisten. Derartige Studien erwiesen sich jetzt als unnöthig und der unstreitig bedeutendste unter den französischen Componisten der komischen Oper Grétry warnt geradezu die Musiker von Talent viel zu lernen, weil sie damit ihrer Einbildungskraft, ihrer Phantasie schaden. Der unmittelbarste Nachfolger von Duni, Pierre Alexandre Monsigny (auch Moncingni, 1729–1817) war ursprünglich Dilettant und innerhalb fünf Monaten hatte er sich die nöthigen Kenntnisse angeeignet, um eine Oper zu schreiben, die mit vielem Beifall in Scene ging.

Der Dritte, welcher mit Duni und Monsigny lange Zeit die komische Oper in Frankreich beherrschte, François André Dunican – genannt Philodor – war zwar für Musik erzogen, allein für tiefere Studien war auch ihm wol wenig Zeit geblieben.

Seit dem Jahre 1768 machte diesem dann der unstreitig bedeutendste Vertreter dieser Richtung André Ernest Grétry (1741–1813) [101] die Herrschaft streitig. Er besaß die Fähigkeit, gesangreiche und charakteristische Melodien zu erfinden in weit höherem Grade als jeder der erwähnten Vorgänger und nach seinem eigenen Geständnisse hatte er sie namentlich dem Studium der Italiener zu verdanken. Mit dieser Melodik verband er zugleich die scharf accentuirende Declamation, die wir als wesentlichstes Erforderniß der komischen Oper erkannten, und so gewann er die lebendige picante Ausdrucksweise, welche mitten aus der Situation hervorgeht und mit welcher er allerdings auch seine gesammte Charakteristik bestreitet und komische Wirkung zu erreichen sucht. Die Harmonik, eben so wie Instrumentation reducirt auch er auf das knappste Maß und ausdrücklich warnt er in seinenMémoires ou Essais sur la musique (Paris) vor dem Mißbrauche der Instrumente, wie er ihn bei Gluck findet.

Wie erwähnt, war Gluck durch seine Stellung zum Wiener Hofe veranlaßt worden, auch diesen Stil derOpéra comique zu üben und zu pflegen und aus der Weise, wie er dies that, sollte man meinen, daß er Gefallen an dem Genre fand. Daß auch ihm Talent zur Komik nicht fehlte, konnten wir bereits wiederholt bemerken. In einzelnen dieser Operetten und Einlagen machte es sich in ganz überraschender Weise geltend. Er schließt sich hierbei der französischen Art der zwar knappen, aber nicht burlesken Declamation der Textworte auch bei den Arien an. Die italienische komische Oper erreicht hauptsächlich komische Wirkung durch den Gegensatz, in welchen die möglichst getragen ausgeführte, sentimentale Cantile zu dem rasch, mit größter Zungengewandtheit hergeplapperten Parlandogesange tritt. Die französische komische Oper dagegen sieht die komische Wirkung mehr in der prägnanten, aber doch melodisch geführten und meist sogar formell ziemlich festgefügten Declamation, und dieser Weise schloß sich auch Gluck an; aber er steigert zugleich die Wirkung dieses französischen Opernstils noch dadurch, daß er die Accente desselben viel sorgfältiger abwägt und abstuft, und mit der Gewalt der italienischen Melodik durchdringt; und indem er ferner sie zu viel festeren und zum Theil auch erweiterten Formen zusammenfügt, vermag er auch die [102] Personen in ganz anderer Weise zu charakterisiren, als dies in der italienischen und französischen Oper bisher geschah. Mehr fast noch, wie in der ernsten Oper beschränkt sich diese Charakteristik bei der italienischen Oper auf die einzelnen Stimmungen. Diese aus der Situation heraus zu schaffen und dann zu wirklich lebendigen Scenen zusammenzufassen, gelingt der komischen Oper der Italiener fast noch weniger, als der ernsten, und auch die französische Oper jener Zeit begnügt sich meist mit der Illustration der einzelnen Situationen und Scenen. Daher wurde es auch leicht, in unserer Zeit eine jener Gluckschen Operetten, »Le cadi dupé«, wieder lebendig zu machen, was mit »La serva padrona« von Pergolese nicht gelingen wollte. Trotz ihrer leichteren Musik, die uns an Gluck immerhin befremdlich erscheint, wirkt sie doch ganz anders durch den größeren Ernst der Charakteristik. Gluck illustrirt auch hier nicht nur den Text, sondern Personen und Situationen. Den leichteren Stoffen entsprechend, declamirt er auch leichter im Recitativ, wie in den mehr gesungenen Formen, aber er thut dies doch immer wie ein Meister des dramatischen Ausdrucks und dann sucht er instrumental nachzuholen, was er, der Natur der Stoffe entsprechend, vocal nicht erledigen konnte. In der ernsten Oper ist er immer zunächst darauf bedacht, den Ausdruck vocal schon so erschöpfend wie möglich zu gewinnen, so daß sehr häufig den Instrumenten wenig zu erledigen übrig bleibt; die leichtere Declamation in den Operetten giebt in der Regel nicht Raum genug zum erschöpfenden vocalen Ausdrucke, dieser muß dann instrumental gewonnen werden. Daher sind einzelne dieser Operetten verhältnißmäßig reicher instrumentirt, als die meisten bisher erwähnten ernsten Opern. – Zu ihnen gehört auch »L'arbre enchanté« und »La rencontre imprévue«.

Für Glucks eigene Entwickelung konnten diese Arbeiten nicht ohne Einwirkung bleiben. Sie vermittelten ihm jene Freiheit, mit welcher er die französische Sprache, an der er zunächst die Gewalt des neuen dramatischen Ausdruckes erproben sollte, behandeln lernte, und sie wurden ihm zugleich Vorstudien für eine freiere Verwendung des musikalisch-dramatischen [103] Ausdruckes selber. Daß er mit den Mitteln desselben vollständig vertraut war, konnte schon an verschiedenen Beispielen dargethan werden, aber noch erschien ihre Verwendung zu schwerfällig, um ungezwungene Wirkung auszuüben und zu verrathen, daß er vollständig über seinen Stoffen steht und sie beherrscht. Diese Fertigkeit zu erreichen, dazu halfen ihm jene leichteren Stoffe und ihre deshalb bequemere Behandlung außerordentlich, was noch später klar zu Tage treten wird.

Quelle:
Reissmann, August: Christoph Willibald von Gluck. Sein Leben und seine Werke. Berlin und Leipzig: J. Guttentag (D. Collin), 1882., S. 91-105.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Gellert, Christian Fürchtegott

Die zärtlichen Schwestern. Ein Lustspiel in drei Aufzügen

Die zärtlichen Schwestern. Ein Lustspiel in drei Aufzügen

Die beiden Schwestern Julchen und Lottchen werden umworben, die eine von dem reichen Damis, die andere liebt den armen Siegmund. Eine vorgetäuschte Erbschaft stellt die Beziehungen auf die Probe und zeigt, dass Edelmut und Wahrheit nicht mit Adel und Religion zu tun haben.

68 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon