42.

[109] Zum Schlusse noch ein wichtiges Urteil über Mozarts Verdienste im Ganzen, gefällt vom Herrn Hofsekretär Gerber.

»Fast kann man sich der paradox scheinenden Bemerkung nicht enthalten, daß Mozart zu früh auf dem Schauplatze erschien und zu früh wieder abtrat. Noch hatte er uns nicht alle Schönheiten in ihrer vollkommenen Entwickelung gezeigt, die so zu sagen, in den Falten seines Genius verborgen lagen, als er starb; und doch war das, was er uns bei seinem kurzen Verweilen auf der Erde gab, groß und erhaben genug, um öfters an das Unbegreifliche zu grenzen. Er war ein Meteor am musikalischen Horizonte, auf dessen Erscheinung wir noch nicht vorbereitet waren; noch klommen wir an den Bergen, welche uns auf unserer musikalischen Laufbahn zurückhielten, als er dieselben mit einem Riesenschritte übersprang,[109] uns zurückließ und uns gleichsam von der Ferne her die Vollkommenheit schon zeigte, zu der wir uns noch in unbestimmter Erwartung der Zukunft auf dem langsamen Wege der Natur entwickelten. Die Vollkommenheiten und Schönheiten, welche wir an seinen Kunstwerken empfanden, bezauberten und begeisterten in dem Grade, daß der Geschmack beinahe für andere, minder geniale Musik verwöhnt wurde und manche in ihrem Enthusiasmus zu vergessen anfingen, was Hasse, Graun, Hiller, Benda, Schulz und andere Meister in ihrer Art Großes und Schätzbares geleistet hatten. Noch schritten die Künstler mit Fleiß und Tätigkeit ruhig auf dem sichern und geraden Weg der Kunst fort und näherten sich ihrer Vollkommenheit nach den Gesetzen der Natur, zwar langsam, aber auch um so sicherer und wirksamer, als plötzlich Mozart erschien, und durch den Schwung seines Genies plötzlich eine allgemeine Revolution in dem Kunstgeschmack bewirkte. Mit einer Einbildungskraft, die, um das Ganze einer empfindungsreichen Situation in einem Bilde zusammenzufassen, jedes einzelne Gefühl bis zu seiner unbemerktesten Nuance verfolgte, unterstützt durch ein Genie, das diese Bilder ordnete und mittelst einer allumfassenden praktischen Kunstkenntnis und Fertigkeit den ganzen Umfang des Tonsystems mit scharfem Überblick beherrschte, um die Bilder so vollkommen darzustellen, wie sie ihm Gefühl und Phantasie vorhielten, mit diesen Hilfsmitteln, sage ich, lieferte er Kunstwerke, die von allem dem, was man bisher von praktischer Anwendung der Kunstgesetze gehört und gesehen hatte, weit abzuweichen schienen. Da herrschte ein Reichtum an Erfindung, eine Fülle und Kraft der Darstellung, deren Schönheit nur wenige kunstmäßig entwickeln und zergliedern – die meisten nur fühlen konnten.

Zu diesen letztern gehört unter andern der große Troß von Nachahmern, die alle mit dem Fluge des Ikarus die[110] Höhe zu erstreben suchten, zu der sich Mozart auf den Fittichen seines göttlichen Genies emporgeschwungen hatte, aber fast alle ohne Ausnahme das Schicksal ihres unglücklichen Vorgängers erfuhren – indem sie sich dem glänzenden Zielpunkte, in welchem Mozarts Genie strahlte, näherten, fielen sie verblendet in die Tiefe hinab. So tummelte sich das, mit Horaz zu sprechen, servum pecum imitatorum, auf diesem neu eröffneten Felde mit einer Freiheit herum, die notwendig in Zügellosigkeit und Ungebundenheit ausarten mußte, wenn sie nicht durch die Leitung eines Mozartischen Genies im Geleise gehalten wurde. Denn das bloße Gefühl war ein zu unsicherer Führer auf diesem noch so ungebahnten Wege, um gegen jenes grundlose Schwanken zu sichern, das nicht wenig Ähnlichkeit mit der Anarchie eines Staates hat, in welchem blinde Willkür statt positiver Gesetze herrscht. Darum sollten sie sich warnen lassen, diese Nachahmer durch die Erfahrung, die uns Horaz schon über ein ähnliches Verhältnis mitteilt In Mozarts Namen ruft er ihnen zu: Libera per vacuum posui vestigia princeps, non aliena meo pressi pede; und wer hier, um mit Mozart in gleicher Höhe über andere wegzuragen, erst nötig hatte, auf die Schultern seiner Vorgänger zu treten, der reichte bei weitem noch nicht an den erstrebten Punkt.

Die große Revolution im musikalischen Geschmacke hat sich aber mit ihren Folgen noch weiter verbreitet; denn außerdem, daß sie die Talente des Künstlers erschöpfte, indem sie dieselben zu Überspannungen ihrer ohnmächtigen Kräfte spornte, verleitete sie andere, das Publikum, für die ihm bisher aufgetischten kunstvollen und gewürzten Gerichte, durch eine Menge von oft nur zu faden Walzer-Opern in nur zu reichem Maße schadlos zu halten. In Italien, wo es vielleicht angeschickten Ausführern oder an hinlänglich gebildetem Kunstsinne[111] für Mozarts Werke fehlte, scheint sein Kunstgenius fast ohne Einfluß 1 geblieben zu sein und man hat immerfort sich mit den Reizen und Schönheiten für das Ohr allein begnügt, welche die Werke der ältern und neuern italienischen Meister, von Pergolese an bis zu Paisiello auszeichnen.

Mozarts große Virtuosität auf dem Pianoforte hat ebenfalls zur Erweiterung der Kunst in dieser Hinsicht wesentlich beigetragen. Und der Geschmack und die Einsicht, womit er sein glänzendes Talent anwandte, in dem die Überwindung der Schwierigkeiten immer den Regeln der Harmonie und Melodie, dem Ausdruck, dem Reize der Neuheit und überhaupt der angenehmen und schönen Wirkung untergeordnet war, entfernen von ihm den Vorwurf, die sogenannte musikalische Scharlatanerie oder Seiltänzerei befördert zu haben. Nicht jedem gab die Natur Anlagen zu ähnlicher Virtuosität; aber, wem sie solche gab, auf den hat auch Mozarts Beispiel vorteilhaft gewirkt,[112] ohne deswegen eine nachteilige Überschätzung dieser Fertigkeiten notwendig zu machen.

Um Mozarts Größe ganz zu würdigen, bedenke man, wie außerordentlich viel er in der kurzen Periode seines Lebens in allen Gattungen und Arten der Musik, vom Kleinsten bis zu Größten, vom Einfachsten bis zum Zusammengesetzten und Verwickeltsten in so mannigfaltigen Werken geleistet hat. Hätte man unter diesen zahlreichen Schöpfungen seiner genialen Einbildungskraft und seines durch Studium und Erfahrung gebildeten Kunstsinnes, womit sich die vertrauteste Kenntnis aller Kunstmittel verband, hätte man unter diesen Produkten nur in jeder Gattung, ja nur in einer, eines der vorzüglichsten; kennte man z.B. nur eine seiner herrlichen Sinfonien, wie die hinreißend große, feurige, kunstreiche, pathetisch erhabene in C; nur eines seiner schönen Klavierkonzerte; nur eins seiner ausgezeichneten Quartette, Quintette, Trios; nur eine seiner im Ernsten wie im Heitern und Romantischen gleich[113] bewundernswerten Opern, z.B. seine Entführung aus dem Serail, oder seinen Don Giovanni, das anerkannte Meisterstück der theatralischen Musik; unter so manchen würdigen und schönen Kantaten und andern Kompositionen für die Kirche, z.B. sein erstaunenswürdiges Requiem: so würde man ihn schon für eins der größten Genies der neueren Zeit und des verflossenen Jahrhunderts erkennen müssen. Und nun hat er sich in allen diesen verschiedenen Fächern mit so hoher Originalität der Erfindung, mit so viel Geschmack, Einsicht und meisterhafter Gewandtheit zugleich hervorgetan!

Dazu kommt, daß wenige wie er, die Gründlichkeit, den Ernst und tiefen Gehalt der antiken Musik mit den Reizen und der Anmut der modernen so glücklich vereinigten. Der Anbeter eines Joh. Seb. Bachs war selbst der gewandteste Kontrapunktist und zugleich ein anderer Gluck in der pathetischen dramatischen Musik. Er verband den Gehalt und die Würde der deutschen mit dem Zauber und der Lieblichkeit der italienischen Meister, ohne deswegen minder original zu bleiben.

Rechnet man hinzu jene große glänzende Virtuosität auf dem Pianoforte und, von Seiten seiner Denkungsart, seine bei allem richtigen Selbstgefühl für andere große Künstler, wie Joh. Seb. Bach, Händel, Gluck, Joseph und Mich. Haydn u.a. bewiesene Hochachtung, seine Gefälligkeit, die Wünsche der Kunstfreunde zu erfüllen, und überhaupt das Sanfte und Menschenfreundliche seines Charakters: so wird man mit Bewunderung und Rührung das Andenken eines Künstlers feiern, welcher der Stolz Deutschlands und des ganzen gebildeten Europas bleiben wird, solange der Sinn für geistvolle Ausübung der Tonkunst in ihrem ganzen Umfange, frei von tadelsüchtiger Einseitigkeit und Beschränktheit die Gemüter der Gebildeten belebt und erwärmt.«

1

Herr Gerber hätte in Bezug auf Mozarts spätere Meisterwerke auch »unbewundert« hinzusetzen können. Desto mehr gefielen aber die ersten Jugendarbeiten. Ich kenne sie nicht, es ergeht aber aus einer Äußerung Mozarts über dieselben, daß sie nur für Italien, d.h. Würde und Ausdruck hintansetzend, hauptsächlich für's Ohr berechnet waren. Er sagte von ihnen: »Stimmen auch meine Kinderwerke in den Klingklang der Italiener ein, so ergeht doch aus ihnen, daß mir als Kind schon dieser Klingklang zuwider war.« Auch konnte damals von Mozart noch keine vorzügliche Rücksicht auf Würde, Gehalt und Ausdruck begehrt werden. Hätte er sich dazu verstehen können, seine spätern Opern auf ähnliche Weise als Gluck seine erste auf italienischen Theatern erscheinen zu lassen, so würden, wenigstens die meisten, hohe Bewunderung unter Beschämung erweckt haben.

Als Gluck bei seinem ersten Besuche Italiens 1738 im Hause des Prinzen Melzi zu Mailand Engagement gefunden, und seine Talente durch diesen bekannt geworden waren, so trug ihm das dasige Theater die Komposition einer großen Oper auf. Er überließ sich bei der Arbeit seinem Genie ganz, ohne jemand um Rat zu fragen; entfernte sich aber deshalb auch völlig von der Bahn der übrigen Komponisten, in dem er alles, was Herkommen und Mode forderten, dem Ausdrucke opferte. Bei der Probe, welcher eine Menge Neugieriger beiwohnte, fehlte noch eine Arie, zu der die Worte erst umgeändert werden sollten. Gluck bemerkte, da man seine Musik ausnehmend tadelte, schwieg aber und schrieb nur die Arie, ohne die geringste Rücksicht auf ihren Charakter und ihre Beziehung auf das Ganze des Stücks zu nehmen, ganz nach dem italienischen Leisten, bloß dem Ohre zu schmeicheln. Da sie probiert wurde, tat sie Wunder auf die Zuhörer. Man raunte sich zu, sie sei nicht von Gluck, sondern von dem damals in ganz Italien allgemein angebeteten Sammartini. Endlich rief man dieses laut. Gluck schwieg wieder. Bei der Vorstellung der Oper änderten sich die Urteile gänzlich. Man bewunderte die Vortrefflichkeit der Musik des Ganzen aufs Höchste und tadelte nur die fade und unpassende Manier der einzelnen Arie. Alles schrie, diese entstelle die ganze Oper, und man ruhte nicht, bis Gluck sie umsetzte. Von dem Augenblicke an, da dieses geschehen war, wurde Gluck allgemein weit über Sammartini erhoben.

Don Juan würde jedoch auch bei solchem Manöver in Italien kein Glück gemacht haben. Über den uns erschütternden Text wurde dort gelacht.

Quelle:
Johann Aloys Schlosser: Wolfgang Amad. Mozart. Prag 1828 [Nachdruck Prag 1993], S. 109-114,116.
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