Viertes Kapitel.

Glucks Opern italienischen Stils.

[39] Von den ersten Opern Glucks sind uns nur einzelne Arien bekannt; sie zeigen sämmtlich daß Gluck den ganzen Apparat der italienischen Oper vollständig beherrschte, und zwar in der Weise, wie er ihm namentlich durch Sammartini gelehrt worden war. Er hat nicht nur die Da Capo-Form der Arie einfach adoptirt, sondern auch eine ganze Reihe typischer Phrasen der ganzen Richtung, aber dabei macht sich doch auch schon ein individueller Zug geltend, der den jungen Tondichter als Deutschen kennzeichnet und die künftigen eigenen Wege desselben ahnen läßt. Die Arien aus »Artamene« sind alle nach demselben Muster angelegt und ausgeführt. Der Mittelsatz der Arien: 1) »Rasserena il mesto ciglio« (E-dur), 2) »Pensa asserbami« (D-dur) und 3) »E maggiore d'ogn' altro dolore« (A-dur) ist in der gleichnamigenMoll–Tonart gehalten; die der folgenden beiden 4) »Il suo leggiadro viso« (F-dur) und 5) »Se crudeli tanto siete« (A-dur) in der Parallel-Tonart; die 6) »Già presso al termine de suoi martiri« hat einen sehr kurzen Mittelsatz, der sich nach der Unterdominant wendet.

Der Ausdruck der Arien ist immerhin so, daß er dem Text nicht widerspricht, wenn er auch nichts thut, ihn näher zu erläutern. Wenn [39] man es nicht aus dem Text erführe, würde man kaum ahnen, daß die erste der Abschied eines Helden ist, der zum Tode geht:


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und auch die zweite würde man schwerlich ohne Text als den Abschiedsgesang eines Helden gelten lassen:


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[40] Der Ausdruck in beiden ist in der conventionellen, ganz allgemein gefaßten Weise der italienischen Oper gehalten, so daß er nicht im Widerspruch mit dem Inhalt des Textes steht, diesen aber auch nicht näher erläutert. Trotzdem gewinnt der Ausdruck doch schon einen höheren Grad der Innigkeit, als der, den wir bei den Italienern und selbst in den meisten Opern-Arien von Händel finden. Wir empfinden in diesen Arien schon etwas von jener Gefühlswärme, mit welchen Gluck dann später die Helden seiner Opern zu wirklich individuellen Persönlichkeiten belebte, als welche sie uns bei der italienischen Oper nicht erscheinen; jene Gefühlswärme, die ihn sogar in seinen späteren Opern dieser Periode manchmal wieder verläßt. Die dritte dieser Arien hat einen, der zweiten verwandten Stimmungsgehalt und veranlaßt Gluck zur Einführung eines reichen Coloraturgesanges. Die vierte besingt die Reize der Geliebten und dabei erhalten die Streichinstrumente erhöhten Antheil. Die fünfte bietet einen größeren Apparat von Figuren, um den Ausdruck zärtlicher Vorwürfe, welche die Geliebte dem Geliebten macht, damit zu illustriren. Die letzte ist jedenfalls die inhaltreichste.

In mancher Hinsicht bietet schon die erste Oper, die Gluck für Wien schrieb: »La Semiramide riconnosciuta«, einen bemerkenswerthen Fortschritt. Daß dieser nicht noch bedeutsamer ist, verschuldet wol einzig der Textdichter, der ihm weder eine lebendig bewegte Handlung, noch einige, von hohen und großen Ideen erfüllte Personen, nachzugestalten gab. Metastasio's »Semiramis« ist nicht die Städte erbauende, Völker unterjochende Königin, welche den eigenen Sohn verdrängt, um in seinem Namen mit gewaltiger Hand die Zügel der Regierung des großen assyrischen Reiches weiter führen zu können, sie ist vielmehr eine verliebte Intriguantin, in der kein Zug an die große Königin erinnert. Doch ist sie die einzige Person in der Oper, welche durch einen Anflug von lebenswahrer Empfindung unser Interesse erregt. Sie liebt Scytalkes – dem sie ihr Herz vor 15 Jahren in der Heimath zuwandte, wo er sich Idren nannte – noch, und diese Liebe bestimmt ihre Handlungsweise. Die anderen Personen: Tamyris, Sibaris, Myrtäus und Scytalkes, schwanken hin und her und das Gewirr von widerstreitenden [41] Interessen führt weder zu einem großartig tragischen Conflict, noch zu einer einzigen komischen Entwickelung; wir sehen es einfach vor unseren Augen in einem losen Nacheinander sich abspielen und dann in einer Doppelheirath sich auflösen. Nirgend schlägt dabei der Textdichter den Ton tieferer Erregung an, Alles wird in den conventionellen Formen abgemacht. Von diesem Text konnte Gluck nicht lebhafter angeregt werden; wo er eine Situation tiefer erfaßt, thut er dies aus eigenem schöpferischen Antriebe.

Die einleitende Sinfonie der Oper ist ein Instrumentalsatz, der in seiner oberflächlich populären Haltung ganz und gar an Sammartini's Schule erinnert. Das erste Motiv des ersten Allegro:


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ist nicht weniger unbedeutend wie das zweite:


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[42] und die lose Art ihrer Verknüpfung giebt ihnen auch im ferneren Verlauf keine höhere Bedeutung. Der Mittelsatz wird durch die Energie, mit der er aus dem Motiv:


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entwickelt ist, etwas werthvoller, um so mehr verliert aber dann der Schlußsatz an Bedeutung, rein musikalisch betrachtet, wie in Bezug auf sein Verhältniß zur Oper. Er paßt zu einer lustigen Bauernhochzeit, nicht zu irgend einer, und wäre sie auch die fröhlichste Scene in einer ernsten Oper. Den Anschauungen der Zeit entsprechend, ist die Partie der Semiramis eine reich ausgestattete Coloraturpartie; der äußere Apparat [43] muß hiernach vielfach ersetzen, was an innerer Bedeutung fehlt. Eine Arie der Semiramis (Act II Scene XXII) tritt bedeutsam heraus: Tradita, sprezzata1. Scytalkes hat ihr Verrath vorgeworfen und sie singt ihren tiefen Schmerz in leidenschaftlicher Weise aus, unterstützt durch das wirksam eingreifende Orchester. Die Arie hebt sich auch der Form nach bedeutsam von der üblichen Da Capo-Arie ab; die Wiederholung des ersten Theils erfolgt in wirksamster Veränderung. Eine andere Arie der Semiramis: »Se amar volete« (Act I. 8.) ist außerordentlich weich, wenn auch nicht so ausdrucksvoll gesungen und die Instrumentalbegleitung, 2 Flöten, 2 Hörner, Violinen und 2 Violen, erhöhen ihre Wirkung.

Einzelne Arien sind auch bereits, wie die vorgenannte, mit größerer Sorgfalt, als sonst in der italienischen Oper angewendet wird, instrumental ausgeführt. Selbstverständlich lassen die Instrumente kaum eine Gelegenheit zu äußerlicher Situationsmalerei vorüber, wie hier beispielsweise bei der Arie des Ircano: »Talor se il vento freme«. Die in der Einleitung ausgeführte Malerei – Streichinstrumente und zwei Trompeten bilden das Orchester:


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[45] wird auch zum Gesange noch weiter fortgesetzt:


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[46] Bei den Recitativen betheiligen sich die Instrumente nur in vereinzeiten Fällen, wie an dem, der Arie des Scytalco: »Non saprai qual doppia voce« vorangehenden Recitativ. Die meisten sind Secco-Recitative, nur mit einem Baß begleitet. In der erwähnten Arie des Scytalco sind neben einer Solo-Geige und dem Solo-Violoncello auch die Hörner mehr selbständig geführt:


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[48] Wenige Tacte später übernimmt das Violoncello das Solo und darauf wieder die Voline, bis beide sich zu brillanter Weiterführung einigen. Auch als dann die Singstimme eintritt, werden beide Instrumente in derselben Weise als Solo-Instrumente weiter geführt.

Auch zwei Chöre enthält die Oper, die indeß durchaus keine dramatische Bedeutung gewinnen. Der erste leitet – im zweiten Act – die Scene ein, in welcher Tamiris unter den drei Freiern wählen soll. Er ist, obwol glückwünschend (Il piacer la gioja scenda, fidi sposi, al vostro cor), fast klagend gehalten und auch die immittirenden Zwischensätze der Freier: Scytalco und Ircano: »Aspra cura, atro sospetto« und des Scytalco und Mirteo: »Sorga poi prole felice« vermögen nicht, ihm höheres Interesse zu verleihen. Der zweite Chor ist ein, im Coupletstil gehaltener Gratulationsgesang in der herkömmlichen, denkbar einfachsten Weise.

Einige andere Arien, wie die des Scytalco: »S'intende si poco«, oder die im Menuettenstil gehaltene des Sibari2 mögen der anheimelnden Naivetät ihres Ausdruckes, die des Scytalco: »Voi, che le mie vicende« ihres energischen Charakters wegen Erwähnung finden, vor allem die Arie des Ircano: »Saper bramate« mit dem reizenden Mittelsatze:


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[49] der zum ersten Male jenen Ton anschlägt, welcher lange die bessere italienische Oper beherrschte und in unserem Jahrhundert, namentlich in Rossini, noch einmal die Welt entzückte.

Inmitten der bisher betrachteten und der noch später zu erwähnenden Opern Glucks im italienischen Stile, macht die, welche er 1750 für Rom schrieb: »Telemacco ossia L'Isola di Circe« einen nahezu befremdlichen Eindruck. Sie zeichnet die Grundzüge jenes echt dramatischen Kunstwerkes, zu welchem Gluck die Schablone der italienischen Oper fünfzehn Jahre später umgestalten sollte, mit so bestimmter, [50] sicherer Hand fest vor, daß man sich nicht weniger über die Klarheit, mit welcher er bereits sein Ziel erkannte, als über die Leichtigkeit, mit welcher er den eingeschlagenen ersten Weg, es zu erreichen, wieder aufgab, verwundern möchte. Die Ouvertüre der Oper, deren Instrumentation schon darauf hindeutet, daß Gluck bereits den Prinzipien der französischen Oper Einfluß gestattete, ist noch vorwiegend im Stile Sammartini's gehalten, wenigstens in den Hauptmotiven, wie dies:


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[51] und das des anschließenden Allegro:


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[52] Erst im weiteren Verlaufe gewinnt die ganze Arbeit ernsteren Charakter und sie zeigt dann bereits solche Stellen, die weder Sammartini, noch andere der gleichen Richtung kannten und wagten.

Nur in dieser energischen Verarbeitung wurde die Ouvertüre immerhin bedeutsam genug, daß Gluck sie seiner späteren Oper mit dem verwandten Stoff der »Armida« einverleibte. Die an die Ouvertüre anschließende Pantomime leitet die erste Scene ein, die ein vollständig zusammenhängendes Ganze bildet, sich also schon nach dieser Seite wesentlich von der italienischen Oper unterscheidet. Dabei ist der Ausdruck eben so knapp wie in dieser und zugleich klangvoller ausgestattet. Die Recitative sind fast durchweg in der Oper mit sorgfältiger Berücksichtigung des Inhaltes wirksam declamirt und vielfach treten die Instrumente (Streichinstrumente) hinzu, um näher zu erläutern und zu illustriren. Der an jene Pantomime anschließende Solosatz der Circe, Asteria und des Telemach wie der folgende zweite mit Chor sind zwar mir den Mitteln italienischen Gesanges ausgeführt, aber doch viel knapper gehalten. Charakteristisch ist schon der Spruch des Orakels, wenn auch noch nicht so, wie später in der Alceste, und auch der anschließende Chor:


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[53] sollte dort großartigere Einführung finden. Die Arie der Circe: »In mezzo a un mar crudele« ist dagegen ganz in der Weise der Bravour-Arie der italienischen Oper ausgeführt. Anmuthig sein und knapp wirkt das nun folgende Terzett (Asteria, Meriones und Telemach) mit dem Horn-Solo. In dem Recitativ des Meriones ist namentlich die innige Melodie des »Ah crudel per che ti piace« bei ihrer Wiederkehr mit anderem Texte von großer Wirkung. Knapp und äußerst charakteristisch ist auch die folgende Arie Telemachs. Auch der Monolog der Asteria enthält manchen seinen Zug echten Gefühlsausdruckes. Die fünfte Scene (Circe e Ulisse) wird wieder in der einfachsten Weise declamirend gesungen.

Mehr aber als alles bisher Angeführte deutet der nun folgende Chor der Zaubergefangenen, welcher den vordringenden Telemach mahnt, den Ort der Schrecken zu verlassen, darauf hin, daß der Meister sich in dieser Oper dem Einflusse Rameau's unterstellte:


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[58] Zu einer solchen Harmonik konnte Gluck jener Zeit nur durch Rameau angeregt werden, der mit ähnlichen harmonischen Wendungen gleiche Effecte erreichte. Diesem Chore entspricht dann weiterhin die Behandlung der Frage, mit der Telemach von den Unsichtbaren Kunde über seinen Vater fordert:


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[61] Aus dieser Stelle erwuchs bekanntlich später unserem Meister die Einleitung zur Iphigenie in Aulis. Ein Recitativ leitet dann hinüber zu der Arie des Telemach, in welchem er den Geist seines Vaters verehrt; sie ist eine der bedeutendsten aus dieser Periode des werdenden Meisters. Er verwandte sie wieder in der Oper: »La Clemenza di Tito« und zur Beschwörungsform in »Armida«:


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[67] Die Declamation ist außerordentlich charakteristisch und ergreifend und ihre Wirkung wird durch die Führung der Streichinstrumente ganz bedeutend erhöht; die wenigen Töne der Oboe und des Horns aber geben dem Satze eine wunderbare Färbung. Dagegen ist das nächste Quartett (Circe, Meriones, Telemach und Ulisses) mehr gemüthlich als tief; mit dem wirksamen Gesange der drei Männer: Meriones, Telemach und Ulisses und dem anschließenden Chore geht dann dieser Act zu Ende.

Die erste Arie des Meriones im zweiten Acte und das anschließende Duett (zwischen Meriones und Ulisses) gehören ganz dem italienischen Opernstile an. Dagegen erhebt sich die Scene der Circe wieder zu einer bisher von der italienischen Oper niemals erreichten Großartigkeit. In einem charakteristisch begleiteten Recitativ tobt sie ihren Schmerz aus und ruft in der anschließenden Arie allen Schreckensgebilde der ewigen Nacht von ihrem kimmerischen Sitze herab:


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[70] Ihre Erregung wächst, als ihr der Geisterchor antwortet: »Qual voce possante, de Regni di morte«. Dreimal erhebt sie ihren inhaltschweren Zauberspruch und eben so oft antwortet ihr der Chor. Diese ganze Scene ist die dramatisch lebendigste der Oper. Dagegen fällt namentlich die nächste Scene bedeutend ab, ganz besonders ihres langen Secco-Recitativs wegen. Die nächste Scene enthält ein liebliches Terzett (Asteria, Meriones, Telemacco): »Stella mi lascia«, die folgende Scene (VII) die Arie der Circe:


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welche dann in der Iphigenie in Tauris zur Arie der Iphigenie: »Je t'implore et se tremble« Verwendung fand. Zu den Tonsätzen von schmuckloser Innigkeit und Wahrheit der Empfindung gehört die Arie der Asteria:


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[71] Für das Quartett, zu welchem sich dann Asteria, Meriones, Telemach und Ulisses vereinigen, und zu welchem auch noch der Chor hinzutritt, hat der Meister auch das Orchester erweitert. Außer Oboen und Hörnern, die er bisher verwendet, zieht er noch das Violoncello, Flöten, Englisch Horn und Fagotte hinzu.


So erweist sich diese Oper allseitig als ein bedeutender Fortschritt in Glucks gesammter Entwickelung, und man kann nur annehmen, daß ihn der geringere Erfolg, welchen sie errang, veranlaßte, den damit betretenen Weg vorerst wieder zu verlassen und dem älteren Stil aufs Neue sich zuzuwenden. Doch blieb auch diesem gegenüber dieser erste Versuch nicht ganz einflußlos; schon in der nächsten Oper: »La Clemenza di Tito«, die 1751 in Neapel zur Aufführung gelangte, machten sich diese neuen Einwirkungen geltend. Als Einleitung dient wieder eine Sinfonie und nicht eine Ouvertüre. Der erste Satz hat kriegerischen Charakter:


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[74] Der zweite Satz ist nicht bedeutender:


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[75] Der dritte hat den Charakter der Menuett:


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[76] Selbst die ersten Secco-Recitative beweisen, daß der Versuch mit Telemach bei unserem Meister nicht ganz einflußlos geblieben ist, mehr aber noch die Arien. Gleich die erste ist nicht nur klangvoll gesungen:


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sondern auch einzelne Partieen reizend declamirt:


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Die Arie des Annio: »Jo sento ch' in petto« ist eine Bravour-Arie ganz alten Stils; die folgende des Sesto wieder im Sinne des Telemacco, und so wechseln in dieser Oper alte und neue Anschauung; da sie aber alle in derselben Grundansicht verbunden sind, so wirkt dieser Wechsel nicht störend, wol aber ermüden die langen Secco-Recitative.

Im zweiten Acte ist als besonders bemerkenswerth die Arie der Vitellia: »Getta il nocchier talora« zu nennen, die wir unter Nr. 2 der Notenbeilagen mittheilen, weil sie den Standpunkt des Meisters in dieser Periode am treffendsten bezeichnet. Sie ist noch ganz mit der vorwiegend sinnlich wirkenden Gewalt italienischer Melodik gesungen, [77] aber zugleich in der knapperen, mehr auf die Pointen des Ausdrucks bedachten Form, die Gluck in der vorhergehenden Oper »Telemacco« geübt hatte, in der sie bereits in anderer Fassung vorgezeichnet erscheint. Wie bekannt, benutzte er sie dann zum Duett im zweiten Acte der Armida. Das Festspiel: »Le Cinese«, von Metastasio gedichtet, das Gluck für den Prinzen von Sachsen-Hildburghausen schrieb, ist nichts weiter als ein Gelegenheitsstück, ohne jeden Anflug dramatischen Interesses. In einer chinesischen Stadt sitzen drei junge Mädchen Lisinga, Sivene und Tangia am Theetisch, und sinnen auf eine neue Unterhaltung. – Silango – der Bruder Lisinga's, so eben von der Reise zurückkehrend, kommt herzu und nach seinem Rathe führen sie dramatische Scenen verschiedenen Charakters aus. Lisinga singt »als Hektors treue Wittwe« eine pathetische Arie3, in welcher Gluck wieder zeigt, wie sehr Telemacco sein dramatisches Ausdrucksvermögen gestärkt hatte. Eine ganz neue Seite seiner wunderbaren Begabung zeigt die Buffo-Arie der Tangia: »Ad un riso«4. Eine so zierliche Schalkhaftigkeit und graziöse Coquetterie, wie sie Gluck in dem ersten Satze entwickelt, kann man kaum bei dem Schöpfer der heroischen Oper vermuthen. Mit ganz unnachahmlicher Treue aber hat er den Ton drolliger Prahlerei in dem Mittelsatz (Adagio, D-moll) getroffen.

Die Opern, welche jetzt in der Reihe der Compositionen Glucks folgen: »Il Trionfo di Camillo« und »Antigono«, ebenso wie das Pastorale: »La Danza« geben zu keinen weiteren Bemerkungen Veranlassung. Dagegen erscheint wieder die aus Scenen verschiedener Opern Metastasio's zusammengestellte Oper: »L'innocenza giustificata« hochbedeutsam für die ganze Entwickelung, als ein neuer Markstein auf dem Wege zur Meisterschaft in Beherrschung des dramatischen Ausdruckes. Zum ersten Male erhielt Gluck hier einen Stoff von allgemein menschlichem Interesse, in welchem starke und lebendige Empfindungen die bewegenden Kräfte bilden.

Claudia, die Tochter des Consuls Valerius, steht im Verdachte, als vestalische Jungfrau mit dem römischen feldherrn ihr, der Göttin gegebenes [78] Gelübde gebrochen zu haben. Der Forderung des Consuls entsprechend muß die Oberpriesterin Flamminia, die Schwester der Claudia, obwol sie von der Unschuld derselben überzeugt ist, die Angeklagte dem Senate zum Richterspruche überliefern, und trotz der Betheuerung der Vestalinnen und des Flavius lautet dieser Spruch auf Tod. Schon fordert das Volk, den Tempel umtosend das Opfer, da erscheint Flavius mit der Nachricht, daß die Götter selber für Claudias Unschuld zeugen: die große idäische Mutter verschmähe diese Mauern; das Schiff, das aus Phrygien der Göttin Bild herüber geholt habe, stocke in seinem Laufe. Da erhebt sich Claudia, im siegesgewissen Vertrauen auf die Hülfe der Göttin, und erbietet sich, das Schiff an das Land zu ziehen. Das Volk und der Senat eilen mit ihr nach dem Fluß, wo das Schiff vergebens einzulaufen versucht, und mit leichter Hand geleitet Claudia dasselbe als ein untrügliches Zeichen ihrer Unschuld an das Land.

Um wie viel mehr sich Gluck von diesem Stoffe angezogen fand, das beweist schon die Einleitungssinfonie, die weit gewähltere, der Situation entsprechendere Motive verwendet. Der erste Satz paraphrasirt ein einfaches Hornmotiv:


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[81] Bei aller Einfachheit der Construction – der Satz kommt fast nicht über Tonika, Dominant und Unterdominant hinaus – ist er doch äußerst wirkungsvoll; aus den Klängen der einzelnen Instrumente, welche diese in reizvollster Weise entfalten, webt sich ein Bild, das die unschuldstrahlende Claudia in der Phantasie des Meisters erzeugt haben dürfte. In dem kurzen Mittelsatze:


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[83] gewinnt es noch festere Umrisse. Er wirkt wie ein unschuldiges Jungfrauen-Antlitz, das unter der härtesten Bedrängniß siegessicher darein schaut, in der Ueberzeugung der siegenden Gewalt der Unschuld.


Der Schlußsatz:


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[85] deutet die Schlußcatastrophe an, in einem, dem ersten durchaus verwandten Satze, die aber faßlicher, im Menuettencharakter gehalten ist.

Die Recitative sind, mit Ausnahme von zwei Stellen, Secco-Recitative. In der ersten Scene der Claudia mit der Flaminia und dann in der späteren mit Flavio tritt an Stelle des Secco das begleitete Recitativ. In der Arie der ersten Scene, in welcher Valerius die Unglücksbotschaft bringt, setzt sich das Spiel der Hörner mit Klangeffecten noch fort. Die Arie5 ist ganz nach dem Muster der alten italienischen Arien angelegt, aber doch viel knapper gehalten und hat ein breites, fast großartiges Gefüge. Die Melodik erhebt sich zu mächtigem Schwunge:


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[87] Man beachte die seine Malerei des luce in fausta (des unheilschwangeren Lichtes) durch die Harmonie und durch den, von Hörnern unterstützten Baß. Die nachfolgenden Arien sind mehr betrachtend gehalten. Wie Schmidt erzählt, wurde die zweite Arie Sempre è maggior del vero6 als Motette mit dem Texte: »Aula divinitatis« in Wien auch in der Kirche gesungen. Die Coloraturen in diesen beiden Arien wie in der folgenden: »Guarda pria se in questo fronte«7 sind nicht nur des Schmuckes halber aufgenommen, sondern sie charakterisiren in der Weise jener Zeit die jeweilige Stimmung, [88] und werden meist so eingefügt, daß sie die Form der Arie bedeutsamer herausbilden helfen; in der Regel sollen sie die Schlußfälle mehr markiren und damit den Ausdruck wirksamer machen. Namentlich ist dies in der ersten Arie der Fall, ebenso in der Arie: »Ai giorni suoi la sorte«8 oder dem Duett zwischen Claudia und Flavio: »Và ti consola addio«9. Dramatisch hochbedeutsam ist dann die. Scene, in welcher Valerius das Urtheil des Senats verkündet und Claudia mit heroischem Geiste sich erhebt in der Arie: »Fiamma ignota nell' alma mi scende«10, Nun, nachdem sie in der angegebenen Weise durch die Göttin selbst ihre Unschuld beweisen will, erhebt sich auch Valerius: gesunkener Muth; die aus dieser Stimmung herausgesungene Arie: »Quercia annosa su l'erte pendici«11 erhebt sich gleichfalls weit über die alte Weise der italienischen Oper. Auch sie wurde in den Kirchen Wiens als Motette de sancto zum Texte: »Jo triumphe Atletha« benutzt. Die beiden folgenden Arien der Claudia: »La meritata palma si fausti«12 und des Flavio: »Non è la mia speranza«13 sind ebenfalls wieder Zeugnisse dafür, mit wie sicherer Hand Gluck die alten Formen bereits im Dienste der neueren Anschauung in Bezug auf dramatische Wahrheit behandelt. Beide sind nicht nur Ausdruck der Stimmung, sondern sie kennzeichnen die Situation und fordern als solche die Darstellung der Handlung, die sich dann in den folgenden Nummern in der angegebenen Weise abspielt; auch der Chor betheiligt sich dabei und die folgenden Recitative und Chöre mit der Arietta der Claudia: »Ah rivolgi o casta diva« zusammen ergeben bereits ein Finale im Sinne der späteren Oper, wie es bisher die italienische Oper nicht kannte.

Es ist kein Grund vorhanden, auf die anderen Opern, die Gluck noch in diesem Stile schrieb, weiter einzugehen, da in keiner derselben [89] irgend ein neuer bemerkenswerther Zug zu entdecken ist. »Il Re pastore« (1756), die Serenata: »Tetide« und »Il trionfo di Clelia« zeigen neben den formalistischen Eigenthümlichkeiten der italienischen Oper, als da sind: die Da Capo- und die Bravour-Arie, das Secco-Recitativ, auch die Gluckschen Zuthaten, mit denen er ihnen höhere dramatische und künstlerische Bedeutung gab: die einheitlicher entwickelte, mehr kunstvoll gebildete und daher inhaltreichere Cantilene, eine plan- und sinngemäß geführte und dem ganzen Organismus streng eingefügte Coloratur; eine textmäßige Declamation, reichere Harmonik und gewähltere und zum Theil glänzendere Instrumentation. In dieser Gestalt hatte er selbst solchen Gefallen an diesen Formen gefunden, daß er auch dann wieder auf sie zurückkommt, als er bereits mit »Orpheus« seine Reform begonnen hatte.

Seit 1755 beschäftigten ihn, wie bereits erwähnt, daneben noch andere leichtere Aufgaben, die gleich falls nicht ohne Einfluß auf die Entwickelung seines Kunststiles bleiben konnten: jene leichten, französischen Operetten. Um zu begreifen, in wie weit sie bestimmend auf die innere Entwickelung Glucks einwirkten, müssen wir erst einen Ueberblick über den Gang der Entwickelung der Oper in Frankreich zu gewinnen suchen.

Fußnoten

1 In jüngster Zeit veröffentlicht in »Ausgewählte Arien und Gesänge von Chr. von Gluck«. Herausgegeben von Wilhelm Ruft. Breitkopf u. Härtel in Leipzig.


2 Nr. 4 der zweiten Abtheilung der erwähnten Sammlung von Rust.


3 Veröffentlicht von W. Rust in der erwähnten Sammlung Abth. II. Nr. 1.


4 Nr. 2 Abth. II. derselben Sammlung.


5 Der Text ist aus Metastasios Cantate: Il Natal di Giove.


6 Text aus: Attilio Regolo.


7 Text aus: Ezio.


8 Text aus: Il Natal di Giove.


9 Text aus: Zenobia.


10 Text aus: Olimpiade.


11 Text aus: Il sogno di Scipione.


12 Text aus: La pace fra la virtù, e la bellezza.


13 Text aus: Attilio Regolo.

Quelle:
Reissmann, August: Christoph Willibald von Gluck. Sein Leben und seine Werke. Berlin und Leipzig: J. Guttentag (D. Collin), 1882..
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