32.

[72] So lange Mozart lebte, wurde ihm oft, mehr aus unverständigem Preis, als aus neckendem Übelwollen nachgesagt, er werfe seine Werke, auch die vortrefflichen schnell hin; nach dem Sprichwort: er schüttle sie aus dem Ärmel. Auch in die frühern Notizen aus seinem[72] Leben, nachdem er gestorben war, ist dies Wort übergegangen; und Bekannte, die nur seines äu ern Tuns geachtet, bestätigten es.

Herr Hofrat Rochlitz hat dies Wort durch Folgendes berichtigt und widerlegt.1

Mozart schrieb allerdings nicht gern: nämlich das Wort im buchstäblichen Sinne, bloß vom Stillsitzen und Federführen, verstanden. Dazu mußte er oft erst veranlaßt, wohl auch gedrängt werden. Ward er das aber, und war er erst warm dabei; so ging's schnell, oft sehr schnell! und doch zugleich, wenigstens in spätern Jahren, mit so beharrlichem Zusammenfassen aller geistigen Vermögen, daß er selten etwas, und kaum etwas Wesentliches zu verbessern fand.

Aber darum arbeitete Mozart nicht so schnell; nicht, wie es den Anschein hatte, leichthin und gleichsam spielend. Was er schrieb, wenn es in's Große oder doch in's Bedeutende gehen sollte, kam ihm selten erst in dieser Stunde zu, und nicht, als fiele es von ungefähr vom Himmel herab; viel weniger war dies mit der Anordnung und Gestaltung des Erfundenen der Fall.

Es war so: Mozart, war er allein, oder mit seiner Frau, oder mit andern, die ihm keinen Zwang auflegten, vor allem aber auf seinen vielen Reisen im Wagen – hatte die Gewohnheit, fast unausgesetzt, nicht nur seine Phantasie auf neue melodische Erfindungen (Themata, wenn man will) ausgehen zu lassen, sondern auch seinen Verstand und sein Gefühl gleich mit der Bearbeitung eines solchen Funds zu beschäftigen; wobei er, ohne es zu wissen, oft summte, ja laut sang, glühend heiß ward, und keine Störung duldete.

So machte er ganze Musikstücke im Kopfe fertig und[73] trug sie nachher mit sich herum,2 bis er zum Niederschreiben veranlaßt ward, oder auch in eigenem Drange sich ihrer entledigen wollte.

Daher, und da jenes vorhergegangen, konnte seine Arbeit hernach leicht und schnell vonstatten gehen, er hatte es sogar gern, wenn beim Niederschreiben um ihn her allerlei geplaudert wurde,3 wozu er dann wohl auch sein Wort, meist scherzend und neckend gab.

Um dergleichen Vorarbeiten nicht zu vergessen oder zu vermischen, bedurfte sein ausgezeichnetes Gedächtnis für Musik nichts weiter, als kurze Andeutungen, Schwarz auf Weiß; und zu diesen mußte er stets, vorzüglich aber auf Reisen in einer Seitentasche des Wagens, Blättchen Notenpapier zur Hand haben, welchen nun jene Notizen, jene fragmentarischen Grundrisse anvertraut wurden und welche Blättchen in einer Kapsel wohl aufbewahrt, sein Reisetagebuch eigener Art ausmachten. Dieses ganze Verfahren war ihm, wie es mußte, höchst wichtig; er entzog sich ihm nie ohne Not; und wo es von ihm abhing, litt er durchaus nicht, daß andere ihn demselben entzogen: die Sache war ihm, wie man sich jetzt ausdrückt, heilig.4

Herr Hofrat Rochlitz benutzt diese Angabe des Mozartschen Verfahrens zu einem sehr guten Rat für unsere Tonkünstler. Er sagt:

»Durchgehen wir die Kompositionen deutscher[74] Tonkünstler aus den letzten 15–20 Jahren, so müssen wir anerkennen, daß die Kunst reicher und gründlicher Ausführung, oft bis zu bewundernswerter Beharrlichkeit; die Kunst geschickter Handhabung der Formen, auch der seltenen und schwierigen, der angemessensten, sorgfältigsten Instrumentierung, und alles dessen, was, nach dem Vorgange großer Muster, durch treulich angewendetes Talent, viele Übung und ausdauernden Fleiß errungen und geleistet werden kann – daß diese Kunst jetzt unter vielen so rühmenswürdig herrschend geworden ist, wie sie es vordem, und seit langer Zeit, nur unter den ersten Meistern und wenigen ihrer vorzüglichsten Schüler und Nachfolger gewesen; so daß auch, wer sich in dieser Hinsicht schwach oder nachlässig zeigt, nicht mehr geachtet wird und keinen Eingang findet, wo, ihn zu finden, dem Künstler am Herzen liegen, und wird er gefunden, erfreulich sein kann.

Dagegen: an Erfindung, vornehmlich an melodischer; an dem, was man zu nennen pflegt die Ideen oder Gedanken an sich, abgesehen von der Bearbeitung – sind bei weitem die meisten unserer Komponisten, auch der sonst wahrhaft ausgezeichneten gegen die frühere Zeit gehalten, eher[75] ärmer als reicher, ganz zuverlässig aber weniger originell und selbständig, weniger bezeichnend und ausdrucksvoll, daher auch viel weniger mannigfaltig und ansprechend geworden; und so ist denn zwar eine gewisse Untadelhaftigkeit der Werke, aber auch bei aller Verschiedenheit der Bearbeitung des Einzelnen, eine gewisse Monotonie im Ganzen bemerkbar, von welcher man bis zur Trokkenheit nicht eben gar weit hat.

Dies fühlt man wohl auch im Geheim, obgleich man's übel nimmt, wenn andere es bemerken; um ihm abzuhelfen oder doch es zu verdecken, greift man zu auffallenden, gewaltsamen, aber entweder nur mechanischen, oder künstlichen und überkünstlichen – mithin in beiden Fällen wieder zu erlernbaren Hilfsmitteln: zu unstetem, den Nichtmusiker verwirrendem Modulieren, zu lärmenden Effekten des Einzelnen, wobei ein eigentliches Ganze gar nicht stattfinden kann, zu Anhäufung der Instrumente und deren nicht selten betäubendem Geräusch, zu höchst schwierigen, durch Schwierigkeit spannenden Figuren – kurz, zu Äußerstem in Äußerm.

Aber jedes Äußerste, gewöhnlich angewendet, wirkt nicht als ein Äußerstes, sondern nur als ein Gewöhnliches; jedes Äußere sättigt bald die Sinne, und gesättigte Sinne verlangen immer noch schärfere Reize: diese aber herzuschaffen, wehrt endlich die Natur; denn nur der Geist ist unendlich und das Gefühl.

So kommt es denn, daß wir nicht selten erfahren, daß den Zuhörern für ein Werk oder seine Ausführung durch jene Hilfsmittel, sind sie nicht ohne Geist angewendet, zwar ein Interesse beigebracht wird, aber daß ihnen alles dünkt, als hätten sie es schon gehört; daß ihnen zwar nicht kalt, aber auch nicht warm dabei wird; daß ihnen die ganze Musik, bald bloß in's Ohr, bald bloß in den Kopf geht, und mit dem letzten Tone verhallt, ohne daß[76] Phantasie oder Gefühl etwas Namhaftes, ohne daß selbst die Erinnerungskraft etwas bekommen hätte, das Festsüße, dessen man gern wieder gedächte, das man deshalb öfter zu vernehmen und noch besser zu fassen sich sehnte.


Woher kommt nun dies Verarmen an Erfindung?

Es gibt allerdings mehrere Ursachen, die Hauptursache aber ist, wie unsere Künstler gemeiniglich beim Schreiben zu verfahren pflegen.

Wie verschieden auch die Veranlassung oder sonstige Anregung sei: ihr Verfahren kommt auf Folgendes hinaus.

Sie tragen mit Vorliebe für jede Gattung ein gewisses allgemeines Vorbild in sich, das aus Bekannschaft mit einer Menge einzelner Vorbilder derselben Gattung sich von selbst gestaltet hat. Gewiß der äußern Kunstmittel (der reinen Schreibart, der Symmetrie der Teile, der Instrumentenkenntnis u. dergl.) und geübt in deren Anwendung, setzen sie in unzerstreuter Stunde, oftmals kaum nur die innerliche Erhebung und entschiedene Richtung ihrer Kräfte nach einem gewissen Zwecke abwartend, sich hin, legen Notenpapier zurecht und fangen getrost an, frühern Erfahrungen vertrauend, sie werden schon über dem Schreiben ergriffen werden, und etwas Gehöriges und Taugliches, etwas Achtbares und nicht Mißfallendes zu Stande bringen.

Dies gelingt nun auch sicherlich, steht es mit ihnen sonst nur, wie es sein soll; aber immer wird das Produkt auch nur etwas Gehöriges und Taugliches, Achtbares und nicht Mißfallendes sein, oder, wird es dennoch mehr, wird es bedeutender und lebendiger, so erreicht es dies – entweder durch Gründlichkeit, der Ausarbeitung, oder durch überraschende Effektstellen, durch Reize der Instrumentation u. dergl., zuverlässig aber, und fast ohne Ausnahme, nicht durch die Erfindung, durch die[77] Ideen an sich, abgesehen von ihrer Bearbeitung; denn diese, wie untadelhaft, anständig, wohl auch zum Zweck passend sie sein mögen, werden doch nicht wahrhaft neu, wahrhaft bezeichnend und ausdrucksvoll, eben darum auch nur sehr selten mannigfaltig und für sich schon ansprechend sein.

Und das ist auch gar nicht anders möglich; den einzelnen Fall ausgenommen, daß in solcher Schreibstunde wie durch ein Wunder der Geist unmittelbar zum allerhöchsten Aufschwung emporgerissen würde, von ihm alles jene Hindernde der Gewöhnung usw. plötzlich abfiele, das Allerbeste und Allerschönste plötzlich herbeikäme, ja standhielte und treu bliebe bis zur Vollendung wenigstens der Hauptsachen der Darstellung: ein Fall, der unter Tausenden kaum Einigen, eben den eminenten Genies, und auch diesen bei weitem nicht immer, ja nicht einmal oft begegnen kann: ein Wunder, ein wahres Wunder – mithin ein Ereignis, worauf nie irgend ein Mensch rechnen kann, worauf darum auch kein Besonnener sich jemals verläßt.

Eben darum haben selbst die größten, gerade auch in der Erfindung größten Genies, wenn sie nicht zugleich leichtsinnige, lässige, oder durch Eitelkeit verblendete, sondern besonnene und klare Männer waren, darauf nicht gerechnet, sondern die Momente erster, rein geistiger, unmittelbarer Erfindung als eine Gabe Gottes, achtsam, freudig und dankbar wahrgenommen, von den Stunden des Ausarbeitens und Vollendens ganz unterschieden, und, weil jene Momente so schnell verfliegen, weil, was sie gebracht, so leicht verdampft; so haben sie Hilfsmittel angewendet, es sogleich im Augenblick zu fixieren, um es hernach in den Stunden der Arbeit zu benutzen; sie haben es so gemacht, mit kleinen zufälligen Abweichungen in der Art und Weise, wie oben von Mozart berichtet worden ist, wie es von Joseph Haydn[78] und Gluck5 gleichfalls bekannt ist, und wie es Beethoven6 und andere hier zunächst zu nennende Meister gewißlich nicht anders machen werden. Aber, wie schon gesagt, bei weitem die meisten, vornehmlich unserer[79] jüngern Komponisten machen's in den meisten Fällen anders: sie beachten nicht, oder doch nur selten ›die Gunst des Augenblicks‹; vergessen, daß er ›der mächtigste von allen Göttern‹ ist; vertrauen der selbstgewählten Stunde und sich, und verschmähen jene Hilfsmittel oder vernachlässigen doch ihre Anwendung.«

1

S. Ein guter Rat Mozarts im 2ten Bande des trefflichen Werkes: Für Freunde der Tonkunst von Friedrich Rochlitz.

2

Von Mozarts bewundernswürdigem Gedächtnisse für Musik wurde schon S. 24 durch sein treues Behalten des Allegrischen Miserere Beweis geführt; die zwei folgenden Nummern werden es noch mehr beurkunden.

3

Man erinnere sich, wie es nach N. 17. bei dem Schreiben der Ouverture zum Don Juan und nach der Note zu N. 24. bei der Verfertigung des zweiten Haydn dedicierten, Quartetts herging.

4

Herr Abbé Stadler sagt, indem er in der Verteidigung der Echtheit des Mozartschen Requiem erzählt, daß er den musikalischen Nachlaß- des Verstorbenen geordnet: »Ich fand dabei, wie fleißig Mozart in seiner Jugend war, wie er nicht nur seine eigenen originalen Ideen, sondern auch von andern Meistern, die ihn besonders anreizten, zu Papier brachte, um sie späterhin auf seine eigene Art auszuführen, und wie man sagt, in succum et sanguinem zu verwandeln.«

Auch hat Mozarts zweiter Sohn mehrere geistvolle Notizenblättchen aus dem Fache der kontrapunktischen Studien und Vorübungen Mozarts aus dessen musikalischem Reisetagebuche dem Herrn Hofrat Rochlitz mitgeteilt, welche dieser mit N. 18 der Leipziger musikalischen Zeitung vom Jahre 1820 dem Publikum im Abdruck übergeben hat.

5

Joseph Haydn – eben an Erfindung vielleicht der reichste Geist, dessen je die Musik sich zu erfreuen gehabt – als er nach London ging, um in jedem von Salomon's Konzerten kontraktmäßig mit irgendeinem neuen Stück aufzutreten, nahm solcher Stücke schon verschiedene, fertig gearbeitet, mehrere in vollständigen Entwürfen, und außerdem in einem Taschenbuche eine Menge Themata und Andeutungen mit: gleichwohl fehlte es ihm einmal, und alles Ringens und Abmühens ungeachtet, konnte er, da jene Hilfsmittel an eben hier Passendem erschöpft waren, auf keine Erfindung zum Andante einer Sinfonie kommen; so daß er endlich genötigt war, das schöne Andante eines seiner Trios für Pianoforte, Violin und Violoncell hervorzulangen, und es mit wenigen Abänderungen für das Orchester zu instrumentieren. Man findet es in seiner Londoner Sinfonie aus B dur. Keine Frage, daß er aller Kunst- und Darstellungsmittel wie irgendeiner mächtig, hundert Andantes hätte schreiben können, wenn er hätte verfahren wollen wie eben die meisten unserer jüngern Komponisten, und nichts damit leisten, als was sie dann leisten. – Gluck, dem der Quell der Erfindung bei weitem nicht so ergiebig floß, trug sich mit einem Operngedicht zuweilen länger, als ein halbes Jahr, in allen Stunden seiner Einsamkeit, auf Spaziergängen usw., bis er für jeden Satz den Hauptgedanken, melodisch und harmonisch, in seinem Tagebuche hatte, dann sagte er zu seinen Freunden: »Meine Oper ist fertig!«, obgleich noch keine Zeile in Partitur stand; dann erst machte er sich gegen die Theaterdirektion verbindlich und dann schrieb er so ziemlich in einem Zuge.

6

Daß Herr van Beethoven es wirklich so machte als Herr Hofrat Rochlitz oben voraussetzt, davon wurde ich bei meinem vorletzten Besuche Wiens Augenzeuge. Er speiste häufig in dem Gasthofe, wo ich wohnte. Kam er von einem einsamen Spaziergange an den Tisch, so holte er immer sogleich ein Blatt aus der Tasche und trug, meistens summend, ein, was ihm sein Genius im Freien eingegeben hatte. Der Kellner wußte schon, daß er dann nicht eher fragen durfte, was er schaffe, bis er fertig war. Ich bemerkte zuweilen, daß B. während dieses Schreibens Tränen entfielen. Einmal schrieb er sehr lange. Ein Freund von ihm, der neben mir saß, lispelte mir zu: »Heute ist er gewiß auf mehr als einem Berge gewesen. Er hat viel mit heim gebracht. Je mehr er herumläuft, um so mehr ist Hoffnung, daß wir bald etwas Neues von ihm erhalten.«

Quelle:
Johann Aloys Schlosser: Wolfgang Amad. Mozart. Prag 1828 [Nachdruck Prag 1993], S. 72-80.
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