Sechstes Kapitel.

Die beginnende Reformation der Oper.

[105] Es ist gewiß bezeichnend für Metastasio's Dichtungsweise, daß es möglich wurde, aus einzelnen Scenen, welche verschiedenen seiner Operntexte wörtlich entlehnt sind, einen neuen »L'Innocenza giustificata« zusammenzustellen. Damit ist hinlänglich dargethan, daß der Dichter seine Stoffe ganz oberflächlich erfaßt, die einzelnen Scenen nur leichthin charakterisirt haben konnte. Die Arien, welche in »Attilio Regolo«, oder in »Ezio«, oder in »Il Natal di Giove« Charaktere und Situation treu schilderten, konnten nicht auch in »L'Innocenza giustificata« verwendbar werden, wenn sie nicht eben nur in allgemeinster Weise, ohne irgend welchen specifischen Inhalt und ohne Bedeutung für das Ganze gehalten waren. Damit ist aber die Dichtung Metastasio's vollständig charakterisirt. Stephan Arteaga1 hat ganz recht, wenn er von Metastasio sagt, »daß keiner besser wie er die italienische Sprache nach der Natur der Musik zu formen wußte«. Bald gab er den Perioden im Recitative einen Schwung; bald warf er diejenigen Wörter weg, welche [105] zu lang sind, oder einen zu unbequemen und anhaltenden Ton haben, als daß sie zum Gesange geschickt sein könnten; bald bediente er sich der Abkürzungen und solcher Wörter, die mit dem accentuirten Vocale endigen, wie ardi, priegò, sarà, welches zum Fließenden des Ausdruckes sehr viel beiträgt, bald mischte er sieben- und elfsilbige Verse untereinander, um den Perioden die Mannichfaltigkeit zu geben, die sich mit Wohlklang und mit der bequemen Zeit zum Athemholen des Singens verbinden läßt u.s.w., allein mit all' dieser sprachlichen Feinheit und Glätte in der Ausführung und den einzelnen Zügen in der Charakteristik war er doch nicht im Stande, seine Stoffe anders zu bearbeiten, als daß er sie in einzelne, ganz allgemein gehaltene, lyrische Ergüsse auflöste, die nur lose mit den dramatischen Ereignissen zusammenhängen. Daher tragen seine Operntexte alle ziemlich unterschiedloses Gepräge, so daß die einzelnen Scenen verwechselt und in anderer Weise zusammengesetzt werden konnten. Eine so geartete Dichtung war selbstverständlich auch nur wenig im Stande, anregend und befruchtend auf den Componisten zu wirken; es ist daher erklärlich, daß sie zu jener schablonenhaften Behandlung verleitete, die selbst den Genius eines Gluck vielfach lähmte und ihn nur in vereinzelten Fällen die Schwingen frei entfalten ließ. So ist es auch erklärlich, daß der Meister unverändert einzelne Arien- und Tonsätze aus einer Oper in die andere übertragen konnte. Wie der Dichter, so paßte auch der Componist die einzelnen Nummern der Scene und Situation nur allgemein erschöpfend an, so daß sie für eine verwandte Stimmung, wenn auch mit veränderter Situation, immer noch zu verwenden waren.

Es ist leicht erklärlich, daß dem Genius des Meisters dies Verhältniß schließlich lästig wurde, und daß er glücklich war, in Calsabigi den begabten Dichter gefunden zu haben, der sich seinen neuen Intentionen leicht fügte.

Die Bearbeitung des »Orfeus« durch Calsabigi gehört zwar, im Großen und Ganzen noch durchaus dem Anschauungskreise der Oper Metastasio's an, aber sie bezeichnet doch schon einen bedeutenden Fortschritt über diese hinaus. Zu einer im wahren Sinne dramatischen Scene bot der Stoff auch noch keine Gelegenheit, die Hauptsache bleiben [106] hier auch noch die lyrischen Partieen, in welche der ganze Stoff zerlegt ist; aber die knappe Sorgfalt, mit der sie aus der Situation selber heraus entwickelt und zugleich eng auf einander bezogen sind, bringt sie in eine Art dramatischen Verlaufes, der uns nicht besonders aufregt und in Erstaunen, Bewunderung oder Grauen versetzt, der aber unser Interesse anzuregen und zu unterhalten durchaus geeignet ist. Die Recitative, die von Metastasio endlos lang ausgesponnen wurden und die zudem meist nur eine Behandlung als unbegleitetes Recitativ zulassen, sind von Calsabigi auf ein weit knapperes Maß beschränkt; dem entsprechend dann auch die Arien, die in der Regel ihren Inhalt in prägnanter Form darlegen und immer unmittelbar an die Situation anknüpfen. Damit hatte der Dichter des Orfeus noch keine Neuerung erreicht, er hatte nur den weitschweifigen Mechanismus der italienischen Oper zusammengerückt, ihn zu einem präciser wirkenden Organismus gestaltet. Mit der Einführung des Chores aber, als thätiger Theilnehmer an der Entwickelung der Handlung war von ihm eine Neuerung unternommen, die ihm selber Sorge in Bezug auf das. Gelingen seines Unternehmens bereitete. Es wird erzählt, daß sich der Dichter veranlaßt fühlte, Metastasio zu bitten, sich nicht gegen das Werk zu erklären, weil es sonst seine erste Aufführung schwerlich lange überleben würde. »Metastasio,« erzählt Schmidt2, »war zwar mit dieser neuen Art, eine Oper zu dichten, nicht einverstanden; er tadelte sie jedoch nicht öffentlich, sondern wähnte, gleich den übrigen damals in Wien anwesenden Italienern: die neue Oper würde sich selbst das Urtheil sprechen. – Nun ja, sie sprach es sich – aber in ganz anderer Weise, als diese Männer wähnten.«

»›Orfeo ed Euridice‹ wurde am 5. October des Jahres 1762 im Theater nächst der Hofburg in Gegenwart des k.k. Hofes aufgeführt und mit einem Beifalle gekrönt, der sowol dem Dichter als dem Tonsetzer zur höchsten Eine gereichte.«

»Diese Oper,« erzählt Schmidt weiter nach authentischen Aufzeichnungen, »war aber auch mit allem Fleiße und mit Benutzung aller [107] Bühnenkräfte einstudirt worden. Gluck selbst leitete den Gesang und das Orchester, der Dichter das Spiel der Schauspieler, Herr Quaglia die Maschinerie, Angiolini, ein Zögling Hilferdings, die Ballette, und der erste Sänger Guadagni hatte so viel Sinn und Lenksamkeit (drei seltene Gaben bei italienischen Virtuosen), um seine große Aufgabe begreifen und rühmlich lösen zu können. Mit innigem Vergnügen bemerkte man, wie alle Mitwirkenden durch das ganze Stück in der schönsten Eintracht, den Blick stets nach dem einen Ziele gerichtet, einander in die Hände arbeiteten. Der Dichter hatte dem Tonsetzer nur Gefühle und solche Bilder, die des musikalischen Ausdruckes fähig waren, in kurzen, kräftigen und harmonischen Zeilen geliefert. Der bescheidene Guadagni hatte sich bei Glucks höchst natürlichen und treffenden Melodien keinen Zusatz und keine Ferma erlaubt, sondern Alles im Sinne des Meisters auf das Getreueste vorgetragen; selbst der Balletmeister beschränkte seine Tänze, nur auf Pantomime, Grazie und dramatischen Ausdruck.«

»Orfeo« wirkte bei jeder neuen Darstellung stärker auf die Gemüther der Zuhörer und schon nach der fünften Aufführung war jeder Zweifel an der Vortrefflichkeit dieser Oper verschwunden, und jeder Einwurf, den man sich früher dagegen erlaubt hatte, vernichtet. Die Oper erntete fortwährend außerordentlichen Beifall; sie ward unzählige Male wiederholt und machte sowol durch ihren fesselnden Inhalt, als durch ihre edle Form, besonders aber durch ihre tonkünstlerische Behandlung, mit vollem Recht Epoche in der Geschichte des lyrischen Drama's.

Der Stoff der Oper ist hinlänglich bekannt: seit den ersten Anfängen der dramatisch-musikalischen Darstellungen ist er mit besonderer Vorliebe von Dichtern und Componisten behandelt worden.

Orpheus, der mythische Sänger der Vorzeit, hatte seine Gattin Euridice, der er in hingebendster Liebe zugethan war, durch den Tod verloren. Wir finden ihn in der ersten Scene der Gluck-Calsabigischen Oper am Grabe derselben, das von, einer Schaar Hirten und Nymphen und Dienern aus seinem Gefolge mit Blumen und den Zweigen der Myrte geschmückt wird, während sie ihrer tiefen Trauer in die Entschlafene feiernden Gesängen Ausdruck geben, bis ihnen Orpheus [108] sein: »Basta, basta o compagni« zuruft und sie bittet, ihn mit seinem Schmerz allein zu lassen »in der unseligen Gesellschaft seines Elendes«. Unter den Klängen des Orchesters beendet der Chor stumm sein Todtenopfer (Pantomime) und verläßt die Scene. Allein mit seinem Schmerze läßt Orpheus nunmehr sei nen Klagen durchaus freien Lauf; immer heftiger fordert er die Gattin von den Göttern zurück und beschließt endlich hinabzusteigen zur Unterwelt, um dieser die holde Gattin zu rauben. Da erscheint Amor und bringt ihm die tröstende Kunde, daß Jupiter selbst mit seinem Leide Erbarmen habe, und ihm gestatte, hinabzusteigen zu Lethe's trägen Wellen, damit er dort mit seinem Gesange die Furien, Ungethüme und den Tod bezwinge; alsdann soll es ihm gewährt sein, die Gattin mit nach der Oberwelt zu nehmen. Dabei dürfe er sie aber, dem Abgrunde entsteigend, nicht ansehen, sonst sei sie ihm auf immer verloren; auch war es ihm verboten, Euridice damit bekannt zu machen. Wie schwer es ihm auch dünkte, diese Bedingungen zu erfüllen, ist er doch freudig entschlossen, Alles zu wagen, dem Schutze der Götter vertrauend.

Der zweite Act zeigt uns den göttlichen Sänger in der Unterwelt mit all' ihren Schrecken und Ungeheuern; Furien und Gespenster tanzen ihren Reigen, unterbrochen von Orpheus, worauf der Chor der Furien in erschütterndem Gesange dem in Erebus' Nacht eindringenden kühnen Fremdlinge entgegentritt.

Orpheus fleht in rührenden Melodien die Furien und Geister an, sich seines Schmerzes zu erbarmen, aber sie haben nur ein erschütterndes »Nein«, bis endlich ihr harter Widerstand schmilzt: sie weichen zu rück und wehren ihm nicht länger den Eintritt in das Elysium. Dies breitet sich in berückender Pracht und entzückender Schönheit vor ihm aus. Doch ihm gilt dies noch nichts ohne Euridice; und als sich ihm der Chor seliger Geister naht, bittet er nur: »Oh voi, ombre felici, quella ch'io tanto piango rendetela a me!« (O sel'ge, beglückte Schatten, gebt sie, um die ich klage, mir zurück!)

Diese laden ihn ein, ins Reich der Schatten einzutreten und nachdem er nochmals seiner liebenden Ungeduld in beredten Worten Ausdruck gegeben, wird ihm Euridice durch einen Chor sel'ger Frauen zugeführt; [109] und hierauf fällt unter Wiederholung des letzten Chores und Tanzes der Vorhang.

Der dritte Act zeigt uns Orpheus und Euridice auf dem Wege nach der Oberwelt und allzubald tritt ein, was er fürchtete. Da er, treu der Forderung Jupiters, seinen Blick von Euridice abgewendet hält, erwachen in ihr Zweifel an seiner Liebe und sie gewinnen eine solche Heftigkeit der Aeußerungsweise, daß Orpheus schließlich nicht widersteht und sich nach ihr umsieht, worauf sie sofort entseelt zu Boden sinkt. Vergebens sucht er sie wieder ins Leben zurückzurufen; mit erneuerter Macht ergreift ihn jetzt wieder der Schmerz über ihren Verlust und da er nunmehr meint, nicht ohne sie leben zu können, will er sich selbst tödten. Da erscheint Amor wieder, entreißt ihm den Dolch, mit dem er sich durchstoßen will, und giebt ihm, da er schon genug für ihn gelitten, die Gattin wieder. Euridice erhebt sich wie aus einem Schlafe und die Gatten umarmen sich in laut ausbrechendem Jubel; darauf verwandelt sich die Scene in einen prächtigen, dem Amor geweihten Tempel. Eine zahlreiche Schaar von Hirten und Hirtinnen strömen herbei, um mit frohen Tänzen die Wiederkehr Euridicens zu feiern und in den, die Liebe feiernden Schlußchor stimmen auch Orpheus, Amor und Euridice ein.

Im Mythos ist der Schluß ein anderer: Orpheus, um zu wissen, daß ihm auch seine Gattin und nicht ein anderer Schatten folgt, wendet sich dem Gebote entgegen um und versetzt damit die Gattin unwiderruflich in das Reich des Todes zurück. Die Aenderung erfolgte wol mehr, um einen, den Zuschauern befriedigenden Schluß zu gewinnen, weniger im Sinne einer höheren Idee.

Um wie viel ernster Gluck seine Aufgabe diesmal erfaßte, das beweist schon die Ouverture. Noch haben beide Hauptthemen den etwas spielenden Charakter mit den Vorschlägen, der sie als der Schule Sammartini's angehörend verräth, nicht ganz aufgegeben:


6. Kapitel

[110] und


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aber die Verarbeitung ist doch bei Weitem gewichtiger, als bisher. Der Meister verläßt nicht nur die Form der älteren Sinfonie, die er bisher bei seinen Ouverturen festhielt, sondern auch die der sogenannten französischen Ouverture, er adoptirt vielmehr die Form des sogenannten Sonatensatzes, der den Contrast in einem einzigen Allegrosatze darstellt. Dem beweglichen ersten Theil stellt er einen zweiten, breiter construirten gegenüber und dabei nimmt er zugleich auf Vorgänge der Handlung Bezug. Den ersten Theil der Ouverture zu Orpheus beherrscht allerdings noch vorwiegend die Spielfreudigkeit, welche im Thema liegt, doch schon die rein accordische Gestaltung des sechsten bis zehnten Tactes giebt auch diesem einen ernsteren gewichtigeren Zug. Der zweite Theil aber namentlich in den bedeutsamen Schritten:


6. Kapitel

soll ganz entschieden an die Katastrophe in der Unterwelt erinnern.

[111] Daß bei alle dem auch Orpheus immer noch auf dem alten Boden erwächst, erweist auch die äußere Einrichtung: die Partie des Orpheus ist der Altstimme zugewiesen und da außer Euridice und Amor (beide natürlich Sopran) keine andere Person selbständig auftritt, so fehlen Männerstimmen unter den Solisten ganz, was bei der italienischen Oper meist der Fall ist.

Die wesentlichste Neuerung auch in der musikalischen Behandlung trifft den Chor. Wir konnten in den bisher betrachteten Opern Glucks nur ganz ausnahmsweise einzelne Chorstellen namhaft machen, die von größerer Bedeutung sind; die Dichter legten bisher wenig Gewicht darauf und der Componist im Allgemeinen eben so wenig. Gleich der erste Trauerchor im Orpheus: »Ah, se intorno a quest'urna funesta«, ist eine der bedeutendsten Nummern der ganzen Oper. Die Instrumentaleinleitung führt ganz direct in die Stimmung ein, welche im Chor zum prägnantesten Ausdrucke gelangt. Nur mit dem wiederholten Ruf: »Euridice« betheiligt sich Orpheus an der Todtenfeier. Ebenso großartig wirkend, wie sie von Gluck bisher nur selten erfunden und ausgeführt wurden, sind die Chöre des zweiten Actes. Gleich der erste: »Chi mai dell' Erebo« (Wer ist der Sterbliche?) im düsterenunisono der Singstimmen, begleitet von reich harmonisch geführten Instrumenten, giebt uns ein anschauliches Bild von dem schrecklichen Ort und seinen noch furchtbareren Bewohnern. Der anschließende Tanz und die nunmehr auch gesanglich in der zweiten Hälfte harmonisirte Wiederholung erweitern dann diese Stimmung ganz bedeutsam. Die beiden nachfolgenden Chöre dieser Scene sind dann ebenso treu aus der Situation herauserfunden und schlagfertig wirkend eingeführt. Dagegen ist der Chor: »Vieni a regni« (»Komm ins Reich beglückter Schatten«), später mit dem Texte: »Torna o bella« (»Aus dem Reiche beglückter Schatten«) wiederholt, von herzgewinnender Lieblichkeit. Nicht minder bedeutend sind die Recitative, mit ihrer meist charakteristischen Instrumentalbegleitung. Mit ganz besonderer Feinheit behandelt der Meister beispielsweise die Rufe des Orpheus: »Euridice«, die bei jeder Wiederholung anders charakterisirt erscheinen. Zu den Meisterstücken trefflicher Declamation und instrumentaler Illustration [112] gehört auch das Recitativ: »Voi del regno« (Grausame Göttin) und mehr noch das: »Che disse« (Was sprach er) im ersten Act. Das erste Recitativ im dritten Act und noch mehr das anschließende Duett sind zwar hochbedeutsam, aber doch vorwiegend im älteren Stile gehalten. Das gilt auch von einzelnen Arien. Die erste Arie des Orpheus: »Chiamo il mio ben cosi« (So klag' ich ihren Tod), ganz in der molodisch-süßen Weise der italienischen Oper ausgeführt, charakterisirt in ihrer knappen Fassung und ihrer milden Trauer recht wol die Stimmung des göttlichen Sängers, und ihre veränderte Wiederholung erhält immer neuen Reiz durch die charakteristischen Recitative, die dazwischen treten. Die kurzen ariosen Sätze: »Mille pene« (Tausend Qualen) und: »Men tiranne« (Meine Bitten) sind ganz der Scene entsprechend mehr declamirt als gesungen. Die Arie im zweiten Acte: »Deh! placatevi con me« (Ach, erbarmt euch meiner) beginnt ganz im Stile der alten Arie, aber sie erhebt sich bald zu großer Leidenschaftlichkeit und das dazwischen erklingende energische: »No« der Furien giebt dem ganzen Satze seine großartigste Wirkung. Die Arie der Euridice: »Che fiero momento« (Welch' grausame Wandlung) oder die bekannte Arie des Orpheus: »Che farò senza Euridice« (Ach, ich habe sie verloren) zeigen am meisten den alten Mechanismus der italienischen Opern-Arie; sie werden aber harmonisch so vertieft, daß sie dramatisch hoch bedeutsam wirken. Durch einen prachtvollen Instrumentalsatz hat Gluck den Eintritt des Orpheus in das Elysium charakterisirt. Er legte der Scene die Aria: »Se povero il ruscello« aus Ezio zu Grunde. Es ist eine Da Capo-Arie, wir geben sie unter den Musikbeilagen zur Vergleichung. Der Meister behielt sie in ihren Hauptzügen bei, vertiefte und erweiterte sie aber den veränderten Verhältnissen entsprechend, so daß sie uns ein redendes Zeugniß giebt von der Weise, wie er seine veränderten Aufgaben auffaßte. Die unstreitig schwächste Nummer des ganzen Werkes ist die Schlußscene und sie war mit Recht ein Gegenstand der erbitterten Angriffe seiner Gegner. Sie entspricht ganz der Weise der alten Oper, aber entkleidet von dem Schmucke des italienisch verzierten Gesanges wird sie brutal und gewöhnlich; sie scheint auf die große Masse des [113] nur mit niederen Mitteln zu erregenden Publikums berechnet. So bezeichneten auch die Gegner Glucks diese ganze Scene, die weit herabsteigt von dem hohen Standpunkte, den der Meister sonst mit dieser Oper erklommen hatte.

So war die neue Richtung der Entwickelung der Oper mit Orpheus glänzend ins Leben getreten und hatte auch, wie erwähnt, einen ganz außergewöhnlichen Erfolg gehabt. Im Jahre 1764 wurde sie in Frankfurt am Main, 1769 zu Parma aufgeführt und bald war sie eine Lieblingsoper an allen Orten, in denen sie überhaupt zur Aufführung gelangte. Jac. Ant. Edler von Ghelen übersetzte sie zunächst ins Deutsche; eine bessere Uebersetzung von Professor Eschenburg in Braunschweig bringt Cramers Magazin3, und als sie dann auch 1774 mit französischem Texte in Paris aufgeführt war, beherrschte sie lange Jahre die Bühnen des civilisirten Europas. Aber auch jetzt noch durfte der Meister dem Banne der alten italienischen Oper, dessen Fesseln er so glänzend gesprengt hatte, nicht ganz sich entziehen. Daß seine Oper »Ezio«, welche er 1763 im Dezember in Wien zur Aufführung brachte, nicht erst zu dieser Zeit componirt ist, wie aus einer Notiz des Wiener Diarium4: »Der Ritter von Gluck hat vor kurzem den Ezio, eines der besten Werke des unsterblichen Metastasio, von Neuem in Musik gesetzt«, hervorgeht, ist wol als erwiesen anzusehen. Der fleißige und zuverlässige Forscher Moritz Fürstenau weist nach5, daß die Oper »Ezio« von Herrn Christoph Kluck im Jahre 1751 in Leipzig aufgeführt worden war, und es erscheint das um so eher glaublich, als die Oper einen großen Theil der Nummern aus der dänischen »Tetide« entlehnt. Nimmermehr aber würde Gluck, nachdem die Musik zu der Arie: »Se povero il ruscello« im Orpheus so treffende Anwendung gefunden hatte, sie dann noch unmittelbar darauf in Ezio aufgenommen haben.

Im Januar 1764 gelangte dann seine komische Operette: »La rencontre imprévue« auf der Hofbühne zur Aufführung; sie fand [114] später auch in deutscher Uebersetzung unter dem Titel: »Die unvermuthete Zusammenkunft oder der Pilgrim von Mekka« weite Verbreitung.

Die für den 3. April 1764 festgesetzte, in Frankfurt a.M. erfolgende Krönung des Erzherzogs Joseph zum römischen König führte auch unsern Meister dahin, da er mit Leitung der Musikausführung betraut war. Nach seiner Rückkehr erhielt er ein Geschenk von 300 Stück Ducaten.

Die Direction der Hofoper hatte er bereits an den Kapellmeister Florian Gaßmann abgegeben, doch schrieb er noch zwei italienische Opern nach Dichtungen von Metastasio im Allerhöchsten Auftrage: »Il Parnasso confuso« zur Vermählungsfeier des römischen Königs Joseph II. mit der Prinzessin Maria Josepha von Bayern, die am 21. Januar 1765 stattfand, und »La Corona« für die Namensfeier des Kaisers Franz. Jene wurde am 23. Januar 1765 in den inneren Gemächern des kaiserlichen Lustschlosses Schönbrunn von den Erzherzoginnen von Oesterreich: Maria Elisabetha, Marianna Amalia (nachherige Herzogin von Parma), Maria Josepha (nachherige Königin von Sicilien) und Maria Carolina (später Königin von Neapel) in Gegenwart des Kaisers und der Kaiserin aufgeführt; der Erzherzog Joseph spielte die Clavierbegleitung. Die Oper »La Corona« sollte in derselben Weise von den genannten Erzherzoginnen ausgeführt werden, allein der Tod des Kaisers, der am 18. August erfolgte, verhinderte die Aufführung.

Mittlerweile hatte Calsabigi für Gluck den Text zu jener zweiten Oper geschrieben, mit weicher die angestrebte Reform noch glänzender in die Erscheinung treten sollte: »Alceste«.

Der Stoff ist bekanntlich dem Euripides entlehnt, aber von Calsabigi etwas abweichend behandelt worden. Nach Euripides ist Admetus, König zu Pherä, in Thessalien schwer erkrankt und sieht seine Todesstunde herannahen. Da erwirkt ihm Apollo, der, als er aus dem Olymp verbannt worden war, bei ihm Aufnahme gefunden hatte, von den Moiren die Gnade, daß er vom Tode befreit sein solle, wenn in der Todesstunde ein Anderer es übernehme, für ihn zu sterben. Da Admets [115] bejahrte Eltern sich weigern, für den Sohn zu sterben, so tritt die Gattin, Alceste, die Tochter des Pelias ein, die Admet einst mit Hülfe des Apollon erworben, und geht für den Gatten in den Tod. Allein Herakles ringt sie dem Hades wieder ab und führt sie dem Gatten zurück. Calsabigi hat den Schluß insofern geändert, als er an Stelle des Herkules den herrlichen Gott Apollon setzt, der Alceste dem Hades entreißt und dem genesenen Gatten wieder zuführt.

Die Bearbeitung, welche dieser an und für sich ergreifende und dramatisch bedeutsame Stoff durch Calsabigi erfuhr, war namentlich darauf gerichtet, die Gefühlsmomente in großen plastischen Bildern zu gestalten, durch welche die Musik in ausgebreitetem Umfange zur Mitwirkung nothwendig wurde.

Der erste Act führt uns vor das Haus des Königs zu Pherä, vor welchem das Volk in banger Erwartung versammelt ist, um Bericht über das Befinden des schwer kranken Königs zu erhalten. Es ertönt ein Trompetensignal und der Herold erscheint mit der Trauerkunde, daß keine Hoffnung mehr vorhanden sei, das Leben des geliebten Königs zu retten. Lauter erschallen hierauf die Klagen des Volkes und nach dem Gebrauche der Zeit giebt dies in einer Pantomime seinen Gefühlen weiteren Ausdruck. Evander, der Vertraute des Königs, fordert das Volk auf zum Tempel zu gehen und das Orakel zu befragen. Da tritt auch Alceste mit ihren Kindern aus den sich öffnenden Pforten des Palastes mit großem, feierlichem Gefolge und in einem Doppelchore giebt das Volk seinen gemischten Gefühlen beim Anblicke der edlen Königin und der Kinder und dem Gedanken an den sterbenden König Ausdruck. Und da auch die Königin das Volk auffordert, zum Tempel zu gehen und die Götter um Hülfe anzuflehen, so vereinigt sich dies in dem Rufe »zum Tempel!« und unter heftigen Klagen bewegt sich der ganze Hause dorthin.

Die Scene verwandelt sich in den Tempel Apollons. Im feierlichen Aufzuge, unter sanfter Musik tritt der Oberpriester ein, und nachdem der ganze Zug den Altar mit dem Bilde des Gottes ehrfurchtsvoll umkreist hat, stimmen die Priester ihren ernsten Wechselgesang an, in welchem sie den Gott um Rettung für den König anflehen. Da erscheint [116] auch Alceste mit den Kindern, begleitet von ihrem Gefolge und dem nachdringenden Volke. Auf ihr inniges Gebet verkündet ihr der Oberpriester, daß der Gott sich ihrem Flehen gnädig erweise; der Lichtstreif um das Götterbild, wie das Erzittern des Altars verkünde seine Nähe. Er gebietet Schweigen und bittet Alceste, das Zeichen ihrer königlichen Würde abzulegen und ihre Stirn zur Erde zu beugen, zu hören und zu zittern, und darauf verkündet das Orakel: »Der König stirbt, wenn nicht ein Anderer für ihn stirbt.« Alles ist entsetzt über diese Kunde, Schrecken und Furcht ergreift Priester und Volk und mit dem Rufe: »Fliehet die Stätte des Grauens!« drängen alle nach dem Ausgange. Alceste ist mit den Kindern allein geblieben; auch sie ist tief erschüttert von dem grausamen Spruche der Götter, aber bald dämmert in ihrer, hohen Seele der heroische Entschluß auf, für ihren Gatten zu sterben. Evander und Ismene erscheinen mit der traurigen Kunde, daß Admet seinem Ende nahe sei und nach den Kindern und ihr, deren Namen immer auf seinen Lippen schwebe, verlange. Alceste entfernt sich mit den Kindern und um die beiden Vertrauten des Königspaares Ismene und Evander sammeln sich allmälig wieder Priester und Volk mit der Frage: »Ob Jemand sich als Opfer gefunden?« Aber keiner hat das Herz, es selber zu sein; damit schließt der erste Act.

Der zweite spielt zunächst in dem, den Gottheiten der Unterwelt geweihten dichten Walde bei Pherä. Durch die tiefe Nacht tritt Alceste ein, gefolgt von Ismene, die sie vergebens zurückzuhalten bemüht ist; Alceste ist unerschütterlich in ihrem Entschlusse und so folgt Ismene endlich ihrem Befehle und läßt sie allein. Wol empfindet sie Angst und Grauen, allein muthvoll erhebt sie sich und ruft den Gebieter der Schatten; Thanatos (der Tod) fragt nach ihrem Begehr; im Innersten erbebend erwidert sie: »Wer spricht? Was antworte ich?« und als sie seine übermenschliche Gestalt erblickt, da möchte sie tödtlich erschreckt entfliehen; zudem mahnen sie unterirdische Stimmen, abzulassen von ihrem Vorhaben; aber da tritt das Bild des Gatten in ihre Seele und ihr Entschluß steht unwiderruflich fest, dem Rufe des alten Steuermanns auf dem Todesstrome zu folgen, bittet aber zuvor, noch von ihren [117] Kindern Abschied zu nehmen, was ihr gewährt wird. Begleitet von einer durch die Unterirdischen ausgeführten Pantomime geht sie ab.

Die Scene verwandelt sich in eine Halle der Königsburg, in welcher Freunde des Königlichen Hauses und die Dienerschaft versammelt sind, um die erfolgende Genesung des Königs zu feiern. Jetzt erst erfährt dieser von dem Spruche des Orakels und daß er seine Genesung nur einer Opferthat zu danken habe; ohne zu ahnen, daß seine eigene Gattin diese vollbracht, zürnt er den Göttern ob ihrer Grausamkeit. Als dann Alceste erscheint, ist er erstaunt, daß diese nicht mindestens die gleiche, ungetrübte Freude über seine Genesung zeige, und hart bedrängt von ihm, erklärt sie ihm Alles, wodurch er natürlich in verzweiflungsvolle Trauer versetzt wird. Um solchen Preis will er sein Leben nicht gewinnen, und doch ist es nicht zu ändern. Er eilt zum Tempel, von Neuem das Orakel zu befragen, aber schon fühlt Alceste, daß ihr Ende naht; Ismene und der Chor beginnen wieder herzzerreißende Klagegesänge – Alceste aber richtet ihr Gebet an Vesta, die schützende Göttin und nimmt Abschied, der ihr natürlich schwerer wird, als die Kinder zu ihr geführt werden; unter den erneuerten Klagen des Chors schließt der zweite Act.

Der dritte Act führt uns in die Vorhalle mit der Aussicht nach der Stadt Der König hat das Orakel noch einmal befragen lassen und Evander bringt ihm eben die Schreckensnachricht, daß Alcestens Opfer nicht zurückgenommen werden kann. Diese naht mit den Kindern und der sie stützenden Ismene, um ihm das letzte Lebewohl zu sagen. Aber schon erscheinen auch mit furchtbarem Geschrei die schrecklichen Todesboten, die ganze Scene füllend und mit Finsterniß überziehend. Vergebens bietet sich Admet zum Opfer für Alceste, mit dem Rufe: »Ich sterbe«, sinkt sie im Kreise der Unterirdischen nieder und wird von diesen weggetragen; lange noch tönt ihr der Klagegesang des Chors nach, in den dann auch Ismene und Evander einstimmen. Admet aber, von wilder Verzweiflung gepackt, will sich selbst tödten, er ringt mit seiner Umgebung, die ihn daran zu verhindern und zu entwaffnen sucht. Da erscheint der rettende Gott Apollon, auf einer Lichtwolke [118] heranschwebend, mit Alceste, die er dem Tode entrissen, um sie wieder mit dem Gatten zu vereinigen.

Einen Stoff mit einem gleich tiefen und erschütternden Gemüthsinhalt hatte Gluck bisher noch nicht zu bearbeiten, selbst Orpheus nicht ausgenommen; sein Genius richtete sich aber auch noch zu erhabenerer Größe empor, wie an jenem.

Die Einleitung, die er treffend mit Intrata bezeichnet, ist wieder schon ein beredtes; Zeugniß dafür. Noch in der zu Orpheus erkannten wir in der Bildung der Motive die spielende Weise der alten italienischen Oper von Einfluß. Die Ouverture zu Alceste ist der erste ernste Orchesterprolog, der geschrieben wurde. Jetzt bedarf der Meister aber auch des ganzen Orchesters, nicht Flöten oder Oboen oder Clarinetten, sondern diese Instrumente vereint, und daneben auch Posaunen. Die erste Einführung und wiederholte Angabe des D-moll-Dreiklanges führt direct in die Stimmung hinein, in welcher die ersten Scenen aufzunehmen sind. Darauf entwickelt sich ein aus mehreren Motiven zusammengesetztes Präludium, das diese Stimmung weiter verfolgt. An die Stelle des leichten Tonspieles, das sich schablonenmäßig bisher abspann, ist die ernste Arbeit eines denkenden Meisters getreten. Die nichtssagenden, tändelnden Motive der alten Oper sind tief bedeutsamen, inhaltreichen Gedanken gewichen, und wenn diese früher nur leicht und lose verknüpft wurden, so begegnen wir in dieser Einleitung zu Alceste schon einer gewissen streng dialektischen Entwickelung und diese erfolgt zugleich mehr orchestral als früher. Die Wirkung durch den Contrast, welche die sogenannte Sinfonie und auch noch die französische Ouverture in weitschweifiger Weise dadurch erreichte, daß sie verschiedene Sätze einander entgegenstellte, wird in der neueren Ouverture in einem Satze, durch Entgegenstellung contrastirender Motive und dadurch ungleich wirksamer erreicht. Diese Contraste treten allerdings in der Einleitung zu Alceste noch weniger scharf heraus und daher gewinnt sie mehr den Charakter des Präludiums, das zunächst direct in die erste Scene der Oper einführt, in welche sie auch überleitet. Aber diese entspricht zugleich der Grundstimmung des ganzen Werkes. Die Einleitung soll hier eben [119] nur die Voraussetzungen erledigen, unter denen die ersten Scenen der Oper aufgenommen werden sollen. Dabei ist selbst hier anzunehmen, daß das zweite Motiv mit seiner Einleitung:


6. Kapitel


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[120] durch das liebliche Bild der klagenden Alceste erzeugt ist, und das dritte:


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[121] ihre heroische That charakterisirt.

[122] So wird die Ouverture allmälig das, was sie sein soll, ein Orchesterprolog.

Ein bedeutsamer Fortschritt zeigt sich dann zunächst in den Chören. An Stelle der mehr arienmäßigen Behandlung desselben ist jetzt die knappere des Chorliedes getreten, die dem dramatischen Fortgang natürlich besser entspricht. Die Chöre der ersten Scene erhalten noch dadurch größere dramatische Wirkung, daß die Solostimmen Ismene, Evander und auch Alceste dazwischen treten und daß der Chor an den bereits erwähnten Stellen in zwei Chöre geschieden wird. Unter Mitwirkung des so geführten Chors gewinnt namentlich die Tempelscene großartige Erhabenheit. Ein Stück von fast naivem Charakter ist der Priestermarsch:


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[123] Darnach wirkt die nachfolgende Scene um so erschütternder. Hörner, Posaunen und Fagotte begleiten mit weithin schallenden Accorden den kurzen Spruch des Oberpriester, welchen dann der Chor in machtvollster Weise aufnimmt, und beide führen ihn in immer gesteigerter Heftigkeit weiter, bis Alceste erscheint, die ihre heißen Gebete mit denen der Priester verbindet. Das dann folgende Recitativ, in welchem der Oberpriester die Nähe des Gottes ankündigt, ist entschieden der größte derartige Satz, der bis dahin geschrieben wurde. Das Unisono der Streichinstrumente, das mehrmals wiederkehrt,


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verkündet den Eintritt des großen Ereignisses. Die Nähe des Gottes, wie der Glanz sein Bild verklärt, wie der Altar strahlt, der Grund des Tempels erschüttert wird und der heilige Dreifuß zittert, malt der Meister mit den prächtigsten Farben, so daß dann wieder der, Orakelspruch ganz besonders ergreifend wirkt:


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[125] Der erschütternde Eindruck, den diese Verkündigung auf die im Tempel weilende Menge macht, ist wieder auch im Orchester meisterhaft dargestellt. Die Bewegung ergreift erst, wie oben noch angegeben, die Streichinstrumente und geht dann auch auf die anderen Instrumente und den Chor über, der darauf in abgebrochenen Rufen mit seinem »Fuggiamo« in eiliger Flucht davonstürzt. Nicht minder treu ist aber auch die Scene geschildert, als er nach dem ergreifenden Monolog der Alceste, in welchem sie sich zu der heldenmüthigen Opferthat entschließt, wieder zurückkehrt. So gehört dieser Act entschieden zum Bedeutendsten mit, was je auf diesem Gebiete geschaffen wurde. Nur die Arien stehen noch nicht auf der gleichen Höhe. Sie sind zwar noch knapper gehalten als die im Orpheus, aber sie haben auch an Reichhaltigkeit des Ausdruckes verloren. Gluck hat die breite behagliche Weise, mit welcher die italienische Oper eine Stimmung festhält, aufgegeben, [126] aber die neue, nur aus den gewaltigsten Gefühlsaccenten zusammengesetzte Form noch nicht zu voller Herrschaft gewonnen. Die Gegner hatten daher wol Grund, ihm nach dieser Seite einen gewissen Grad von Dürftigkeit des Ausdruckes vorzuwerfen. Das gilt gleich von der ersten Arie der Alceste: »Jo non chiedo eterni Dei« die sogar noch mit einer gewissen Weitschweifigkeit behaftet ist.

Das gilt in noch erhöhtem Maße von der Arie der Ismene im zweiten Acte: »Parto ma sento, o Dio« und selbst von der berühmten B-dur-Arie der Alceste. Um so gewaltiger ist wieder in dieser Scene die Anrufung des Todesgottes und seine Antwort, wie der weitere Verlauf der Unterhandlung mit den Unterirdischen ausgeführt. Der Meister hat mit dieser ganzen Scene das Vorbild geschaffen zu den verwandten im »Idomenäus«, im »Don Juan« und in der »Zauberflöte«. Damit ist der letzte Höhepunkt der Oper erreicht; der weitere Verlauf der Handlung regt den Genius nur noch einmal tiefer an – in dem Duett der Alceste mit dem Gatten. – Das Uebrige wird wieder mehr conventionell behandelt, im Sinne der alten Oper. Das Duett wie die Recitative zeigen noch manch sein empfundenen und genial ausgeführten Moment, aber im Allgemeinen gewinnen sie eine Breite, die der neuen Anschauung der Form der Oper nicht mehr entspricht. Besonders anziehend ist die instrumentale Schilderung der Vorbereitung Alcestes zum Tode und das allmälige Herannahen desselben. Auch der Abschied von den Kindern zeigt noch ergreifende Züge und ebenso die große Schluß-Arie der Alceste, aber sie lassen doch auch erkennen, daß der Dichter noch nicht ganz den Bann der italienischen Oper gebrochen hatte und daß er auch den Componisten wieder unter ihn zwang.

Die Klagen Admet's, Alceste's Scheideworte, ihr Hingang unter dem sichtbaren Geleite der Todesgötter und unter dem, auch durch das Orchester dargestellten Sturm, die wiederholten Klagen des Volkes, die Verzweiflung Admets und die Rückkehr der Alceste mit Apollon sind die wieder trefflich ausgeführten Bilder des dritten Acts.

Die Oper wurde in Wien am 16. Dezember 1767 zum ersten Male auf dem Theater nächst der Burg, in Gegenwart des Kaisers [127] aufgeführt und der Erfolg war wiederum ein ganz außergewöhnlicher, wenn auch, wie das nicht anders zu erwarten war, zum Theil mit großer Heftigkeit gegnerische Stimmen laut wurden.

Sonnenfels6 schreibt darüber:

»Ich befinde mich im Lande der Wunderwerke. Ein ernsthaftes Singspiel ohne Castraten, eine Musik ohne Solfeggien, oder, wie ich es lieber nennen möchte, ohne Gurgelei, ein welsches Gedicht ohne Schwulst und Flatterwitz! Mit diesem dreifachen Wunderwerke ist die Schaubühne nächst der Burg wieder eröffnet worden!«

Werfen wir noch einen Blick über das ganze Werk, so ersehen wir, daß die einzelnen Scenen als solche mit eben so hoher Meisterschaft wie seinem Verständniß für die dramatische Wirkung ausgeführt sind. Die Recitative erheben sich durchweg zu gewaltigem Ausdrucke und ihre instrumentale Begleitung ist unermüdlich thätig, sie näher zu erläutern; dasselbe gilt von den Chören, aber nur zum Theil von den Arien, und darauf beruht der Mangel einer schärferen Charakteristik der einzelnen handelnden Personen, wie sie die neue Oper verlangt. In Bezug auf die Arie steht der Meister noch zu sehr auf dem Boden der älteren Anschauung; wenn er auch nicht mehr ihren Schematismus beibehält, so doch immer noch die unbestimmte Art des Ausdruckes. Seine Arienmelodien sind noch nicht, wie seine Recitative gesteigerte Sprachaccente, zum kunstvollen Bau zusammengefügt, so daß sie gewissermaßen aus der Sprachmelodie hervortreiben, sondern sie verdanken ihre eigenthümliche Gestaltung immer noch dem Bestreben, jenen melodischen Reiz zu entfalten, aus dem die italienische Arie hervorging. Gerade aber in jener, aus der Sprachmelodie hervortreibenden Melodie gewinnt die Arie ihren specifischen Inhalt und wird dann das wirksamste Mittel für die treffendste Charakteristik der handelnden Personen. Die Arien der Alceste unterscheiden sich von denen der übrigen Personen kaum durch einen größeren Ernst; von denen der Anderen aber, der Ismene, des Admet oder Evander höchstens nur durch die veränderten Situationen. Noch sind die Personen nicht zu Individualitäten [128] geworden, die nicht nur durch die veränderte Situation, sondern an sich einen unterschiedenen Ausdruck gewinnen müssen. Diesen letzten Schritt zur Vollendung seiner Mission sollte der Meister erst in der »Iphigenie in Aulis« thun. Dazu aber bildete ein anderes Werk, das er in her Zwischenzeit schrieb, eine Uebergangsstufe »Paride ed Helena«, ein Stoff, der allerdings eine schärfere Charakteristik herausforderte und auch erleichterte.

Wie aus einem Briefe des Componisten, der im Februar 1773 im Mercur de France veröffentlicht wurde, hervorgeht, hatte wiederum Calsabigi den hinlänglich bekannten Stoff für die Oper bearbeitet. Er beschränkte sich hierbei einfach auf die Werbung und die schließliche Entführung der Helena.

Im ersten Act erscheint Paris nur in Liebe versenkt zu Helena, von der er sehnsüchtig Botschaft erwartet. Bevor sie noch eintrifft, kommt im spartanischen Gewande Amor unter dem Namen Erast und auf seine Frage erklärt ihm Paris, daß er nach Sparta gekommen sei, um Helena, der Königin zu huldigen; Erast sichert ihm seinen Beistand zu und entfernt sich; mit der Ordnung der für die Königin bestimmten Geschenke schließt der Act.

Der zweite Act bringt nicht viel mehr an Handlung. Er spielt im Thronsaale der, des Paris harrenden Königin, welcher Erast eine lebhafte Schilderung der Reize des Trojaners giebt. Dieser erscheint und bringt ihr seine Huldigung dar, welche aber die Königin bescheiden ablehnt, worauf sie ihn schließlich verläßt.

Erst der dritte Act zeigt eine Spur von Handlung. Im Hofe des Palastes findet den Freunden zu Ehren ein Fest statt, bei welchem die Athleten Kampfspiele ausführen. Als Helena dann, um die süßen Weisen Asiens kennen zu lernen, ein Lied von Paris verlangt, besingt dieser die Liebe und Helena merkt, daß der Gesang an sie gerichtet ist, was auch Erast bestätigt; deshalb will sie sich entfernen, und setzt Paris in die höchste Aufregung. Er sagt ihr, daß er sie liebe, aber sie weist ihn entschieden zurück, gebietet ihm abzureisen und entfernt sich.

Im vierten Act erfahren wir von neuen Versuchen, die Paris macht, um Helena zu gewinnen, aber erst im fünften bringt ihn [129] Erast durch List zum Ziele. Er redet der Königin vor, daß Paris abzureisen und in die Heimath zurückzukehren entschlossen sei. Dies läßt die Liebe zu Paris in ihr hell auflodern und als er dann eintrifft, ist sie zwar erzürnt über die List, die ihr das Geständniß entlockte, aber da sich Erast als Amor zu erkennen giebt, verbindet sie sich mit dem Geliebten und fährt mit ihm in die neue Heimath.

Man sieht aus dieser flüchtigen Skizze, daß der Stoff dem Meister keine neuen Aufgaben bot, ja nicht entfernt so reiche Gelegenheit gab, die verschiedensten Stimmungen auszutönen, wie die vorerwähnten; aber die wenigen zeigten sich schärfer geschieden. Schon die unterschiedenen Nationalitäten machten eine abweichende Charakteristik nothwendig. In Paris verkörpert sich phrygische Weichheit, während der Helena mehr spartanische Strenge eigen ist, und dieselben Gegensätze treten auch vielfach an anderen Orten im Verlaufe des ganzen Werkes heraus. Schon in der Einleitung machen sie sich geltend. Gluck hat wieder die Sinfonieform gewählt; der erste Satz mit vollem Orchester – Pauken und Trompeten fehlen nicht – ist der directe Gegensatz vom zweiten, weich und zaghaft erscheint er, während der erste fast pomphaft glänzend sich entfaltet; der dritte Satz ist dann wie ein Triumphlied über den glücklichen Ausgang gesungen; als solches wird er auch am Schlusse der Oper verwendet. Auch der zweite Satz und die Ueberleitung klingen in einzelnen Stellen der Oper wieder, so daß diese Einleitung ganz direct mit der Handlung in Beziehung gebracht wird.

Daß Gluck sich dieses Gegensatzes vollständig bewußt war, geht aus der Zueignungsschrift an den Herzog von Braganza hervor, welche der Partitur von Paride ed Helena vorgedruckt ist:

»Eure Hoheit,« heißt es hier, »werden das Drama ›Paris‹ bereits gelesen und dabei bemerkt haben, daß es der Einbildungskraft des Tonsetzers jene starken Leidenschaften, jene großartigen Gemälde, jene tragischen Situationen nicht darbietet, welche in der ›Alceste‹ die Gemüther der Zuschauer erschüttern und zu ernsten Affecten Gelegenheit bieten. Hier wird man dieselbe Kraft und Stärke in der Musik eben so wenig erwarten, als man in einem, in hellem Lichte gemalten Bilde weder dieselbe Kraft des Halbdunkels, noch dieselben grellen Gegensätze [130] fordern würde, die der Maler nur bei einem Gegenstande anwenden kann, der ihm zur Wahl eines beschränkten Lichtes allein Raum gewährt. In der ›Alceste‹ handelt es sich um ein Weib, das nahe daran ist, ihren Gemahl zu verlieren, den zu retten sie Muth genug besitzt, um unter den schwarzen Schatten der Nacht in einem schauerlichen Haine die Geister der Unterwelt heraufzubeschwören, und die noch in ihrem letzten Todeskampfe für das Schicksal ihrer Kinder zittern und von einem angebeteten Gatten sich jedoch gewaltsam trennen muß. In ›Paris‹ handelt es sich um einen blühenden Jüngling, der mit der Sprödigkeit eines zwar edlen, aber stolzen Weibes zu kämpfen hat, und dieses endlich mit allen Künsten erfinderischer Leidenschaft besiegt. Darum habe ich mir Mühe gegeben, einen Farbenwechsel zu ersinnen, den ich in den verschiedenen Charakteren des phrygischen und spartanischen Volksstammes fand, indem ich dem unbeugsamen und rauhen Sinne des einen den zarten und weichen des anderen gegenüberstellte. Darum glaubte ich, daß der Gesang, der in meiner Oper lediglich die Stelle der Declamation vertritt, in der Helena die ihrer Nation angeborene Rauheit nachahmen müsse; ebenso dachte ich, daß, weil ich diesen Charakter in der Musik festzuhalten suchte, man mir es nicht zum Fehler anrechnen würde, wenn ich mich je zuweilen bis zum Trivialen herabgelassen habe.«

Es wird nicht nöthig sein, das Werk in seinen Einzelheiten näher zu betrachten, da wir nur zu Wiederholungen veranlaßt werden würden. Gluck hatte damit die letzte Erinnerung an seine alte Thätigkeit auf dem Gebiete der italienischen Oper getilgt; er deutet jetzt in seinen Arien nicht nur die Situation leicht und oberflächlich an, sondern er schuf sie zugleich aus der Eigenthümlichkeit seiner handelnden Personen heraus, so daß diese mit der Situation in ihrer ganzen Besonderheit zum Bewußtsein kommen. Die Personen werden dadurch zu bestimmten Charakteren, die sicher erkennbar heraustreten aus der schattenhaften Existenz der italienischen Oper, zu wirklich denkenden und bewußt handelnden Individuen, die uns deshalb aber auch ganz anders, mit viel unwiderstehlicherer Gewalt selbstthätig, mitleidend und mitempfindend machen. Darauf aber beruht es auch, daß Paride ed[131] Helena nicht den Erfolg hatte, wie die vorerwähnten beiden Opern. Zum Theil nur verschuldet es der wenig Interesse erregende Text; für die große Masse ist eine so sein psychologische Entwickelung, wie sie der Meister hier bietet, wenig anregend, und die einzelnen Momente derselben in so großen, mächtig ergreifenden Bildern zusammenzufassen, wie sie die vorerwähnten Opern, wenn auch in anderer Art, zeigen, das vermochte er hier noch nicht. In Paride ed Helena fehlen die Höhepunkte, nach denen die einzelnen seinen Züge hindrängen und nach denen sie sich abstufen. Daß der Meister unbeschadet der feinsten Charakterisirung der einzelnen Personen und Momente diese Concentrirung in einzelnen Hauptmomenten in den beiden »Iphigenien« und in »Armide« gewann, giebt diesen Opern bei höchstem Kunstwerthe zugleich ihre durchschlagendere Wirkung.

Fußnoten

1 Rivoluzioni del Teatro antico Bd. II, c. II, 64.


2 Christoph Willibald Ritter von Gluck S. 92.


3 Jahrgang 1784, S. 485 ff.


4 Jahrgang 1764, Nr. 2.


5 Dresdener Journal (29. April 1856).


6 Bericht über die Wienerische Schaubühne. Wien 1768.

Quelle:
Reissmann, August: Christoph Willibald von Gluck. Sein Leben und seine Werke. Berlin und Leipzig: J. Guttentag (D. Collin), 1882..
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