40.

[105] Der Rechtfertigung der Echtheit des Mozartschen Requiem fügt Herr Stadler Folgendes über dasselbe bei.

»Mozart nahm das Motiv zum Kyrie aus einem Händelschen Oratorium und das Motiv zum Requiem aus Händels Anthem for the Funeral of Queen Caroline, composed in the Year 1734.

Mozart fand in diesem Anthem eine sehr geeignete Idee zu einem Requiem, benutzte sie, wie das einige Blätter des Nachlasses bezeugten, führte sie nach seiner eigenen Art aus, fügte das Kyrie nach Händels Idee hinzu, und da ihm nun der Auftrag gemacht wurde, ein Requiem zu komponieren,[105] so suchte er hervor, was er schon früher entworfen, brachte alles in eine neue Partitur und führte alles meisterhaft aus.

Wahre Kenner werden sich gewiß einen köstlichen musikalischen Genuß verschaffen, wenn sie Händels Anthem und Mozarts Requiem vergleichen. Sie werden sehen, wie künstlich und schön beide Meister ihren verschiedenen Choral bearbeiteten und das ganze Motiv ausführten. Sie werden beide bewundern und nicht wissen, welchem sie den Vorzug einräumen sollen.

Das Kyrie kann weder Übungsstück noch Nachahmung genannt werden; es ist eine meisterhafte Ausarbeitung der aufgefaßten Idee. Alle Kunstkenner haben von jeher sowohl den Anfang des Requiem als die darauf folgende Fuge als ein wahres Meisterstück anerkannt Mozarts Arbeit steht als ein klassisches Nebenstück der Händelschen gegenüber.

Es ist viel schwerer ein fremdes, als ein eigenes Thema durchzuführen. Mozarts Genie war so reich, daß er nicht nötig hatte, von andern zu borgen; allein er zeigte eben dadurch, daß er es in der Tonkunst so weit als die größten Meister aller Zeiten und Völker gebracht habe. Hätte mancher Kompositeur etwas dergleichen versucht, so würde er ohne Zweifel größere Fortschritte gemacht haben.

Wer hat wohl dem großen Mozart übel gedeutet, daß er ein Motiv zu seinem Misericordias von seinem Meister Eberlin wählte? Wer würde wohl wagen, die Komposition der Zauberflöte ihm abzusprechen? Indessen ist allgemein bekannt, daß Schikaneder ihm manche Melodie, z.B. Der Vogelfänger bin ich etc., Bei Männern etc., vorsang, welche Mozart als Mozart auffaßte, und zu Papier brachte. Noch mehr, Mozart hat in dieser Oper einen Choral eingeschaltet, der nicht seine Erfindung war; aber auch zur Begleitung desselben wählte er eine Idee des berühmten Sebastian Bachs. Um dem Herrn Weber die Mühe zu ersparen,[106] durch Briefe Bachs Choral aufsuchen zu lassen, will ich ihn auf Kirnbergers Kunst des reinen Satzes, Berlin 1774, Seite 243 hindeuten. Nur ist noch zu bemerken, daß Mozart zu eben diesem Choral schon vorher eine ganz andere Begleitung von ihm selbst setzte, die ich in seiner Handschrift besitze. Allein Mozart wußte in seinen letzten Lebensjahren die großen Meister noch so zu schätzen, daß er Ideen von ihnen seinen eigenen vorzog. Wer beide Chorale mit einander vergleicht, wird die Verschiedenheit dieser herrlichen Begleitung von selbst einsehen.1 Auch Joseph Haydn studierte fleißig die alten Klassiker. Wie sehr deutet sein: Es werde Licht! in der Schöpfung auf jenes von Händel im Samson? Wie ähnlich sind seine Baßarien in den Jahreszeiten den Händelschen im Judas Maccabäus? Durch dergleichen Studien sind Mozart und Haydn wirklich in das Heiligtum der wahren Kunst eingedrungen. Überhaupt lehrt uns die Geschichte der Musik, daß bei Entstehung der figurierten Musik die ersten Meister immer einen einfachen Choralgesang wählten, den sie als Cantus firmus mit mehreren Stimmen begleiteten. Sie lehrt uns, da lange vor Pränestini die ersten[107] Meister in den Niederlanden, Obrecht, Ockeghem, Josquin Desprez, Mouton usw. zu ihren Messen sogar weltliche Melodien wählten, welche sie kontrapunktistisch und kanonisch begleiteten wie Malheur me bat depuis qu'une jeune fille, Princesse d'amorette etc. Die Geschichte lehrt uns, wie von Zeit zu Zeit eine Idee von einem Meister zum andern überging, wie alle, z.B. Bach und Händel ihre Vorgänger hatten, wie Haydn und Mozart das Vorhergehende auffaßten, erweiterten und immer auf höhere Gipfel der Kunst führten. Wer wird wohl behaupten, da einer dieser ein bloßer Abschreiber, oder Nachahmer gewesen sei?«

1

Es ist schon in N. 23 angegeben worden, daß Herr Stadler hier von dem Chorale: »Du, dessen Augen flossen, sobald sie Zion sah'n« spricht. Er läßt unerwähnt, worauf Herr Gerber aufmerksam gemacht hat, daß Mozart in der Zauberflöte auch noch einen andern Choral aus dem Gesangbuche der Protestanten benutzt hat. Herr Gerber sagt in der zweiten Ausgabe seines schätzbaren Lexikons: »Den ausgebreitetesten Ruf erwarb sich Mozart durch seine Zauberflöte. Die theatralische Beschaffenheit dieser Oper mochte freilich mit dazu beitragen. Denn nur der kleinere Teil wußte wohl die Musik gehörig zu würdigen. Einen Beleg hierzu kann Folgendes geben. Am Ende des Jahres 1793, nach dem ich schon manchen Bewunderer dieses Stücks gesprochen und noch mehr zu dessen Ruhm gelesen, wohnte ich einer Aufführung desselben zu Leipzig bei. Wie horchte ich auf, als die geharnischten Männer, unterstützt von Posaunen und Fagotten, die alte Choral-Melodie von Wolf Heintz: Christ unser Herr zum Jordan kam anstimmten! Daß nun über den Gebrauch, welchen hier Mozart von dieser Melodie gemacht, bei allen Zergliederungen der Zauberflöte noch niemand ein Wort hatte fallen lassen, mußte mich sehr in Verwunderung setzen.«

Quelle:
Johann Aloys Schlosser: Wolfgang Amad. Mozart. Prag 1828 [Nachdruck Prag 1993], S. 105-108.
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