III.

Der neunjährige Aufenthalt Bachs in Weimar ist die Zeit seiner glänzendsten Wirksamkeit als Orgelspieler und Orgelcomponist, denn zunächst und vor allem auf dieses Gebiet wies ihn seine amtliche Stellung. Die sachkundigen Verfasser des Nekrologs erzählen: »Das Wohlgefallen seiner gnädigen Herrschaft an seinem Spielen feuerte ihn an, alles mögliche in der Kunst, die Orgel zu handhaben, zu versuchen. Hier hat er auch die meisten seiner Orgelstücke gesetzet«1. Die ihm eigne Energie des Strebens, verbunden mit einer Begabung höchsten Ranges, ließen den Erfolg nicht ausbleiben. Rasch verbreitete sich sein Ruhm durch Mittel- und Norddeutschland: auf den Kunstreisen, die er von Weimar aus unternahm, bedeckte er sich mit Ehren aller Art, und Mattheson in Hamburg schrieb ums Jahr 1716 von ihm die Worte: »Ich habe von dem berühmten Organisten zu Weimar, Herrn Joh. Sebastian Bach, Sachen gesehen, sowohl für die Kirche, als für die Faust, die gewiß so beschaffen sind, daß man den Mann hoch aestimiren muß«, und ersuchte ihn zugleich um seine Biographie für die damals schon geplante, aber erst 24 Jahre später erschienene Ehrenpforte2. Wie er zur Erreichung der höchsten Vollendung eine eigenthümliche Art der Fingertechnik verwendete, auf der auch zum beträchtlichen Theile seine Größe als Claviervirtuos beruhte, darüber ist späterhin das Seinige zu sagen. Hierzu gesellte sich noch eine bis damals unerhörte Sicherheit, Kühnheit und Gewandtheit im obligaten Pedalspiel3. Seine Werke, deren technische [392] Schwierigkeiten auch heute noch nicht überboten sind, legen dafür Zeugniß ab, daß er sich mit der Zeit die unumschränkteste Gewalt über das mächtige Tonwerkzeug aneignete, und weil bei ihm stets das Aeußere nur dem Innern diente, dürfen wir annehmen, daß die darin zu erfüllenden Anforderungen an Spielfertigkeit noch nicht einmal das Höchste seiner technischen Leistungsfähigkeit darbieten, was er wohl in freien Improvisationen zeigte, wo es zu glänzen galt, oder bei der Prüfung eines neuen Orgelwerks. Auch in der Kenntniß des Orgelbaues, von welcher schon der Mühlhäuser Entwurf eine so bedeutende Probe giebt, vervollkommnete er sich bald dermaßen, daß er als ein den angesehensten Kunstveteranen ebenbürtiger Sachverständiger galt. Wir werden ihn seine hohe Einsicht im Laufe der Zeit noch oft genug bethätigen sehen. Für die eignen Orgelproductionen aber erwuchs aus derselben ein Element, was leider an ihrer überlieferten Gestalt nicht haften geblieben, und doch für ihre volle Wirkung so wesentlich gewesen ist: eine ganz eigenthümliche und erfindungsreiche Art des Registrirens. Bachs Scharfsinn war in harmonischen und klanglichen Combinationen gleich eminent, und wie in ersterer Hinsicht sein Auge Pfade zu finden gewußt hat, die Niemand vorher ahnte, so war er auch in neuen Klangmischungen unerschöpflich, oft eigenartig bis zum Befremden, aber niemals stillos und raffinirt4. Diese dem Instrumentiren späterer Orchestercomponisten ähnliche Kunst entfaltete er besonders da, wo ihm ein mächtiges, stimmenreiches Werk unter die Hände kam; leider hat er grade an seinen Aufenthaltsorten niemals eins besessen, was des Meisters ganz würdig gewesen wäre. Wie nun die Tonfarbe vorzüglich geeignet ist, ein poetisches Element in der Musik zum Ausdrucke zu bringen, so mußte auch besonders den Orgelchorälen die Registrirung zu gute kommen. Ob sich noch einmal die Mittel bieten werden, bei einer Anzahl derselben die Spuren seiner klanglichen Intentionen zu finden, ist dem Zufalle anheim zu geben. Aufgezeichnet hat sie Bach wenigstens in den erhaltenen Autographen nicht, da die oft sehr verschiedene Qualität der Orgelregister hierbei ein entscheidendes Wort hat, und man damals, wie in der Ausführung des Generalbasses, so in der angemessenen Stimmenverbindung für ein Orgelstück [393] der Intelligenz des Spielers sehr vieles überließ. Aus Form und Charakter der Composition lassen sich nur ganz allgemeine Winke entnehmen. Aber bei einem einzigen Orgelchorale ist es möglich, freilich auf mittelbare aber doch ganz sichere Weise zu Bachs ursprünglicher Registrirung zu gelangen. Walther bietet in seinen beiden umfassendsten Sammlungen eine Bachsche Bearbeitung des Chorals »Ein feste Burg ist unser Gott«, die er, wie alle von ihm überlieferten Bachschen Choräle, zur Zeit ihres weimarischen Zusammenlebens sich angeeignet haben muß; auch weist die Anlage mit Bestimmtheit auf eine frühe Entstellungszeit5. In der älteren Sammlung findet sich darüber die Bezeichnung:à 3 Clav:, sodann steht über dem Anfangsgange der linken Hand: Fagotto, über der nach drittehalb Takten hinzutretenden rechten: Sesquialtera. Nun besaßen weder Walthers noch Bachs Orgeln in Weimar drei Manuale6, es fehlte auch beiden ein Fagott-Register, so daß jene Bezeichnungen unmöglich von Walther selbst herrühren können, freilich konnten sie ebensowenig von Bach mit Rücksicht auf die Schloßorgel gemacht sein. Erinnern wir uns jedoch, daß nach Bachs eigner Angabe der zu reparirenden Mühlhäuser Orgel ein Fagott 16' statt der unbrauchbar gewordenen Trompete eingefügt wurde, daß ferner in das neue Brustpositiv seinem Entwürfe gemäß eine Tertia gelangte, »mit welcher man durch Zuziehung einiger anderer Stimmen eine vollkommene schöne Sesquialteram zuwege bringen kann«, daß endlich Bach verpflichtet war, den Bau bis zur Vollendung zu beaufsichtigen, und somit gewissermaßen Bürgschaft dafür zu übernehmen, so ist wohl kein Zweifel mehr, daß eine für die renovirte Mühlhäuser Orgel berechnete Composition vorliegt, in der vor allem die neu hineingebrachten Stimmen zur Geltung kommen sollten. Da der Neubau im Jahre 1709 beendigt wurde, muß die Composition in diese Zeit fallen; specieller noch scheint der behandelte Choral auf das Reformationsfest hinzuweisen, an welchem demnach Bach der Gemeinde und [394] dem Rath die Orgel zuerst im vollen Glänze vorgeführt haben dürfte. Die Combination des ins Geschlecht der Zungenregister gehörigen Fagotts mit der Sesquialtera ist eine von den »allerhand neuen inventionibus«, von denen Bach an der betreffenden Stelle des Entwurfs redet, und giebt von den frappanten Klangmischungen, welche er zu bereiten liebte, eine ziemlich deutliche Ahnung. Die Composition bringt beide Register gleichmäßig gut zur Geltung, indem die Anfangszeilen mit ihrer Wiederholung fast nur zweistimmig und zwar so durchgearbeitet werden, daß rechte und linke Hand abwechselnd den Cantus firmus führen. Im zwanzigsten Takte weist die Bezeichnung R.=Rückpositiv beide Hände aufs dritte Manual, von wo die fünfte Melodiezeile in Böhms Weise umspielt und thematisch fortgesponnen wird und zum ersten Male Pedal eintritt. Obwohl dieses nun keine Registrirungsanweisung führt, so erkennt man doch aus den ruhig gleitenden und eine präcise Ansprache fordernden Achteln desselben in Verbindung mit dem geringeren Klang-Volumen des Rückpositivs sofort, daß hierin der neue Subbass 32' (s. den Entwurf unter Nr. 4) sich ausweisen soll. Von Takt 24 an werden wieder, wie am Anfang, die Manuale des Ober- und Brustwerks in Thätigkeit gesetzt, welche sich, vermuthlich mit stärkerer Registrirung, in Sechzehntelpassagen durchkreuzen, während für die sechste und siebente Zeile das Pedal den Cantus firmus übernimmt, unzweifelhaft um den verbesserten Posaunenbass (s. Entwurf, Nr. 5) eine Probe ablegen zu lassen: obgleich die Bezeichnung fehlt, spricht doch die ganze Anlage aufs deutlichste dafür. Die Durcharbeitung der achten Zeile, Takt 33–39, entspricht der fünften, und jedenfalls auch in der Stimmenmischung, da der Rhythmus der Pedalfigur3. zur Erprobung einer prompten Tonangabe sehr geeignet ist, worauf ja beim Subbass, zumal dem 32füßigen, so viel ankommt. Zu den drei letzten Sechzehnteln des 39. Taktes findet sich nur die Bezeichnung: Oberwerk, was der weimarischen Orgel Walthers gelten wird; unschwer erkennt man, schon aus der bequemen Möglichkeit der Registerveränderung, daß von hier an Brust- und Oberwerk gekoppelt wirken mußten (s. Entwurf, Nr. 11), und daß endlich mit der zweiten Hälfte des 50. Taktes bis zum Schlusse das volle Werk eintrat. Walther, der als Bekannter des Orgelbauers Wender vielleicht Bach nach Mühlhausen begleitete, notirte sich beim Eintragen des Chorals [395] in seine ältere Sammlung die überraschende Registrirung des Anfangs, paßte aber im Verlauf des Abschreibens den Klangwechsel mehr und mehr seiner eignen zweiclavierigen Orgel an (daher die einfache Bezeichnung »Oberwerk« im 24. und 39. Takte) und ließ anderes, wie den Eintritt der vollen Orgel in Takt 50 als selbstverständlich ganz fort; in der jüngeren der beiden Sammlungen unterdrückte er auch die Zusätze: »à 3 Clav:; Fagotto; Sesquialtera«, weil sie für seine Praxis zwecklos waren. Was aber Bach in diesem Orgelchoral geleistet hat: wie er den Farbenreichtum der Orgel in schönster Mischung und Abstufung verwendet, und doch diese äußere Veranlassung in der Idee eines Kunstwerks so ganz aufzulösen vermag, daß alles aus musikalischen Gründen an seinem Platze steht – hierfür kann man nur die höchste Bewunderung empfinden. Es war natürlich nicht jede Form für diesen Zweck gleich geeignet, und Bach, der eben alle Mittel beherrschte, hat mit richtigem Blicke den Böhmschen Choraltypus gewählt. Ebensowenig darf man glauben, daß er immer sehr mannigfaltig registrirt habe; er richtete hierin sich natürlich nach dem Charakter der Composition, und die einfache Größe des Pachelbelschen Chorals durch bunten Farbenwechsel zu verunzieren, ist ihm sicher niemals eingefallen7.

Gehen wir nun von der äußerlichen Technik, dem Mittel, zu dem eigentlichen Zwecke derselben, den Tonschöpfungen, weiter, so kann an dieser Stelle nur erst von einer Anzahl freier Orgelstücke die Rede sein. Feste chronologische Anhaltepunkte sind für Bachs Orgelcompositionen in viel geringerem Maße vorhanden, als für seine Cantaten, ja selbst Kammermusikwerke. Was in dieser Hinsicht zu [396] gewinnen war, ermöglicht jedoch, in Verbindung mit inneren Kriterien einen ziemlich scharf begränzten Ueberblick der Leistungen des weimarischen Hoforganisten8. Unter den freien Orgelschöpfungen stellen sich dem nur einigermaßen geübten Auge auch bald zwei verschiedene Gruppen dar, eine frühere und eine spätere. Bei den Choralbearbeitungen wage wenigstens ich eine solche Scheidung nicht durchzuführen. Ganz offenbar ist dies der Kunstzweig, in welchem Bach am frühesten zur Reife gelangte und seine volle Originalität am ehesten zur Erscheinung kam. Was Walther an Bachschen Orgelchorälen aufbewahrt hat, ist zum Theil so außerordentlich groß und kühn, daß es auch von den Leistungen der späteren Leipziger Zeit kaum übertroffen wird, und man erinnere sich nur, wie vollendet schon jene Choralpartiten in Böhms Manier uns erschienen, welche ein etwa 17jähriger Jüngling schrieb. Ein einzelnes Stück, wie die Bearbeitung von »Ein feste Burg«, deren Entstehungszeit wir entdecken konnten, genügt aber als Handhabe um so weniger, weil grade dieses für einen besondern Zweck geschaffen war; hier müssen wir uns also bis auf weiteres mit einer Gesammtdarstellung begnügen, welche am Beschlüsse der weimarischen Periode gegeben werden soll.

Den Zug eröffnen drei alleinstehende Praeludien aus G dur, A moll und C dur9. Das erste dürfte unter die allerfrühesten weimarischen Compositionen gehören, mag auch schon vor 1708 entstanden sein. Eine Art von thematischer Entwicklung ist wohl vorhanden, der Hauptzweck aber war Entfesselung eines brausenden Tonstroms, in dem die ungestüme Seele des jungen Schöpfers jauchzend auf- und niedertaucht: die hin und wieder strömenden Sechzehntelgänge und die vollgriffigen, schallenden Accorde sagen es. Helle Besonnenheit spricht aus dem zweiten: es entspinnt sich ganz aus dem thematischen Stoffe eines einzigen Taktes, dessen einzelne Bestandtheile in erfinderischer Versetzung und mit großer harmonischer Mannigfaltigkeit [397] durch alle Stimmlagen wandern. Höchstens wirkt der lange festgehaltene, gleichmäßig-ruhige Rhythmus etwas monoton, dem nur gegen das Ende Sechzehntelgänge größeres Leben bringen; ganz besonders fein ist hier noch das Doppelpedal eingeführt. Das dritte und kürzeste Praeludium führt zum Theil einen absteigenden Tonleitergang imitirend durch, und ließe sich seines saubern vierstimmigen Satzes wegen auch einer etwas spätem Zeit zuweisen, wenn nicht die Takte 20 bis 26 dagegen sprächen, welche im Widerspruch mit Bachs nachmaliger Consequenz dem gebundenen Stile des übrigen Stückes untreu werden. Weiter ist eine Fantasia aus C dur für Manual allein zu erwähnen, deren treibender Keim in dem Rhythmus 3. besteht; diese scheint einem technischen Zwecke ihre Entstehung zu verdanken, indem sie ein sehr sorgfältig gebundenes Spiel und Leichtigkeit im Ablösen der Finger auf derselben Taste voraussetzt. Da schon jetzt Schüler um Bach sich zu sammeln anfingen, so mag er für einen solchen das Stück geschrieben haben10. Vielleicht hing damit eine Fuge derselben Tonart ursprünglich zusammen, die auch fast nur für Manual gesetzt ist und einen ähnlichen Grundrhythmus hat11. Ihre frühe Entstehungszeit ergiebt sich, von allem andern abgesehen, schon aus den fünf Schlußtakten, einmal weil die Accordbildungen derselben sich ganz an Buxtehudes Weise anschließen, wovon der Componist schon in den letzteren weimarischen Jahren keine Spur mehr zeigt, sodann aus dem nur hier eintretenden Pedale. Daß die Fuge ein hervorragendes Kunstwerk sei, kann man nicht sagen, obwohl sie tüchtig und fließend gearbeitet ist12. Es folgen acht zusammen überlieferte kleine Praeludien und Fugen13. Wie man dieselben für Anfängerarbeiten Bachs hat halten können, ist nicht [398] recht begreiflich, da sie durchweg den Stempel gebietender Meisterschaft tragen, auch entsprachen grade in der frühesten Zeit die knappen, einfacheren Formen ebensowenig Bachs Neigung, wie der jedes andern jungen Genies. Dagegen ist bei aller Selbständigkeit im Allgemeinen doch eine Anzahl von Einzelzügen darin, welche deutlich auf gewisse Manieren der nordländischen Meister hinweisen, z.B. die Bildung der Themen zur ersten und vierten Fuge, vieles in der achten Fuge und Figurationen, wie im 13. und 14. Takt des fünften Praeludiums. Man muß demnach annehmen, daß diese acht Compositionen geschrieben wurden, als der Verfasser den Einflüssen jener großen Orgelkünstler sich noch nicht ganz entzogen hatte. Hierzu kommt aber noch, daß die meisten der Praeludien sowohl in ihrer Gesammtgestalt, als in ihrer auffälligen und abweichenden Figuration bestimmt die Einwirkung der Vivaldischen Violinconcerte erkennen lassen, welche Bach grade damals in großer Anzahl auf Clavier und Orgel übertrug. Diese Einwirkung ist so einleuchtend, daß es überflüssig wäre, sie im Besonderen nachzuweisen, zumal die Vivaldischen Arrangements veröffentlicht sind und jedem zur Vergleichung vorliegen. Es empfiehlt sich nun die Vermuthung, daß die Stücke wiederum für einen oder einige hervorragend tüchtige Schüler aufgesetzt wurden: sie verlangen eine nicht unbedeutende Technik, zumal auch im obligaten Pedalspiel, sind aber für des Meisters eignen Gebrauch technisch nicht entfaltet und inhaltlich nicht schwerwiegend genug. Als besonders vortrefflich kann man das zweite, dritte, fünfte und siebente nennen. In der, übrigens auch sehr gelungenen, sechsten Fuge setzt im 38. Takte das Pedal nach langer Pause nicht mit dem Thema, sondern nur mit harmonischen Hülfsnoten ein, was nicht ganz ordnungsgemäß ist und auch von Bach später nicht mehr zugelassen wurde. Dagegen ist im 31. Takte die Einführung der C moll-Tonart grade wegen ihrer Natürlichkeit und Leichtigkeit ein rechter Meisterzug.

Von der Zahl der an Umfang und innerm Werth hervorragenderen Compositionen nennen wir zuerst eine Fuge aus G moll14, deren sehr schön erfundenes Thema und meisterlich strömende Ausführung ihr mit Recht eine große Beliebtheit erworben hat. Man [399] wird darum die Eigenschaften, durch welche sie hinter den Werken nachfolgender Jahre noch zurücksteht, nicht übersehen. Zu ihnen gehört vor allem die sich stets gleichbleibende Contrapunctirung des Themas, die auch meistens nur einstimmig ist, denn harmonische Füllnoten und Sextenverdopplungen (Takt 41 und 42) kommen billiger Weise nicht in Betracht; nur im fünften Takte vor dem Schlusse wird sie einmal dreistimmig, während die schönen freien Zwischensätze ein reicheres polyphones Leben zeigen. Die unregelmäßige Bildung des Gefährten darf man nicht beanstanden; das hier übertretene Kunstgesetz hat für ein so langes, melodisches Thema kaum irgend welche Gültigkeit, da, wenn auch dem Schritt auf die Dominante mit dem Schritt auf die Tonika geantwortet würde, doch schon mit den nächsten Noten die Tonart D moll klar zur Geltung kommen müßte, und nur für einen Augenblick noch das Ohr in der Haupttonart festgehalten wäre. Dies ist hier aber um so weniger nothwendig, als die ganze Composition in ihrer Entwicklung nicht nach der Dominant-Tonart, sondern nach der Durparallele ausweicht, nicht zu gedenken, daß unter der regelrechten Beantwortung die Schönheit des Themas gelitten hätte. Dagegen ist wieder der bedeutungsleere Pedaleintritt im 26. Takte ein Merkzeichen der Zeit, ein stärkeres noch der gleichsam vorbereitende Themaeintritt der linken Hand im 25. Takte, welche nach wenigen Tönen ihre Rolle an die rechte Hand abgiebt. Solche Züge, die jedes objectiven Formgrundes baar nur in der augenblicklichen Laune ihre Erklärung finden, wird der nachdenkende Künstler, welcher nach dem Vorbilde der Natur die möglichste Zweckmäßigkeit der Einzeltheile seiner Kunstorganismen anstreben muß, mehr und mehr zu beseitigen suchen. Findet sich nun dieselbe Willkürlichkeit gar wiederholt, so ist dies eins der sichersten, innersten Beweismittel für nahe an einander liegende Abfassungszeiten der Tonstücke. Die Erscheinung liegt vor bei einem Praeludium mit Fuge aus C dur15. Im 23. Takte der letzteren sehen [400] wir das Pedal, was bis dahin geschwiegen hatte, mit einem dem Thema ähnlichen Gange eintreten, wonach im nächsten Takte das eigentliche Thema in der obersten Stimme nachfolgt, das Pedal aber bald darauf wieder gänzlich verstummt, und erst im 36. Takte seinerseits das wirkliche Thema bringt. Außerdem setzt es gegen Ende nach mehr als zwanzigtaktiger Pause plötzlich noch einmal mit einem Orgelpunkt ein. Fuge wie Praeludium bieten übrigens auch in ihrer ganzen Gestalt sichre Handhaben genug zur Bestimmung ihres Alters: die Massenhaftigkeit der Zusammenklänge, die virtuosenhafte Brillanz der Schlüsse, die Freiheit der Stimmigkeit. Die Wirkung dieser Composition ist bei gutem Vortrag und entsprechend starkem Orgelwerke eine außerordentliche; es braust hindurch, wie Frühlingssturm in der Märznacht, und man fühlt, daß eine solche Kraft wunderbares vollbringen wird. Ganz andrer Art ist Praeludium und Fuge aus E moll16. Im Praeludium kämpfen düsterer Stolz mit tiefer Schwermuth, und diese behauptet in der Fuge allein das Feld; der innere Zusammenhang beider Stücke ist viel enger, als er sonst meistens bei Bach zwischen Praeludium und Fuge zu sein pflegt. Jenes beginnt mit breitrollenden Passagen (die geschüttelten Zweiunddreißigstel in Takt 6, 8, 9, 10 und 28 sind Buxtehudesch17, leitet aber schon vom elften Takte an in eine ruhigere Entwicklung über, aus der das ernst sinnende Antlitz des Künstlers unverschleiert hervorschaut. Das ist jene erhabene Melancholie, die als tiefer Grundton so viele, ja wohl die Mehrzahl der Bachschen Compositionen durchzieht; nur Beethoven noch war ähnlicher und gleich ergreifender Stimmungsäußerungen mächtig, wenn sie gleich eine andre Farbe tragen! Wie tiefe Seufzer irrt es, von nachschlagenden, unwillig abwehrenden Accorden begleitet, durch die Stimmen:


3.

Dann bäumt sich wohl das Pedal gewaltig in die Höhe, zuletzt in mächtigen Decimensprüngen, aber umsonst – es gilt sich zu ergeben! [401] So zieht die Fuge dahin, in ihrem Gesammtsinne jedem gleich verständlich, im Einzelnen voll unbeschreiblichen und doch stets deutungverlangenden Ausdrucks. Gleich das Thema, schwebend und schüchtern, dann still seinen Weg wandelnd, ist von unendlichem Zauber18, wie Antwort und Frage entwickelt sich die Contrapunctirung, und in milder Festigkeit schließt das Thema mit einem überraschend schönen Pedaleintritte ab und in derselben Lage, wie es zuerst ertönte.

Bei einem Künstler, der sich freudig im schwer erworbenen Besitz aller technischen Mittel fühlt, ist es begreiflich, daß er Gelegenheit sucht, sein Vermögen allseitig zu zeigen. So kommt es, daß grade in Bachs Compositionen aus den ersten weimarischen Jahren neben nie vernachlässigtem Gedankengehalt auch nicht selten das virtuose Moment stark hervortritt. Die Orgelschöpfungen, welche uns dies beweisen sollen, gehören noch heutigen Tages zu den glänzendsten Concertstücken, welche es giebt, wie denn ja überhaupt schon Bachs Spielfertigkeit kaum von jemandem hernach erreicht, gewiß nicht überboten ist, und weil der Satz aus der genauesten Bekanntschaft mit dem Instrumente hervorwuchs, ist ihre Wirkung, wenn sie mit ganzer Beherrschung vorgetragen werden, auch jetzt noch eine gewaltige, oft ganz ungeheure, allerdings nicht so nachhaltige und tiefe, wie die seiner späteren Werke. Wir führen zuerst eine Toccate und Fuge in D moll auf19. Auch diese zeigt, ohne ein großes Originalgenie zu verleugnen, noch im Einzelnen manche Spuren der nordländischen Schule. So ist gleich für die Toccate nicht die einfache, ruhige Form Pachelbels, sondern die bunte und [402] aufgeregte Buxtehudes gewählt: abgerissene »recitativische« Gänge, breithallende Accorde, fliegendes, rollendes Laufwerk im Klangwechsel verschiedener Claviere bilden ihre Elemente. Das Fugenthema gehört zu jenen auch von Bach mit Vorliebe gepflegten Gebilden, welche durch gebrochene Harmonien eine Grundmelodie durchklingen lassen und so Bewegung mit Ruhe auf eine orgelgemäße Art verbinden, besonders auch für das Pedal sich wirkungsreich erweisen. Die Ausführung ist frei und phantastisch; lange Strecken hindurch wiegt sich das klangschwelgende Ohr auf den Wogen von Tönen, die mit dem Hauptgedanken in gar keiner Verbindung stehen (er steckt höchstens einmal den Kopf hervor, um schnell wieder unterzutauchen), auch die Durchführung einer gewissen Stimmenzahl ist nicht zu erkennen. Der Schluß leitet in das Spiel des Anfangs, zu Orgelrecitativen und dröhnend sich wälzenden Accordmassen zurück; im 137. Takte tritt eine Figur auf, welche Bach einem selbständigen Clavierstücke großentheils zu Grunde gelegt hat, und auf die wir im Voraus aufmerksam machen. Der vergleichende Leser wird auch an der Factur mancher Stellen (z.B. Takt 87 ff., Takt 105 ff.) eine Aehnlichkeit mit der zuvor besprochenen G moll-Fuge nicht übersehen. – Ferner: Praeludium und Fuge aus G dur20. Beide Sätze sind sehr weit ausgeführt, der erste zählt 58 Dreizweitel-Takte, der zweite nach einer dreitaktigen Ueberleitung noch 149 derselben im Vierviertelmaß. Die Hauptbedeutung ist dieses Mal bei dem Praeludium, das, wie es schon Buxtehude mit Geist und Erfindung gethan hatte, über ein imitatorisch und motivisch durchgeführtes Motiv gesetzt ist, nur viel reicher und prächtiger als es jener vermochte. Ein zehntaktiges Pedalsolo, was den ganzen Umfang der Claviatur von oben bis unten durchmißt, giebt dem Virtuosen wie der Orgel Gelegenheit, sich im besten Lichte zu zeigen (das Pedal war an der weimarischen Schloßorgel besonders gut), entwickelt sich aber ganz logisch aus dem Grundmotiv. Nach diesem mächtigen Stücke fällt die allerdings rauschende und brillant klingende, aber mehr nur äußerlich bewegte Fuge ab, zumal sie etwas zu lang ist. – Weiter: Praeludium und Fuge aus D dur21 – eine der blendendsten [403] Orgelcompositionen des Meisters! Das Praeludium führt nach einigen vorbereitenden Gängen und Klängen den Gedanken:


3.

in Imitationen und motivischen Erweiterungen unablässig durch; alla breve ist es überschrieben, ohne daß aber diese Bezeichnung von der Temponahme zu verstehen wäre, sie bezieht sich vielmehr nur auf den streng gebundenen, durch viele Syncopirungen gezierten und immer im vollen harmonischen Glanze sich zeigenden Stil. Mit dem 96. Takte macht es einen Trugschluß nach E moll und ergeht sich sodann bis ans Ende nach Buxtehudes Weise in frei-phantastischen Harmonien, die durch den kühnen Gebrauch des Doppelpedals eine großartige Klangkraft erhalten. Auch aus der nun folgenden Fuge klingt die Manier des Lübecker Meisters hin und wieder hervor: eine früher besprochene Fuge desselben aus F dur, deren Thema mitgetheilt wurde, gegen den Schluß hin auch gewisse Gestaltungen aus der Fis moll-Fuge haben offenbar eingewirkt. Sie ist ein Bravour-Stück von Anfang bis zu Ende, aber im besten Sinne des Wortes. Das fünf Takte lange Thema rauscht in lauter Sechzehnteln dahin, nur einmal durch eine kecke Pause zerschnitten. Auf harmonische Vertiefung und kunstvolle Stimmenverflechtung ist es hier weniger abgesehen. Besonders findet ein virtuoser Pedalspieler seine Rechnung, da der Fußtechnik das Thema ganz vorzugsweise angepaßt ist. Bei diesem Wirbeltanz der Töne, der nach dem Schlusse zu toller und toller wird, lernt man die Worte des Nekrologs würdigen: »Mit seinen zweenen Füßen konnte er auf dem Pedale solche Sätze ausführen, die manchem nicht ungeschickten Clavieristen mit fünf Fingern zu machen sauer genug werden würden«22. Daß die Composition für eine bestimmte Gelegenheit, etwa für eine von seinen Kunstreisen gesetzt wurde, ist wohl unzweifelhaft, es weist auch der Zusatz concertato, welcher sich in einer alten Handschrift des Praeludiums findet, darauf hin23. Uebrigens scheint es, daß Bach später das allzu üppig wuchernde Virtuosenwerk dieser Fuge beschnitten [404] und das Ganze concentrirter gemacht habe, da sie auch in einer um 39 Takte verkürzten Fassung vorkommt, die wohl kaum von einem andern, als dem Componisten selber, herstammen kann24. – In vollständigem Gegensatze zu diesem Werke steht eine Fuge mit Praeludium aus G moll25; letzteres, dort eine festgefügte Einheit, ist hier ohne bestimmten thematischen Kern, beginnt mit herrlichen, ruhig ziehenden Harmoniengängen, nachher steigen in Zweiunddreißigstel-Bewegung aufgelöst Quintsext-Accorde chromatisch und taktweise abwärts, jedesmal mit vorgehaltener Septime für die erste Takthälfte. Die Fuge dagegen, dort im vergänglichen Glanz der Passage vorüber eilend, ist hier ein markiges, mit Strenge, Tiefsinn und großer Meisterschaft ausgeführtes Bild, von allen, die wir bis jetzt kennen lernten, unstreitig die bedeutendste, und in ihrem keuschen Ernst schon auf die Stücke der späteren weimarischen Zeit hinüberdeutend. Um den Abstand zu erkennen, braucht man nur zu beachten, wie mit jedem neuen Thema-Eintritt frisches und größeres Leben in den Contrapuncten erblüht, wie sich keine einzige bequeme Wiederholung findet, die Zwischensätze sich gemächlich einfügen und auch die Vierstimmigkeit bis auf eine Stelle (Takt 46) streng beobachtet ist. Dagegen verleugnet das Thema mit seinem viermal wiederholten 3. und 3. und dem ganzen vierten Takte noch nicht den Typus der nordländischen Schule, und darin liegt der Grund, warum wir von der Composition an dieser Stelle reden. Einige andre Orgelstücke dieser Zeit verlangen, in einem andern Zusammenhange dargestellt zu werden. Wir gehen jetzt darüber fort, mit der Bemerkung, daß Bach, wie er frühere Compositionen gern neu zu bearbeiten liebte, so auch Stücke von solchen mit späteren Erzeugnissen zuweilen in Verbindung brachte. Die berühmte Orgelfuge in A moll26 hat ein Praeludium, welches unbedingt nicht mit ihr zusammen entstand, sondern in der Periode componirt sein muß, mit welcher wir uns jetzt beschäftigen: davon überzeugt ein Blick auf seinen freifigurirenden und eine thematische Entwicklung kaum andeutenden Charakter, [405] worin es mit dem oben erwähnten großen C dur-Praeludium27; übereinstimmt. Mehr und mehr bildete aber Bach auch die Praeludien zu inhaltreichen, strenger entwickelten Organismen heraus. –

Von großer Bedeutsamkeit für Bachs gesammtes Künstlerthum war die Richtung, in welche er durch seine Stellung als Kammermusicus mit Macht gedrängt wurde, und in der er sich bis dahin nur erst wenig vorgewagt hatte, wenn sie ihm gleich nicht ganz fremd geblieben war. Zum ersten Male fand er hier Gelegenheit, mit der instrumentalen Kammermusik der Italiäner sich gründlich bekannt zu machen. Für jemanden, der das ganze Gebiet der Instrumentalmusik durchmessen und überall mit dem glücklichsten Erfolge anbauen sollte, war diese Bekanntschaft durchaus nothwendig. Denn der für Formenbildungen so ungewöhnlich begabte Sinn der Italiäner hatte auch hier fast überall die Grundlagen gelegt, die allein ein sicheres Weiterbauen ermöglichten. Die Kunst des Orgel- und Clavierspiels hatte sich freilich jetzt von ihrem Einflüsse losgelöst und nach eigentümlichen, nationalen Bedingungen selbständig entwickelt, aber in Violin-Spiel wie -Composition und in allen den Gattungen, welche auf das Zusammenwirken mehrer Instrumente sich gründeten, war das Uebergewicht der Italiäner noch immer ein anerkanntes. Die von ihnen hierfür geschaffenen Hauptformen waren die der Sonate und des Concerts, jene mehr die Anordnung verschiedener Sätze zu einem Ganzen, diese den Bau des einzelnen Satzes bestimmend. Das Formprincip der Sonate kam insoweit mit dem der Suite überein, als in ihr Stücke verschiedenen Charakters in angemessener Abwechslung vereinigt wurden; während aber die eigentliche Suite sich auf eine Folge idealisirter Tanztypen beschränkte, stützte sich die Sonate überwiegend auf frei Erfundenes, ohne jedoch die Tanztypen unbedingt auszuschließen. Als maßgebend galt hier vor allem der Wechsel zwischen langsamen gebundenen und gesangreichen und andrerseits rasch bewegten fugirten und figurirten Stücken; die sogenannte Kirchensonate, welche aber nicht mit der alten Gabrielischen verwechselt werden darf, sondern nur eine in die Kirche getragene Kammermusik war, ließ jedoch keine Tanztypen zu. Vorzugsweise beliebt war die Dreistimmigkeit von [406] zwei Violinen, Bass und unterstützendem Cembalo oder Orgel: die maßvollen Italiäner hatten rasch herausgefunden, daß zur Aussprache des Wesentlichen eine dreistimmige Harmonie vollständig genüge; freilich gehörte Kunst zur Behandlung eines so durchsichtigen Klangkörpers, aber diese galt es ja eben zu beweisen. Das Concert acceptirte von der Sonate den Satzwechsel; aber während dort vier und mehr Abschnitte gefunden werden, ging der Concertcomponist in der Regel nicht über drei hinaus und brachte den langsamen Satz in die Mitte. Die Form der einzelnen Sätze, zumal des ersten und gewichtvollsten, bildete sich nun gradeswegs aus dem Gegensatz und Wetteifer zwischen Soloinstrument und Gesammtkörper. Ein möglichst prägnantes Tutti-Thema beginnt ausnahmslos den ersten Satz, dem sich so wie es geendet hat und in derselben Tonart das concertirende Instrument mit einem mehr oder minder hervorragenden neuen Motiv, oft auch nur in figurirendem Tonspiel gegenüberstellt. Dies Verfahren wiederholt sich mit Umbildungen, Erweiterungen und gegenseitigen Verschlingungen in den nächstverwandten Tonarten. Von dem modernen Sonatensatze ist also die Form, trotz der beiden Themen als Angelpunkten der Entwicklung, noch ganz verschieden: sie ist nicht aus dem innern Wesen des Tonsystems, sondern äußerlich durch die Verbindung von zwei verschiedenen Klangmaterien hervorgerufen. Der langsame Satz sollte dem Spieler zu großem Ton und geschmackvollen Verzierungen Gelegenheit geben; ist er, wie gewöhnlich, kurz, so tritt das Tutti in die bescheidene Begleiterrolle zurück, bei längeren Ausführungen zerschneidet es an geeigneten Stellen das phantastische Solospiel, oder giebt auch wohl durch ein markirendes, stetiges Bassmotiv dem Ganzen Halt und Zusammenhang. Der letzte Satz hat meistens ein ungerades Zeitmaß und lebhaft bewegten Charakter, seine Entwicklung ist entweder dem ersten gleichgestaltet, oder er ist liedhaft zweigetheilt, mit Repetition, nicht selten eine Gigue oder Corrente, und erinnert damit an die Suite oder – wegen der Dreisätzigkeit des Concerts – noch mehr an die Scarlattische Ouvertüre. Was nun Bach betrifft, so hat er sich die Errungenschaften der Italiäner zunächst weniger auf dem eignen Gebiete derselben zu Nutze gemacht, als sie vielmehr in sein Wirkungsfeld, d.h. auf die Orgel, das Clavier und die Kirchencantate selbständig übertragen. Er war eben kein Kunstjünger mehr, sondern [407] ein Meister, der zum Bewußtsein seiner Kräfte und Ziele gekommen war, und dessen scharfer Blick die Verwerthbarkeit dieser Formen sogleich erkannte. Erst eine geraume Zeit nachher, soweit wir wissen können, wandte er sich auch der Sonate und dem Concert an sich zu, um dann auch hierin das Höchste zu leisten.

Die Pflege der instrumentalen Kammermusik am herzoglichen Hofe war grade zwischen den Jahren 1708 und 1715 eine um so eifrigere, als ein jüngerer Neffe des Herzogs, Johann Ernst, bedeutende Anlagen für Violin- und Clavier-Spiel, ja auch für die Composition zeigte. In den beiden letzteren Fächern war er von Walther unterwiesen, der auch ein Compendium der musikalischen Theorie für den Prinzen verfaßte und es ihm am 13. März 1708 dedicirte; die Fertigkeit auf der Geige, seinem Hauptinstrumente, hatte er sich unter Anleitung seines Kammerdieners Eilenstein erworben und später vermuthlich unter Bachs Einwirkung weiter ausgebildet28. Seine Leidenschaft für die Musik war so groß, daß in Krankheitszeiten nicht selten Walther des Nachts über bei ihm wachen mußte29. Daß aber auch Bach dem Prinzen musikalisch nahe verbunden war, kann man besonders noch aus einem Briefe des Meisters schließen, in welchem er eine Verzögerung damit entschuldigt, daß er zu des Prinzen Geburtstage am Hofe einige musikalische »Verrichtungen« gehabt habe. Walthers dreivierteljähriger Compositionsunterricht trug als Früchte 19 Instrumentalstücke; sechs Concerte von diesen wurden in Kupfer gestochen und von Georg Philipp Telemann herausgegeben. Johann Ernst starb schon im 19. Lebensjahre am 1. August 1715 zu Frankfurt a.M., und in diesem Jahre oder frühestens im vorhergehenden müssen auch die Concerte erschienen sein. Telemann war damals in Frankfurt Capellmeister, bis 1712 aber vier Jahre lang in Eisenach Concert- und Capellmeister gewesen, stand zu Bach in sehr freundschaftlichen Beziehungen, und muß auch wegen der nahen Verwandtschaft der beiden Höfe oft in Weimar verkehrt haben; er widmete dem Prinzen im Jahre 1715 ein Werk von sechs Violinsonaten mit Clavierbegleitung30. Jene [408] prinzlichen Compositionen nun scheinen in der That musikalischen Werth gehabt zu haben, denn Mattheson schrieb noch sechzehn Jahre später darüber die Worte: »Es hat der berühmte Herr Telemann ehemals sechs Concerte herausgegeben, und gar sauber in Kupfer stechen lassen, die der weiland Durchlauchtige Prinz Ernst von Sachsen-Weimar mit eigener Hand und aus eigener Erfindung gesetzet hat: in selbigen ist das Concerto V. aus obigem Ton [nämlich E dur], und eins der schönsten. Freie Fürsten zu finden, die musikalische Schriften verfassen und angeführt werden können, ist sonst eine Sache, die nicht alle Tage aufstoßet, der Musik aber einen sonderbaren Vortheil giebt«31.

Da die Italiäner die besten Violinconcerte componirten, ergab sich ihre Bevorzugung von selbst. Die Musiker, welche den Prinzen umgaben, mußten sich nun schon aus Rücksichten gegen ihn dafür interessiren, fanden aber auch vom künstlerischen Standpunkte in den durchsichtigen Formen, den natürlich-schönen Gedanken Veranlassung genug zu einer eingehenderen Beschäftigung damit. Walther und Bach begannen wetteifernd italiänische Concerte für die Orgel und das Clavier spielbar zu machen. Jener übertrug Concerte von Albinoni, Manzia, Gentili, Torelli, Taglietti, Gregori und einigen Deutschen, zusammen dreizehn, auf die Orgel32. Dieser arrangirte von Vivaldi sechzehn Violinconcerte fürs Clavier, und drei für die Orgel, außerdem von einem jener sechzehn den ersten Satz noch einmal für Orgel33. Antonio Vivaldi galt im Anfange des vorigen Jahrhunderts [409] für einen der hervorragendsten Meister der Instrumentalcomposition. Er lebte seit 1713 als Concertmeister am Ospitale della Pietà in Venedig, nachdem er zuvor einige Zeit im Dienste des Landgrafen von Hessen-Darmstadt gewesen war, und starb 1743. Als überaus fruchtbarer Tonsetzer hat er sich um die Ausbildung der Concertform, wie wir sie oben schilderten, thatsächliche Verdienste erworben. Auch schrieb er Concerte für zwei und drei, ja vier Soloviolinen mit Begleitung, stattete das Orchester durch Verwendung von Blasinstrumenten reicher aus und war überhaupt auf die Herstellung neuer Ausdrucksmittel eifrig bedacht. Im Formalen lag seine Hauptstärke; seine Gedanken sind häufig matt und unbedeutend, zuweilen jedoch auch feurig und ausdrucksvoll34. Wie Bach bei Uebertragung der Concerte verfuhr, würde sich vollständig nur dann beurtheilen lassen, wenn sämmtliche Originale vorlägen. Mir war nur eines und keineswegs das bedeutendste erreichbar, welches dem zweiten der Clavierarrangements zu Grande liegt und in G dur steht35. Da sie sich aber sämmtlich im Baue sehr gleichen, so ist doch von dem einen auf alle ein ungefährer Schluß möglich. Daß Bach Vivaldis Tonreihen nicht mechanisch auf die zwei Liniensysteme des Clavierspielers zusammengezogen habe, wird man unbewiesen glauben, der Vergleich lehrt aber, daß er sich nicht selten gradezu nach- und umschaffend zu ihnen verhielt, indem er die gleichsam abstracte Idee des Tonstückes aus der Idee des Claviers reproducirte. An den Hauptthemen durfte er freilich um des Ganzen willen nicht ändern und mußte, wenn sie so spindeldürr und steif waren, wie der Tutti-Ge danke des ersten Satzes in jenem G dur-Concerte, die Verantwortung dafür ihrem Schöpfer überlassen. Aber durch eine beweglichere Führung der Bässe, Verlebendigung der Mittelstimmen, Hinzufügung von Contrapuncten zu dem einsamen Gange der Violine, Auflösung der langgezogenen Töne und Umschreibung besonderer Geigeneffecte hat er doch in den meisten Fällen wirkliche Clavierstücke geschaffen und zugleich den musikalischen [410] Gehalt um ein sehr Wesentliches bereichert. Alle seine Zusätze machen sich so natürlich und selbstverständlich, daß es den Anschein gewinnt, als wären sie ihm beim bloßen Umschreiben aus der Feder geflossen, woraus eben wieder hervorgeht, daß nur ein gewiegter Künstler solches vermochte. Vivaldi läßt im G dur-Concert das Soloinstrument mit einem Tonkörper von zwei Violinen, Violoncell und Cembalo concertiren, die Tutti-Violinen pflegen im Einklänge zu gehen, das Tutti-Violoncell schließt sich dem Clavierbasse an, das rhythmisch wie harmonisch aus den einfachsten Elementen bestehende Accompagnement besorgt fast allein das Cembalo, nur zu besonderen Effecten werden die Streichinstrumente herbeigezogen. Mit feinem Kunstverstande hat Bach die vorzugsweise auf Klangverschiedenheit gebaute Entwicklung des ersten Satzes durch stets gesteigerte innere Mittel in dem spröden Tonmateriale des Cembalo wiedergespiegelt36. Den Anfang ließ er unverändert, vom 46. Takte an zeigt sich seine umbildende Hand in den gleichmäßig fließenden Achtel-Bässen statt der Viertel und jambisch vorschlagenden Achtel des Originals und in den verbindenden Sechzehnteln des 59. und 67. Takts, sowie er auch die Violinstimme von Takt 60–67 in fortlaufende Sechzehntel aufgelöst hat, während sie im Original mit abwärts springenden Achteln wechselt. Vom 76. bis zum 90. Takte treten zu der Sechzehntelfigurirung der Solovioline hoch liegende Accorde der Tutti-Streicher in Achteln; um diese Klangwirkung anzudeuten, hat Bach Zweiunddreißigstel eingemischt. Vom 91. Takte an bis zum Schlusse stammt alle Sechzehntel- und Achtel-Bewegung der linken Hand vom Uebertrager, der Schöpfer hat nur simple Accorde verlangt, die durch drei Octaven gehende Endpassage ist aus einer dreimal wiederholten Tonleiter der eingestrichenen und kleinen Octave entstanden. Fast zu einem ganz neuen Stücke wurde das Largo (im Original: Larghetto). Vivaldi schrieb einen getragenen, nur in Viertel- und punktirter Achtelbewegung verlaufenden Violin-Gesang vor und als Begleitung einfache accordische Viertel. Bach, die Unwirksamkeit einer solchen Melodie auf dem Claviere erkennend, löste ihre Verhältnisse arabeskenhaft auf und versah die Haupttöne mit eindringlichen Trillos[411] und Mordenten, dazu aber erfand er noch eine ganz freie Mittelstimme, bei deren herrlichem melodischen Flusse Niemand glauben würde, daß sie nicht von Anfang dagewesen sei. Im letzten Satze sind namentlich wieder viele Bass-Stellen ganz neu erfunden, wie im 7. und 8. Takte (und dem entsprechenden 33., 34. und 35.), von Takt 21 bis 28, und ganz besonders Takt 43 bis 49, wo überall das Original sich mit dem dürftigsten Accordgerüste begnügt. Auch den Schluß hat Bach reicher und glänzender gestaltet.

Wendet man den thatsächlichen Befund dieser Vergleichung auf die andern Uebertragungen an, so kann es nicht schwer fallen, bei natürlich zurückbleibender Unsicherheit im Einzelnen doch im Allgemeinen die Bachschen Zuthaten zu erkennen: die leicht schreitenden Bässe, melodischen Mittelstimmen, Imitationen strengerer und freierer Art. Durch sie sind manche der Concerte in der That zu Clavierstücken geworden, die man auch neben den Bachschen Originalschöpfungen mit Genuß und Vergnügen spielt. Es ist dies natürlich, da Bach, wie die Menge der Arrangements zeigt, mit Liebe bei der Sache gewesen ist. So muß man z.B. das dritte Concert in D moll durchweg interessant nennen, das Adagio ist von Anfang bis Ende wahrhaft schön, und man darf die Erfindungskraft dessen, dem eine solche Melodie einfallen konnte, nicht unterschätzen; das eilig dahinrauschende Presto von echt italiänischem Gepräge ist von Bach durch die anmuthigsten Nachahmungen vertieft. Ganz besonders viel scheint das achte Concert in H moll dem deutschen Meister zu verdanken und die leicht zu machende Beobachtung neu zu bestätigen, daß H moll eine Lieblingstonart desselben war, ähnlich wie Händel sich dem F moll, Beethoven dem C moll mit Vorliebe zuwendete. Dieses Concert weicht auch in der größeren Anzahl der Sätze von den übrigen ab. Die zweistimmige Führung des ersten, heftigen Allegros rührt ohne alle Frage von Bach her, das folgende kurze Adagio-Sätzchen wirkt durch eine echt Bachische Harmonisirung merkwürdig ergreifend. Auch in den beiden andern Allegros erkennt man fast an jedem Takte die Hand des Deutschen. Durch hervorragenden harmonischen Reichthum zeichnet sich das Adagio des zwölften Concerts aus, dessen Melodie an gewissen Stellen die Möglichkeit canonischer Nachahmungen bietet, was Bach natürlich sofort herausfand. Gewisse, hier und anderwärts vorkommende [412] rhythmische Manieren, wie


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oder


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verdienen Erwähnung, weil sie als eine Erfindung Vivaldis angesehen und eifrig nachgeahmt wurden; man nannte das: Spielweise im lombardischen Geschmack.

Freier noch hat sich Bach in den Orgelarrangements seinem Originale gegenübergestellt. Scheint bei den Uebertragungen aufs Clavier nur ein Ausbau nach Innen vorgenommen zu sein, so haben wir hier auch mit einem Weiterbau nach Außen zu thun. Derselbe läßt sich aufs genaueste beobachten durch Vergleichung des ersten Satzes eines C dur-Concerts, welcher sowohl in der claviermäßigen als orgelgerechten Gestalt vorliegt37. In dieser zählt es 81, in jener nur 66 Takte. Vivaldi hat im allgemeinen den Satz ganz klar disponirt: er zerfällt in sechs Abschnitte, je nach den erneuten Eintritten des Tuttithemas, welche nach einander in G dur, E moll, D moll, A moll und endlich C dur stattfinden. Aber beim Beginn der zweiten Periode hat er einen Formkeim ausgestreut, ohne ihn zu zeitigen, denn nachdem das Thema folgendermaßen erklungen ist:


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läßt er es sogleich noch einmal in A moll wiederholen, und sich dann erst die Passagen anschließen. Diese nachdrucksvolle Verdopplung hielt Bach für werth, durch Bildung entsprechender neuer Perioden aus dem Charakter des Zufälligen zur organischen Notwendigkeit zu erheben, und fügte deshalb noch zwei Abschnitte ein, die ebenfalls mit dem verdoppelten Thema beginnen, so daß nunmehr dem Tonstück an Rundung und Ebenmaß nichts mehr fehlt. Die ersten sechs Takte gehen beide Bearbeitungen zusammen, dann wendet sich das Original, wie wir die Clavier-Uebertragung wohl nennen können, durch eine fortgesetzte Figurirung nach drei Takten zur zweiten Periode in G dur, während Bach nach C dur zurückkehrt, hier schon die erste Verdopplung des Themas bringt, und erst im 16. Takte mit dem Original in G dur wieder zusammen trifft. Zum zweiten Male [413] weicht er mit dem 22. Takte des Originals von der ursprünglichen Fassung ab, kehrt wieder nach E moll zurück und bringt hier die andre Periode mit verdoppeltem Thema. Nach Einlenkung in den ersten Entwicklungsgang verlaufen dann beide Bearbeitungen mit kleinen Abweichungen übereinstimmend. Die größere Klangmannigfaltigkeit der Orgel bedingte aber auch eine ganz andre Behandlung der musikalischen Gedanken: es ließ sich der Gegensatz zwischen Solo und Tutti durch den Wechsel von Oberwerk und Rückpositiv darstellen, die Harmonien konnten durch das Pedal bequem gestützt werden und die Figuren daher freier, reicher und in den passendsten Tonlagen sich bewegen. Manche auf der Orgel unwirksame Gänge erlitten aus diesem Grunde Veränderung; aber auch abgesehen von den äußern Rücksichten hat Bach gestrebt, auf diesem seinem Hauptinstrumente alles noch voller und quellender zu schaffen, selbst das Thema erfuhr eine kleine wesentlich bessernde Abänderung. Wie die drei andern Orgelconcerte sich ihren Vorlagen gegenüber verhalten, können wir freilich durch keine Vergleichung feststellen, zum wenigsten bedingte jedoch der Orgelcharakter dieselben Freiheiten in Behandlung der Tongedanken. Dem zweiten lag jedenfalls eine Composition für zwei Soloviolinen zu Grunde, und es ist höchst interessant zu beobachten, wie fein die beiden concertirenden Instrumente aus einander gehalten sind und welch neue Klangwirkungen dadurch entstanden. Das dritte erwuchs, wegen des großen Umfangs, den die concertirende Stimme durchmißt, vielleicht aus einem Gamben-Concert; es ist sehr viel Virtuosenhaftes darin, besonders in den übermäßig ausgesponnenen Cadenzen.

Die neue Tonform, mit der sich Bach durch eine so energische Beschäftigung vertraut gemacht hatte, verwendete er nun für seine besonderen Zwecke. Es entging ihm nicht, daß das Princip der beiden im Nacheinander contrastirenden Themen auch für die Orgel-und Claviercomposition ergiebig sei, wenngleich mit Beschränkung. Die Kernformen dieser Instrumente mußten immer die polyphonischen bleiben, aber wie vor der Fuge ein Praeludium, so war dort auch ein nach dem Concertprincip gestaltetes Stück denkbar, und je nach dem Charakter desselben konnte auch ein Adagio an mittlerer Stelle nicht unpassend sein. Daß es bei einem Meister überhaupt nur auf das Wie? ankomme, hat er später in seinem für Cembalo [414] geschriebenen italiänischen Concerte gezeigt38, daß die Form dem Wesen des Claviers nicht voll entspreche, durch die Isolirtheit dieses Werkes unter seinen Compositionen. Ueberhaupt blieb er in den überwiegenden Fällen der alten, bewährten Weise treu, aber sein bildkräftiger Geist wurde einmal durch jede berechtigte Form unwiderstehlich angezogen.

Allem Anschein nach hat ihn die Combination von Fugen- und Concert-Satz schon in seinen Ausbildungsjahren beschäftigt: es liegt eine Composition vor, welche in ihrem theils unbehülflichen, theils maßlosen Wesen nur eines Anfängers Arbeit sein kann. Concerto betitelt und in C moll stehend hat sie die offenliegende Absicht, im ersten Satze durch Gegenüberstellung von zwei contrastirenden Tongruppen – Themen kann man nicht sagen – etwas concerthaftes zu liefern. Hernach geht derselbe in ein unbändiges Figuriren über, kehrt aber am Schlusse ganz richtig zu seinem Tuttigedanken zurück. Dann kommt eine in Contrapunctirung und Entwicklung sehr frei gehaltene Fuge; in ihr, wie auch im ersten Satze finden sich einige Male Stellen, die wie mißverstandene Nachahmungen jener Tutti-Accorde aussehen, welche in Adagiosätzen von Concerten die Gänge des Solo-Instruments zu unterbrechen pflegen. Dieses Stück könnte auf Anregung seines ersten Aufenthalts in Weimar im Jahre 1703 entstanden sein, wenigstens muß man es in die früheste Zeit eigner Versuche zurückverlegen39. Als Werk eines bewußt bildenden Künstlers stellt sich dagegen eine sogenannte Toccata und Fuge aus C dur dar, die diese Benennung mit geringem Rechte trägt, denn sie besteht nach dem Muster der italiänischen Concerte aus drei [415] selbständigen Sätzen40. Der erste beginnt freipraeludirend mit einem strömenden Passagen-Ergusse auf dem Manual, dem sich ein langes Pedalsolo mit Vorandeutung der beiden Hauptmotive des Satzes anschließt. Von diesen ist das eine mehr melodisch, das andre, ganz dem Gebrauche gemäß, mehr gangartig. Zwischen beiden abwechselnd entwickelt sich der Satz, von den gewöhnlichen Praeludien- und Toccaten-Formen durchaus abweichend, ganz concertmäßig, ohne doch dem Orgelwesen irgend Gewalt anzuthun; man sieht, daß hier keine bloße Nachahmung, sondern eine schaffenskräftige Ausnutzung fremder Kunstarbeit vorliegt. Das Adagio in A moll besteht aus einer sehr schönen, ununterbrochenen Gesangsmelodie mit durchweg homophoner Begleitung, ein Stück, zu welchem sich in Bachs Werken keine Analogie findet, und bei dem sich doch das Gefühl aufdrängt, daß alles wohl in diesem einzelnen Falle eigens für die Orgel erfunden, die allgemeine Art der Behandlung aber nicht aus dem Geiste der Orgel geboren ist. Die durchgehende Pedalfigur in Octavenschritten und die auf besonderem, schwach registrirtem Manuale zu spielenden Begleitungs-Accorde erwecken die Erinnerung an ein Solo-Adagio mit accompagnirendem Cembalo gar zu lebhaft. Ein Orgelrecitativ leitet zu acht Takten Buxtehudescher Harmonienfolgen hinüber, den letzten Satz bildet eine lebhafte Fuge im 6/8 Takt, deren Thema mit seinen verwegenen Pausen und dem in dieselben hineingefügten Contrapunct stark an die oben charakterisirte große D dur-Fuge mahnt. Dieser dreisätzigen Orgelcomposition ist eine gleichconstruirte für Cembalo an die Seite zu setzen41. Sie führt ebenfalls den Namen Toccata, was hier wie dort dem fugirten Schlußsatze zu Liebe geschehen sein wird, wodurch allein noch ein Unterschied von der vollständigen Concertform gegeben ist. Die ersten Takte des Tutti-Gedankens sind von ähnlicher Gestalt, wie der Anfang des zweiten Allegrosatzes in Vivaldis H moll-Concert, während gewöhnlich gangartige Tonreihen an dieser Stelle nicht auftreten, und die wuchtig absteigenden Dreiklänge in beiden Händen erinnern an Spielmanieren, welche in den Clavierübertragungen Vivaldis häufiger vorkommen. Den Solo-Gegensatz enthalten die Takte 5–7, und mit [416] ihm entwickelt sich der Satz in tibersichtlichster Anordnung durch fünf Perioden und in dem Modulationskreise: G dur, D dur, E moll H moll, G dur. Das Adagio von inniger Melodik ist doch auch polyphonisch mit Fürsorge bedacht, indem besonders dieser Gang


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schön und vielfältig nachgeahmt wird, so daß sich hier deutscher Inhalt mit italiänischer Form zu einem ungemein anziehenden Dritten verschmelzen. Wie sehr in der That diese dem Componisten im Sinne lag, sieht man auch aus der Beibehaltung gewisser Aeußerlichkeiten, z.B. aus dem Adagioschlusse. Das Endigen in der Grundtonart, und das nochmalige Anheben, um zu dem spannenden Halbschlusse zu gelangen, der den Eintritt des letzten Satzes vorbereiten soll, war ganz und gar Manier italiänischer Tonsetzer. Auch hier rufen der 6/8 Takt und das muntere Wesen der Schlußfuge, sowie die motivische Neckerei mit den fünf ersten Noten ihres Themas uns in Erinnerung, daß sie den Schluß eines nach Concertweise angelegten Ganzen bildet. Dieses froh und sonnig dahin gaukelnde Stück macht zu dem elegischen Adagio einen vortrefflichen Contrast und ist, wie das ganze Werk, in glücklichster Stunde geschrieben.

Um nicht Gesagtes an einem andern Orte wiederholen zu müssen, geschehe gleich hier noch einer Composition Erwähnung, die jedenfalls in eine spätere Schaffensperiode fällt, aber ebenfalls das Bestreben offenbart, die Formen des Concertsatzes und der Fuge zu verbinden. Mit Sicherheit wissen wir nur, daß sie vor dem Jahre 1725 geschrieben wurde; die Möglichkeit, daß sie wenigstens in den letzten Jahren des weimarischen Aufenthalts entstand, scheint mir jedoch aus inneren Gründen nicht unstatthaft42. Es ist eine Fuge mit sogenanntem Praeludium, aber dieses Praeludium ist eben ein concertmäßig angelegter, breit und glänzend ausgeführter Satz. Wie bestimmt die Absicht Bachs war, läßt sich hier besonders deutlich aus dem Umstande erkennen, daß er in späteren Lebensjahren diese [417] beiden Sätze mit Zwischenschiebung eines Adagio zu einem wirklichen Concert für Flöte, Violine und Clavier mit Begleitung erweiterte43, beiläufig gesagt eine Umgestaltung von förmlich schwindelerregender Kunst und Großartigkeit. Durch beide Sätze strömt ein feuriges, rastlos arbeitendes Leben, in dem unablässigen Rollen immer neu sich bildender Gänge, in der Fülle der Harmonien, überhaupt in der Totalconception, nicht in der Beschaffenheit der einzelnen Gedanken liegt ihre Bedeutung. Das Tutti- Motiv des ersten Satzes ist sogar ganz unscheinbar, aber es erscheint wie eine Zauberformel, die Tongeister zu entfesseln; wo es nur ertönt, öffnen sich neue Schleusen, aus denen die klingenden Quellen rauschend und perlend hervorhüpfen. Es ist ein sichrer Wegweiser durch eine unübersehbar scheinende Tonfluth. Die Fuge, welche kein geringeres Maß von Spieltechnik und Ausdauer erfordert, als der erste Theil, ist mit ihrem 12/16 Takt wiederum ganz im Charakter eines letzten Concertsatzes gehalten. In der Bearbeitung ist sie auch formell dazu gemacht, indem Bach ein Tutti-Motiv davor erfand, und dieses nicht nur zwischen einzelnen Abschnitten der Fuge höchst geschickt eintreten ließ, sondern auch ohne irgend eine Aenderung des Originals nebenher führte.

Bei diesem Eifer, mit welchem Bach aus den Kunstleistungen der Italiäner Nutzen zu ziehen suchte, wäre es verwunderlich, wenn er nicht auch sein Augenmerk auf ihre Orgelmusik gerichtet hätte. Die Beweise dafür liegen vor, und zwar griff er mit der richtigsten Erkenntniß auf den epochemachenden Meister Frescobaldi zurück, dessen im Jahre 1635 erschienenen Fiori musicali er sich auch in einer sehr sorgfältigen, 104 Folioseiten starken und auf besonders gutem Papiere hergestellten Copie zu verschaffen wußte, und eigenhändig mit der Signatur »J.S. Bach. 1714« versah44. Frescobaldis Bedeutung für die Entwicklung des fugirten Spiels ist eine sehr hohe, wenn er auch schon in Johannes Gabrieli einen wichtigen Vorgänger hatte. Die Fuge bildete sich in Italien vorzugsweise in der sogenannten Canzone aus, ein Name, der durch die französischen Chansons (Canzone [418] francese) veranlaßt wurde, welche man gern auf der Orgel und dem Claviere spielte und deshalb zuerst als Stoffe für imitirende Formen benutzte. Dabei blieben an diesen Fugensätzen auch im Verlauf der Zeiten gewisse rhythmische Eigenthümlichkeiten jener Chanson-Melodien haften, indem auf die gehalteneren Anfangstöne geschwindere Notenwerthe in stereotyper Form zu folgen pflegten, auch wurde nicht selten der Anfangston mehre Male wiederholt45. Durch solche Vorbilder Frescobaldis angeregt, hat nun auch Bach eine Canzone geschrieben, in welcher er den italiänischen Typus möglichst wahrte, aber doch nicht umhin konnte, das Ganze mit eignem Geiste zu durchdringen46. Dem fremdartigen Reize des schönen Stückes wird sich nicht leicht jemand entziehen. Schon dem flüchtig Betrachtenden muß die Themabildung als ungewöhnlich auffallen, bei genauerer Beobachtung findet man auch bald den typischen Canzonen-Rhythmus darin wieder. Ein chromatisches zweites Thema wird dem ersten gegenüber gestellt, und gemessen zieht der Satz dahin, streng vierstimmig, ohne jede Concession an virtuosischen Effect, jeden Versuch zur Entfaltung instrumentalen Glanzes. Nach einer Durchführung in 70 Vierviertel-Takten ertönt ein Halbschluß, und ein neuer Abschnitt beginnt im Dreizweiteltakt, der prolatio perfecta nach alter Terminologie. Dieser aus den Werken der nordländischen Orgelmeister bekannte Rhythmuswechsel ist gleichwohl schon eine Gepflogenheit der italiänischen aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, und scheint auf Nachahmung der Vocalmusik zu beruhen, in welcher z.B. Johannes Gabrieli sich gern des gleichen Kunstmittels bediente. Noch mehr aber: Frescobaldi kennt auch schon die motivische Umbildung des Themas in der neuen Taktform, welche bei Buxtehude und Andern fast principielle Bedeutung gewonnen hat. Und so bildete auch Bach aus dem Material des ersten Gedankens ein höchst geistreiches neues, und dem Canzonen-Rhythmus wieder [419] in andrer Weise folgendes Thema. Wie sehr er aber sich des hier herrschenden Stilunterschiedes bewußt war, zeigt eine Vergleichung nicht einmal mit Buxtehudes Werken, sondern auch schon mit dem Schlußsatz seiner eignen früher beurtheilten Arbeit47. Dort ist der Charakter frei musikalisch, hier kirchlich gebunden, soweit dies Bachs Richtung überhaupt zuließ. Denn er hat so wenig den fortgeschrittenen Standpunkt seiner Kunst, als seine eigne Natur verleugnet, und das Bedürfniß nach gesteigertem und individueller gefärbtem musikalischen Leben veranlaßte ihn, zu dem bewegteren Rhythmus des zweiten Abschnitts auch harmonisch tiefer und in der Stimmführung kühner sich zu gebärden. Immerhin aber würde eine ins Einzelne durchgeführte Untersuchung eine Menge harmonischer Eigenthümlichkeiten ergeben, die als Wirkungen der Anlehnung an Frescobaldis Stil sich am ungezwungensten erklärten. Um nur eines zu nennen, so erfolgen die Thema-Einsätze der ganzen ersten Abtheilung ausschließlich in der Grundtonart D moll.

Die Canzone steht in ihrer Eigenart unter den Werken Bachs nicht ganz allein. Ein Allabreve in D dur ist ebenfalls der Setzart Frescobaldis, oder allgemein gesagt der italiänischen Orgelcomponisten jener Zeit, in klar erkennbarer Weise nachgeschaffen48. Es ist eine unzertheilt fortströmende vierstimmige Fuge, und eben in der Art der Fugirung liegt das Merkzeichen dieser Composition. An das Hauptthema schließt sich sogleich ein Gegenthema an, welches dasselbe im wesentlichen durch das Stück begleitet, mit Vorliebe sind Engführungen angewendet, die Themaeintritte wenig, oft garnicht markirt, indem die Contrapuncte unvermerkt ins Thema hinüberfließen, dieses selbst bewegt sich in den einfachsten diatonischen Schritten. Alles ist darauf angelegt, nicht sowohl einen individuell ausgeprägten Gedanken in den mannigfaltigsten Verhältnissen leben- und gestaltenzeugend sich bewähren zu lassen, als einen großen Organismus darzustellen, dessen Grundprincip nur ganz allgemeine Züge trägt, und in seiner Bewegung stets durch andre Mächte oder durch sich selbst gebunden ist. Daß man ein Recht hat, zwischen [420] protestantischem und katholischem Orgelstil zu unterscheiden, und daß der Componist selbst den Unterschied gefühlt hat, läßt sich hier leicht aus der Vergleichung mit den andern Orgelstücken Bachs beweisen. Der feierlich allgemeine Eindruck wird noch verstärkt durch die breite, nur bis zu Viertelnoten beschleunigte Bewegung, und durch die langhallenden Vorbereitungen der dissonirenden Harmonietöne, welche die Erinnerung an den alten Vocalstil erwecken, dessen eigentliche Heimath ja die katholische Kirche war. Andrerseits konnte doch wieder nur Bach dieses Stück schreiben: schon die gewaltigen Dimensionen, in denen es sich über 197 Takte wie ein mächtiger Bogen ausspannt, wären wohl kaum einem andern construirbar gewesen; und diese frischtreibenden motivischen Erweiterungen, wie in der Altstimme von Takt 32 bis 46, diese großen organischen Zwischensätze, wie von Takt 113 bis 134, diese phantastisch leuchtenden Harmonienfolgen von Takt 183 bis 186! Wenn man die Canzone ein romantisches Kind nennen kann, von deutscher Sinnesart und italiänischer Haltung, so muß man bei diesem Allabreve an den lichtblauen Himmel denken, dessen Bild von der ruhigen Fläche der tiefklaren Fluth zurückstrahlt.

Auch die Compositionen des Giovanni Legrenzi, der als gefeierter Orgelspieler und Tonsetzer in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts lebte und Lehrer des großen Venetianers Antonio Lotti war, blieben dem deutschen Meister nicht unbekannt. Es bezeugt dies ein Thema Legrenzis, was Bach zu einer Orgelfuge verarbeitete49. Auffällig sind bei dieser die oft wiederkehrenden vollständigen Cadenzen vor einem neuen Themaeintritte, wodurch sie etwas zerschnittenes und kurzathmiges bekommt, während sonst auf das überraschende und wie von Ungefähr in das continuirliche Tongewebe hineinfallende Einsetzen des Themas von Bach so großer Fleiß verwendet wird. Dieses, sowie der in Buxtehudes Manier gehaltene Virtuosenschluß, macht es wahrscheinlich, daß die Fuge nicht später als 1708 oder 1709 geschrieben ist. Nicht auf die frühe Entstehungszeit läßt [421] sich aber die Vereinfachung schieben, welche das zweite Thema in Takt 43, 49, 66, 77 und 88 erfährt, wenigstens können technische Gründe unmöglich maßgebend gewesen sein, da das Thema auch in seiner eigentlichen Gestalt auf dem Pedale unschwer auszuführen ist. Der nachahmende Contrapunct am Anfange wird wohl auf das Legrenzische Original zurückgeführt werden müssen, Bachs eigentliche Weise zeigt sich vom 34. Takte an. Neu für damals ist die breite Auseinanderlegung der Doppelfugenform, insofern beide Themen vor ihrer Vereinigung selbständig durchgearbeitet werden, denn wenn man bis dahin die Doppelfugen den einfachen vorzog, so geschah es nicht um größeren Reichthums willen, sondern der Bequemlichkeit und Einfachheit zu Liebe: das zweite Thema begleitete vom Beginn das erste, wie sein Schatten. Schon hieraus also entspringt ein voller, mächtiger Organismus, dessen reichliche Schönheiten den erwähnten Mangel weit überbieten.

Aus welchem Werke Legrenzis Bach jenen Gedanken entnahm, können wir nicht angeben; besser ist die Sache bei drei anderen Fugen bestellt, denen Themen aus Violinsonaten von Corelli und Albinoni zu Grunde liegen. Arcangelo Corelli, geb. 1653 und gestorben 1713, gleich hervorragend als Componist wie als Spieler und Lehrer auf der Geige, war der eigentliche Begründer der Violinsonaten-Form und das Haupt der römischen Schule. Tomaso Albinoni lebte um 1700 als musikalischer Dilettant in Venedig und erwarb sich nicht nur als Instrumentalcomponist sondern auch als Verfasser vieler Opern und als Sänger und Violinspieler Berühmtheit. Corelli hatte als opera terza 12 dreistimmige Kirchensonaten herausgegeben, unter welchen die vierte als eine der schönsten angesehen wurde50. Der zweite Satz ist eine Fuge mit folgenden Themen:


3.

[422] Diese entlehnte sich Bach für eine vierstimmige Orgelfuge, welche mit Corellis Stück auch noch die Engführungen des ersten Gedankens, sonst aber garnichts weiter gemeinsam hat51. Wenn Corelli mit 39 Takten alles erschöpft hatte, was er über die beiden Themen zu sagen wußte, so bedurfte Bach deren über hundert, um dem Reichthume der aufquellenden Gedanken Gestalt zu geben. Natürlich konnte er nun auch von der Disposition des Italiäners keinen Gebrauch machen. Dieser arbeitet schon vom siebenten Takte an mit Engführungen und bleibt einer solchen knäuelartigen Behandlung bis ans Ende getreu, wogegen der Deutsche das letzte Steigerungsmittel erst mit dem 90. Takte anwendet und den Vollgehalt der Themen frei und unbedrängt entfaltet, auch durch ausgeführtere Zwischensätze die Hauptperioden anmuthig gruppirt. Wie erfindungsreich und ungezwungen grade jene Verbindungspartien sich entwickeln, beweisen unter andern die Takte 25 bis 30, in denen die halben Noten des ersten Themas stufenweise immer tiefer hinabgeführt werden, indessen sich über und unter ihnen das reizendste Wechselspiel in Sechzehnteln aufthut und graziös in das Thema zurückleitet. Wenn aber Bach aus den Corellischen Themen grade eine Fuge für Orgel machte, so liegt darin vielleicht eine Andeutung, daß auch in Weimar die italiänische Sitte der Kirchen-Violinsonaten in Aufnahme gekommen war. Ueberdies werden wir bald erfahren, daß er eine daher entlehnte Form sogar in einer seiner Cantaten zur Anwendung brachte. – Für Albinonis Compositionen muß Bach eine gewisse Vorliebe gehabt haben. Noch in späteren Jahren benutzte er in seinen Lehrstunden die Continuostimme derselben zur Uebung im Generalbass-Spielen, und Gerber erzählt, daß er in der Art, wie sein Vater, ein Schüler Bachs, nach der Manier des Meisters diese Bässe ausführte, nie etwas vortrefflicheres gehört habe, dies Accompagnement sei schon an sich so schön gewesen, daß keine Hauptstimme etwas zu dem Vergnügen, was er dabei empfunden, hätte hinzuthun können52. Es stimmt damit überein, wenn wir zwei Fugen besitzen, zu denen Albinonische mehr oder weniger von Bach[423] benutzt wurden53. Die italiänischen Arbeiten sind abermals dreistimmig, die Bachschen, beide für Clavier gesetzt, sind es dieses Mal auch, die Waffen also gleich. Von den Fugen steht die erste in A dur54; Albinoni hat sich die Sache leicht gemacht und genug zu thun geglaubt, wenn er einen einzigen Contrapunct zum Thema erfände:


3.

den er in den nöthigen Versetzungen stets genau wiederholt. Er giebt sich aber auch keine Mühe mit vielen Durchführungen und bringt in dem 48 Takte langen Stücke das Thema nur achtmal, alles übrige füllt er mit freien und nicht eben bedeutungsvollen Gängen aus. Von dem gesammten Materiale konnte Bach nicht viel gebrauchen. Den angeführten Contrapunct benutzt er nur beim ersten Eintreten des Gefährten und auch da schon mit einer wesentlichen Verschönerung, hernach aber das ganze, hundert Takte lange Stück hindurch nie wieder, als ob er recht deutlich lehren wollte, daß eine ordentliche Fuge mehr sei, als ein mechanisches Versetzen der Stimmen nach oben und unten, daß sie vielmehr stets neue Zweige aus demselben Stamme treiben müsse. Außerdem hat er noch einen Zwischengedanken aus Takt 8 und 9 entlehnt:


3.

mit dem Albinoni nichts weiter zu beginnen weiß, der aber bei Bach zu den schönsten motivischen Gebilden erblüht (vergl. Takt 24–27 und 44–47). Alles andre in der ausgezeichnet schönen Composition ist ureigne Erfindung, eine herbe Frische, wie die eines schönen Herbstmorgens, schwebt um sie, und wie aus unerschöpflichem Born quillen die Gestalten, gesundheitstrahlend und lebenstrotzend. Das [424] Zeitmaß, bei Albinoni Allegro, muß es jedenfalls auch bei Bach bleiben. Der voll in die Saiten greifende Schluß mit dem Pedalgebrauch athmet noch etwas von jugendlichem Uebermuth, ist aber mit dem Uebrigen so sehr aus einem Gusse, daß der Componist auch in älteren Jahren, wie es scheint, keine Aenderungen mehr vorgenommen hat. Dagegen hielt er solche bei der andern Fuge in H moll für nothwendig, wie zwei neben einander erhaltene Bearbeitungen zeigen. Der Grund lag wohl darin, daß er hier nicht so unbehindert aus sich selbst gestaltete, sondern das Albinonische Vorbild etwas reichlicher für seinen Zweck zu verwerthen strebte. In der That hat es einen großen Reiz zu sehen, wie Bach alle hervortretenden Züge in seiner Phantasie gesammelt und hier gleichsam eine neue Stoffmischung vorgenommen hat, so daß sie am eignen Werk nun zwar sämmtlich wieder erscheinen, aber in ganz anderm und viel wirkungsreicherem Zusammenhange55. Von dem Contrapunct des Gefährten ist ein Mittelstück häufiger verwendet, nämlich das letzte Achtel des dritten Taktes und die erste Hälfte des folgenden bei Albinoni:


3.

zuerst in Takt 12 und 13 für die Oberstimme, in Takt 58, sowie 80 und 81 für die Mittelstimme bei Bach. Das Anfangsstück kommt nur einmal, aber klar erkenntlich, in Takt 63 auf 64 vor. Zu überraschendem Ausdruck gelangt jener Terzengang von drei Achteln im fünften Takte


3.

der sich im 29. wiederholt, durch die Verwendung bei Bach in Takt 59 und 60; hier wetterleuchtet es aus der Tiefe seines Genius schaurig ergreifend herauf! Der chromatische Gang der zweiten Violine im zwanzigsten Takte tritt im vierzigsten der Clavierfuge gleichfalls in der Mittelstimme, dann im fünfzigsten noch einmal in der Oberstimme zu Tage; eine kleine hüpfende Sechzehntelfigur des 22. Taktes geräth im 25. der Bachschen Composition unvermerkt auf die Oberfläche und treibt dort eine Zeit lang ihr Wesen fort. Die chromatischen, zwischen zweite und erste Geige[425] vertheilten, aufwärts steigenden Gänge des 33. Taktes scheinen bereits im 14. und 15. Takte des Clavierstückes deutlich hindurch, quirlen, in abgerissene Sechzehntel zertheilt, in Takt 34 und 35 unruhig herum, und arbeiten sich endlich vom 81. Takte an vollends in die Höhe. Eine Palingenese, in der ein Künstler das Werk eines andern in dem seinigen so vollständig aufzehrt, daß die Existenz jenes nunmehr eigentlich überflüssig erscheint, und doch wieder etwas so grundverschiedenes liefert, daß beide Compositionen, vom Thema abgesehen, kaum mit einander verglichen werden können, gehört wohl zu den seltensten Erscheinungen der Kunstwelt. Doch waren an der ersten Bearbeitung noch einige Härten und Steifheiten haften geblieben56; ganz vollendet wurde der Process erst in der zweiten Bearbeitung, welche Bach nunmehr ohne irgend eine Rücksicht auf Albinoni nur aus dem Wesen seiner eignen Composition heraus vornahm. Hier schlossen sich alle Fugen, ründeten sich alle Linien, ordneten sich alle Verhältnisse zur herrlichsten Schönheit; Takt für Takt muß man die hohe Weisheit des Meisters bewundern. Man betrachte beispielsweise nur die Umbildung des 30. Taktes, und wie diesem im 94. ein Gegenbild ersteht; wie in der Gruppe vom 34. Takte an bis zum nächsten Einsatze des Themas sich alles dehnt und reckt und dabei die chromatische Figur des Basses wie eine Hülse abgestreift wird, aus welcher der lebendige Keim endlich hervorbricht! Vom 68. Takte der zweiten Bearbeitung an wird die Entwicklung ganz abweichend und strömt noch weit über die Gränzen der ersten hinaus, um erst mit dem 102. Takte zu Ruhe zu kommen. Die Gesammtstimmung dieser Fuge ist von der vorigen durchaus verschieden; sie webt ganz in jener geheimnißvollen Dämmerregion des Gefühles, in welcher Bach vor andern Tonsetzern heimisch ist, und die sich dem begreifenden Worte traumhaft entzieht. Das italiänische Original hat hiervon nichts, und aus dieser innerlichen Grundverschiedenheit wird es zu rechtfertigen sein, wenn man die dort vorgeschriebene Bewegung Allegro für die Bachsche Fuge entsprechend [426] mäßigt. Uebrigens kann die zweite Bearbeitung wohl nur zur Zeit von Bachs höchster Reife vorgenommen sein, da sie ein Werk ergeben hat, was zu den vorzüglichsten des Meisters überhaupt gehört. Er selber war ihm besonders zugethan und setzte dazu, wie es scheint, auch ein großes phantastisches Praeludium57.

Es ist, um mit den italiänisch beeinflußten Compositionen Bachs aus dieser Zeit abzuschließen, noch die Erwähnung eines Variationenwerks alla maniera italiana übrig58. Diese auf ein köstliches Thema in Liedform gearbeiteten Clavierstücke sind der italiänischen Violin-Variation angeähnelt. Die Figuration liegt mit kaum nennenswerther Unterbrechung in der Oberstimme, der Bass geht einfach stützend darunter her, wenn es ihm gleich nicht an freier Bewegung fehlt; der Satz ist überwiegend zweistimmig und bildet dadurch freilich zu dem herrlich harmonisirten Thema, was als letzte Variation etwas verändert wiederkehrt, einen starken Contrast. Wohl mit Absicht ahmen manche Stellen die Passagen-Art der Geige nach, auch tritt die Spielweise der arrangirten Vivaldischen Concerte häufig entgegen59. Hinter den 30 Goldbergschen Variationen im 4. Theile der »Clavierübung« stehen diese allerdings bescheiden zurück; es sind saubre, feine Bleistiftzeichnungen gegenüber saftig colorirten Gemälden. Aber der Bachsche Funke fehlt ihnen nicht; er glüht mit intensiver Stärke in dem melancholisch holden Thema, was nur wie ein Schatten durch die Variationen wandelt, in der letzten aber wieder mit berauschendem harmonischen Zauber aufblüht. –

Es folgen nun als dritte Gruppe solche Instrumentalwerke, die sich nicht auf die italiänische Kunst stützen und ausschließlich fürs Clavier bestimmt sind. Denn, um es zu wiederholen, wo Bach an die Italiäner sich anschloß, geschah es nicht in schülerhafter Unsicherheit, sondern mit bewußter Ueberlegung und darum konnte er neben den zuvor aufgezählten Werken zugleich andre von ganz verschiedener Gattung mit Meisterschaft produciren. Es werden bei ihrer Betrachtung noch einige Male Elemente französischer wie [427] italiänischer Kunst zu Tage treten, deren Benutzung aber nur die unumschränkte Beherrschung aller Mittel kund giebt. Eine vollständige Ouverture nach französischer Weise setzte Bach an die Spitze einer kleinen Suite in F dur60. Das ganze Werkchen, was nur drei knappgeformte Tanzstücke, Menuett, Bourrée und Gigue enthält, gewinnt erhöhtes Interesse, wenn man es mit den späteren Suiten vergleicht, die ebenso kühn und ideal gestaltet sind, wie dieses sich anspruchslos noch in den einfachen Tanzformen bewegt. An die Ouverture schließt sich als Zwischenstück eine Entrée, die eigentlich mit jener denselben vorbereitenden Zweck hatte; auch im Charakter pflegte sie dem Eingangssatze der Ouverture ähnlich zu sein, jedoch zweitheilig und mit doppelter Reprise, wie eben hier. Am werthvollsten erscheint der anmuthig gaukelnde Fugensatz der Ouverture, und der Menuett mit seinem reizenden Trio.

Von einzelnen Clavierfugen wäre vor allen eine treffliche aus A dur zu nennen61. Sie hat eine unverkennbare allgemeine Aehnlichkeit mit der über das Albinonische Thema in gleicher Tonart gesetzten, obwohl im Besondern Thema sowohl wie Construction ganz abweichen. Die Entwicklung erfolgt vom 35. Takte an mittelst Umkehrung des Themas, dem sich zeitweilig das Gegenthema:


3.

zugesellt, hernach werden beide Bewegungen sinnreich unter einander gemischt. Zum Schlusse treten wieder einige jener Cembalopedal-Töne ein, die mit ihrem äußerlichen Effect jedesmal auf eine mehr oder weniger frühe Entstehungszeit weisen. – Weniger bedeutend ist eine andre Fuge in A dur62 mit hastigen und doch nachlässigen Engführungen in grader und verkehrter Bewegung, und einer Themabeantwortung im dritten Takt, durch welche man anfänglich E dur für die Grandtonart zu halten verleitet wird. Sie ist sicherlich um vieles früher, als die andre, oder zur ungünstigen Stunde geschrieben. – Ein reizendes, geheimnißvoll neckisches [428] Stück besitzen wir in einer frei und jugendlich ausgeführten A moll-Fuge63: aus ihr meint man der Elfen Gewisper und Getrippel zu vernehmen, sie klingt, wie ein um hundert Jahre vorweg genommenes Scherzo von Mendelssohn. – In vielen Zügen verwandt ist eine andre derselben Tonart, die deshalb ungefähr gleichzeitig mit ihr sein mag, obgleich weitere chronologische Anhaltepunkte fehlen64.

Wir hatten oben von einigen allein stehenden Orgelpraeludien gesprochen. Ob dieselben wirklich als selbständige Stücke gedacht oder etwa die zugehörigen Fugen nur verloren gegangen sind, darüber läßt sich nichts entscheiden. Mit größerer Sicherheit kann das erstere von zwei Clavierpraeludien behauptet werden, welchen beiden eine ungewöhnliche Form gemeinsam ist, und die, obwohl sie sich nirgends zu festen Gebilden verdichten, doch eine gewisse Stimmung erschöpfen, eine träumerisch verhüllte, leidenschaftlich suchende, in ungestillter Sehnsucht hinschwelgende. Bis Beweise vom Gegentheil aufgebracht werden, muß ich es für eine ausschließlich Bachische Eigenthümlichkeit erklären, an solchen subjectiven Tonbildern sich Genüge zu thun, ohne durch ein nachfolgendes formfestes Stück den Zusammenhang zwischen Individuum und Allgemeinheit wieder herzustellen, eine Eigenthümlichkeit jedoch, die in den gereifteren Mannesjahren naturgemäß zurücktrat. Das Vorbild zu solchen Compositionen liegt in einem früher erwähnten Clavierwerke Georg Böhms vor, welches allerdings auf ein träumerisches Praeludium eine Fuge folgen ließ, nach derselben aber in die Anfangsstimmung zurückkehrte und unter dem Gesäusel melancholischer Accorde hinstarb. Von dem einen nun der beiden Bachschen Praeludien kennen wir schon aus dem Jahre 1713 die Abschrift eines fremden Musikers, es erscheint deshalb passend, die Zeit der Composition etwa um das Jahr 1710 zu suchen65. Das andere wird ungefähr ebendann entstanden sein; dies deutet die formelle Uebereinstimmung[429] beider an und die durchgängig zu beobachtende Thatsache, daß Bach, wenn es die Anwendung neuer Formen galt, nie bei einem einzigen Versuche stehen blieb, sondern sie durch wiederholte Pflege möglichst zu erschöpfen strebte66. Eine hervorspringende melodische Blüthe fehlt dem einen wie dem andern durchaus, sie bieten nur Harmonienfolgen, welche sich an einem festen rhythmischen Spalier weiterranken. Der Rhythmus allein gliedert auch ihre Form in zwei Haupttheile, die von vorbereitenden oder ausklingenden Accorden und Passagenwerk eingerahmt werden. Grundtonart des ersteren ist C moll, aber die große Subjektivität tritt gleich daraus hervor, daß außer in den Anfangs- und Endtönen diese Tonart sich fast garnicht geltend macht. Schon die schwermüthig arppeggirenden Einleitungsaccorde führen sofort nach G moll hinüber, und in G moll beginnt auch der erste Haupttheil:


3.

welcher durch die verwandten Tonarten fortmodulirend mit dem vollen Eintritt von Es dur in den zweiten Haupttheil, 4/8 Takt, hinüber führt. Die Sechzehntel der linken Hand weichen der Achtelbewegung, zu der oben erst Viertel, dann mit Sechzehnteln gemischte Achtel, endlich nur Sechzehntel ertönen. Der Schluß besteht aus zwei kleinen Gruppen, im Vierviertel-Maß und 24/16 Takt, die letztere braust zu kurzen Pedaltönen heftig auf, sie liegt fast nur in der Unterdominante und kehrt erst mit den Schlußaccorden:


3.

[430] fragend zur Haupttonart zurück. Das andre Praeludium in A moll ist breiter ausgeführt, die Einleitung wird aus flüchtigen Zweiunddreißigstel-Figuren und Clavier-Recitativen gewoben. Mit dem 14. Takt beginnt der erste Theil, dessen Rhythmus eine innerliche, wachsende Unruhe ausdrückt, ihr entsprechend arbeiten sich die Harmonien aus dunklen Regionen in immer höhere Lagen hinauf, bringen es zu einem leidenschaftlichen Ausbruche (Takt 32) und sinken in die Tiefe zurück. Die rhythmische Figur, welche den zweiten Theil beherrscht, bemerkten wir schon am Schlusse der Orgeltoccate in D moll67; dort huschte sie unausgenutzt vorüber, hier wird sie durch 52 Takte hindurch fast zu sehr erschöpft. Aus dem Epilog von Takt 87–106 heben wir noch eine Stelle von wunderbarer Wirkung heraus: Sechzehntelgänge stürmen in der E dur-Tonart aufwärts, kurze Pause, und dann unvermittelt dieses:


3.

68


[431] Den beiden Praeludien haben wir vier Fantasien gegenüber zu stellen. Es ist durchaus ein Irrthum, zu glauben, daß Bach mit diesem Namen fessellos schweifende Improvisationen bezeichnet habe, zu denen er überhaupt wenig geneigt war. Die Fantasie schließt bei ihm regelmäßig festgegliederte und aus melodischen Motiven entwickelte Formen ein, besteht nicht selten nur aus solchen. Ganz entscheidend für die Frage ist, daß Bach seine im strengsten Stile gehaltenen dreistimmigen Clavier-Sinfonien ursprünglich mit dieser Bezeichnung versah69, es ergiebt sich das Resultat aber auch schon aus einer Zusammenstellung dessen, was sonst unter dem Namen von ihm existirt. Allein der Raum für das freie Spiel des schöpferischen Geistes ist keineswegs immer ganz versperrt; die Benennung scheint eben solchen Stücken beigelegt zu sein, deren Bau mit keiner der gebräuchlichen Formen vollständig übereinstimmte, sondern immer wenigstens durch einige freigestaltete Züge sich bemerkbar machte. So verhält es sich auch mit den vorliegenden Fantasien. Die eine, G moll70, ist auf drei zusammengepaßte Motive gebaut, welche alle den doppelten Contrapunct in der Octave zulassen und an deren Versetzungen und Durchführungen sich das Stück in kräftigem Flusse entwickelt. In der andern, aus H moll, wird der erste Satz aus dem Keime


3.

sinnreich hervorgelockt, der zweite aus diesem Gedanken


3.

frei entwickelt71. Wiederum abweichend ist die dritte, aus A moll, gebildet. Diese beginnt mit einem toccatenartigen, höchst glänzenden [432] Satze, bringt dann eine sehr lebhafte, aber etwas flache Fuge über das Thema:


3.

und kehrt zum Schlusse in das toccatenhafte Wesen zurück, was nunmehr mit Tempowechsel und Recitativen noch 35 Takte andauert72. Die vierte ist von allen die längste und merkwürdigste, ein Bild wunderbarer Formenmannigfaltigkeit73. Nach einigen praeludirenden Takten in D dur hebt der erste Satz mit diesem Gedanken an:


3.

der zuerst ganz quintenmäßig beantwortet wird, als ob es eine Fuge gölte, bald aber in der linken Hand unter kurzen Accorden der rechten sich in freien Wiederholungen weiter arbeitet, bis ihm als neuer Gedanke diese Tongruppe entgegentritt:


3.

welche sich, indem die Achtel bald oben bald unten liegen, eine Weile fortspinnt. Mit dem dreizehnten Takte treten sich beide Gruppen wetteifernd gegenüber, und aus diesem Widerstreit entwickelt sich der ganze weitere Verlauf. Es leuchtet ein, daß hier der Bau [433] eines Concertsatzes maßgebend gewesen ist. Nun folgt ein bunter, echt toccatenhafter Adagio-Satz: ein kleines, viernotiges Motiv thut sich, von Tremolos unterbrochen, darin hervor, und führt in den Takten 4–7 Gebilde herbei, welche genau mit einer Stelle des eben geschilderten A moll-Praeludiums (Takt 87 ff.) übereinstimmen und anzeigen, daß beide Stücke kurz nach einander geschrieben sein werden. Wir kommen zu einem dritten, wiederum bewegteren Satze, der im Bau gänzlich der zuvor erwähnten G moll-Fantasie gleicht: auch hier sind es drei mit einander verflochtene Themen, welche im doppelten Contrapunct der Octave versetzt werden, zu motivischen Zwischensätzen Veranlassung geben und so die Mittel zur Entwicklung des ganzen Satzes gewähren. Nur erfolgen hier die ersten Eintritte nach dem Quintenverhältniß, so daß man eine ordentliche Tripelfuge vor sich hat. Die Tonart war Fis moll, der nächste Satz soll langsam zur Haupttonart zurückleiten; er ist noch bunter, wie das erste Zwischenstück, voll von pathetischen Clavier-Recitativen (con discrezione zu spielen, wie einige Handschriften bemerken) und breiten Verbindungs-Harmonien; die oben durch ein Beispiel verdeutlichte Tonfolge des A moll-Praeludiums kommt auch hier vor (Takt 9 und 10). Endlich gelangt man zur Schlußfuge im 6/16 Takt, die flüchtig dahinschwebt wie ein Schmetterling, und auch nicht schwerer wiegt, als ein solcher.

Diese letzte Fantasie ist eine Mischung aus jenen zuvor besprochenen dreitheiligen Toccaten mit concerthaftem ersten Satze und einer andern Toccaten-Art, von der Bach ebenfalls mehre Exemplare hinterlassen hat. Sicherlich erhielt sie ihren Namen, weil sie eben weder auf jenes noch dieses Muster völlig paßte. Für die Beurtheilung von Bachs Künstlernatur ist es durchaus nicht unwesentlich, zu beobachten, wie er auch in der Gattung, welche zur formlosesten Spielwillkür berechtigte, nach festen Principien größere Organismen herauszuarbeiten suchte und dieselben dann reinlich von allem fremdartigen absonderte. Das Gebot höchster Formenstrenge beherrschte sein gesammtes Thun. Und aus eben diesem Grunde suchte er, wenn er einen glücklichen Griff gethan zu haben glaubte, durch Wiederholung der Arbeit sich neuerdings davon zu überzeugen und die Ausgiebigkeit der geschaffenen Form zu prüfen. So geschah es auch mit der Toccaten-Gattung, in welche die D dur-Fantasie[434] hinübergreift74. Sie hat vier Sätze, zwei fugirte und zwei freier gestaltete in Abwechslung, doch so, daß die fugirten die zweite und vierte Stelle einnehmen. Die D moll-Toccate wäre nach einem Zeugniß aus dem Hause Kittels, eines Schülers von Bach, des Meisters erste Toccate überhaupt, und wir haben kein Recht, daran zu zweifeln75. Der erste Satz ist ganghaft bis zum 15. Takte, wo wie im ältesten Toccatenstil gebundenes Spiel ablösend eintritt und zwar in sauberster vierstimmiger Harmonie und gesättigt von warmer Empfindung. Eine Doppelfuge bildet den zweiten Satz, bei welcher nur auffällig ist, daß beide Themen in Melodie und Rhythmus sich fast ganz gleichen: der einzig wesentliche Unterschied besteht darin, daß das erste einen Schritt von d nach đ, das zweite einen solchen von đ nach 3. macht. Welche Absicht der Componist mit dieser merkwürdigen und in seinen Instrumentalwerken sonst beispiellosen Anlage gehabt hat, ist unerfindlich, die natürliche Folge davon eine gewisse Monotonie. Die Stimmenführung ist in hohem Grade flüssig und elegant, mit zwei Ausnahmen, wo die Mittelstimmen ganz rücksichtslos und unmelodisch herumgeworfen werden (Takt 10–12 und 73–74). Es folgt ein zartklagendes Adagio, was an der Hand eines eintaktigen Motivs ruhelos von Tonart zu Tonart irrt und im 25. Takte auf der Dominante von D moll stille hält. Der Harmonienwechsel ist offenbar [435] Hauptsache, er wirkt lösend und erfrischt zu neuer Anspannung und das Stück hat in der Oekonomie des Ganzen dieselbe Bedeutung, wie die freien Zwischensätze der Buxtehudeschen Orgelfugen, nur ist mehr Zusammenhang in ihm. Unter dem letzten Satze hat man wieder eine Doppelfuge zu erkennen, deren Themen:


3.

allerdings winzig und unbedeutend genannt werden müssen im Vergleich zu dem, was wir schon jetzt von Bach gewohnt sind, selbst zu den Themen der andern Doppelfuge dieses Stückes. Der Componist konnte nicht einmal bei der ersten Durchführung die Eintritte ohne Zwischensätze erfolgen lassen, wollte er nicht von vorn herein den Eindruck athemloser Hast hervorrufen. Andrerseits aber lief er Gefahr, durch solche Zwischensätze die unscheinbaren Themen ganz zu erdrücken; er wählte daher einen befremdlich scheinenden, aber durch die Unbestimmtheit der Gattung zu rechtfertigenden Ausweg, und schickte dem eigentlichen Beginn der Fuge in elf Takten eine freie Exposition des motivischen Materials vorher. Die Themen ertönen, werden im 3. und 4. Takt nach dem doppelten Contrapunct der Octave versetzt, und in den übrigen Takten wird der Stoff für die Zwischensätze aufgespeichert. Darnach beginnt die Entwicklung, die manche feine Züge trägt, es aber trotz ihrer 140 Takte doch zu keinem Gefühl der Breite und Fülle bringt, weil alle Perioden einen ganz kurzen, engbrüstigen Zuschnitt haben, und die Themen so wenig ergiebig sind, daß man sie bald satt gehört hat. Auch ermüdet der einförmige Rhythmus. – Ueber die zweite Toccate, in G moll76, ist wenig hinzuzufügen. Ihre Form stimmt genau mit der vorigen überein. Der erste Satz beginnt mit abwärts stürzenden Passagen, an die sich ein frei phantasirendes Adagio (an Stelle der schönen vierstimmigen Partie der D moll-Toccate) anschließt. Der zweite Satz ist eine Doppelfuge in B dur von straffer, militärischer Haltung, [436] deren Themen zusammen einsetzen, sieh aber besser von einander abheben; die ersten Einsätze sind wieder merkwürdig, denn die Themen beantworten sich in der Octave, wie am Anfang des letzten Satzes der vorigen Toccate, jedoch mit einigen Aenderungen, aus denen sich neue Harmonien ergeben. Als dritter Satz dient wieder ein mäßig ausgedehntes Adagio ohne festen thematischen Kern, und den letzten Platz füllt eine breit angelegte Fuge aus, deren treffliches, höchst energisches Thema:


3.

das auch in der Verkehrung durchgearbeitet wird, wobei, es einen Ausdruck trotziger Wildheit erhält, nur nicht immer frei genug hervortritt, um voll zu wirken. Der Schluß läuft cyklisch in den Anfang des ersten Satzes zurück. – Die dritte Toccate, in E moll77. weicht formell nur insofern ab, als im ersten Satze sich keine langsamen Harmoniengänge befinden und dieser überhaupt nur ganz kurz und praeludirend gehalten ist. Alles andre ist gleich gestaltet: die Doppelfuge an zweiter Stelle, das recitativisch phantasirende Adagio als dritter Satz und die Schlußfuge. Inhaltlich aber steht diese Toccate bedeutend über ihren Schwestern, und gehört zu jenen von Melancholie und Sehnsucht tief getränkten Stücken, die nur Bach zu schreiben wußte. Gleich die köstliche kurze Doppelfuge ist vom Anfange an, wo der Septimenvorhalt aufseufzt, bis zum Schlusse, wo die Themen, als könnten sie sich nicht Genüge thun, zweimal nach einander in derselben Lage ertönen, ganz voll von schmerzlichem Verlangen. Und nun der letzte Satz – so leicht und schlank, wie eine holde Gestalt, dahin wandelnd, und doch mit so thränenschwerer, bleicher Miene, daß man von Wehmuth bezwungen das künstlerisch Empfundene hinüberziehen möchte in den Gefühlskreis selbst erlebten Leides, um es dort erst völlig auszukosten! Es wurde darauf aufmerksam gemacht, daß diese schon in einer frühern Fuge78 dargestellte Stimmung hier zur erschöpfendsten Aussprache gelange; [437] die Aehnlichkeit zwischen beiden zeigt sich auch in feineren Zügen, namentlich der stockenden und abgerissenen Contrapunctirung des Themas, von welcher ein wesentlicher Theil des unsäglichen Reizes ausgeht. –

Wir dürfen nicht daran zweifeln, daß in der ganzen ersten Hälfte der weimarischen Zeit, die sich kurz und gut durch das Jahr 1712 begränzen läßt, Bachs Beschäftigung mit der kirchlichen Vocalmusik in den Hintergrund getreten war und keine bedeutenden Verluste zu beklagen sein werden, wenn wir nur drei Cantaten für diesen Zeitabschnitt namhaft zu machen haben. Ihre Merkmale sind eben die der älteren Kirchencantate, und da alsbald nachgewiesen werden soll, daß spätestens seit 1712 sich Bach mit Entschiedenheit der neuern Cantaten-Form zuwendete, so ist der Raum für ihre Entstehungszeit dadurch abgesteckt. Sie sind der Anlage und dem Können ihres Schöpfers gemäß wohl die vollendetsten Cantaten dieser Gattung überhaupt. Aber auch jener eigentlich Bachsche Cantaten-Stil, dem die Instrumentalmusik in ihrer ganzen Breite zur Grundlage diente, bricht hier schon ungleich mächtiger hervor, als in der Mühlhäuser Festcomposition und der etwa gleichzeitigen Hochzeitsmusik. Der Tonsetzer hatte eben nicht nur in der Orgelkunst wieder eine höhere Stufe erklommen, sondern auch durch die Kammermusik vorzugsweise der Italiäner ganz neue Anregungen erhalten; beides kam den Cantaten sofort zu gute. In welchem chronologischen Verhältnisse sie unter einander stehen, ist mit Sicherheit nicht zu bestimmen, da dies nur nach innern Merkzeichen geschehen könnte; sie haben aber sämmtlich sehr viele Züge gemeinsam und stehen auch hinsichtlich des Aufwandes an Technik ziemlich auf gleicher Stufe. Eine enthält sich des Chorals, setzt jedoch ihren Text nicht ausschließlich aus Bibelsprüchen zusammen, wie die zuletzt besprochene Hochzeitscantate, sondern schließt nach Brauch auch gereimte Dichtung ein. Schon der erste Blick auf die Partitur zeigt uns den Einfluß der italiänischen Kammermusik: die Cantate beginnt mit einer Sinfonia in H moll nach dem Muster der dreistimmigen italiänischen Violinsonaten. Zwei Violinen und Continuo, d.h. die stetig mitgehende Orgel, deren Basse sich verstärkend ein Fagott zugesellt, bilden den Instrumentalkörper; derselbe wird auch im Verlaufe der Cantate nicht verstärkt, nur tritt das Fagott zuweilen[438] obligat auf79. Wie in der Sinfonie der Hochzeitscantate wird auch hier das Anfangsthema des ersten Chors vorbereitend durchgeführt. Dieser selbst ist über die ersten Verse des 25. Psalms gesetzt, welche in vier Sätzen eben so viele musikalisch zugängliche Gedanken enthalten, nämlich: »Nach dir, Herr, verlanget mich. Mein Gott, ich hoffe auf dich. Laß mich nicht zu Schanden werden, daß sich meine Feinde nicht freuen über mich.« Dadurch ist die Form des Chorstückes äußerlich vorgezeichnet. Bach würde in späterer Zeit sich mit weniger Textmaterial, etwa mit den beiden ersten Sätzen begnügt, und auf diese zwei contrastirende Tonbilder gebaut haben. Für seine jetzigen Formideale war auch das Ganze nicht zu viel. Er bildete einen Satz mit streng fugirter Anfangs- und Endpartie, wozu er den ersten und letzten Textabschnitt und beide Male dasselbe Thema in verschiedener Bearbeitung benutzte, dazwischen fügte er ein freigestaltetes Mittelstück über den zweiten und dritten Abschnitt. Die Uebertragung der Buxtehudeschen Fugenform auf die Vocalmusik ist hier unverkennbar. Das erste Thema ist, mit einigen Modificationen am Ende, dieses:


3.

Es wird, nach alter Manier in Engführungen, in drei Perioden kurz durchgearbeitet, und zwischen dieselben tritt jedesmal ein Sätzchen aus der Einleitungs- Sinfonie als das in der älteren Kirchen-Cantate übliche Ritornell. Das Thema der Schlußfuge erscheint in beweglicherer Gestalt und beschleunigtem Zeitmaß:


3.

und wird ohne Unterbrechung 21 Takte lang durchgearbeitet, zuerst in Engführungen, dann freier und freier heraustretend. Wie hier [439] das Verhältniß zwischen ruhig und bewegt, gewichtig und leicht ganz dasselbe ist, wie bei den zwei Fugensätzen der Buxtehudeschen Orgelstücke, so stimmt auch der Zwischensatz mit seinem instrumentalen Vorbilde an ungebundenem und aphoristischem Wesen überein. Die auf einer Fermate aushallenden Worte »Mein Gott!« leiten nach Fis moll hinüber, wo im dreitaktigen Allegro unter Sechzehntel-Bewegung des Soprans und einfallenden Achteln der übrigen Stimmen die Worte »ich hoffe auf dich« ertönen. Dann ein paar Accorde der Instrumente, und es folgen un poco allegro vier Takte hindurch in engen Imitationen und interessanten Harmonienfolgen die Worte »laß mich nicht zu Schanden werden«. Darnach wird der Ausruf »zu Schanden« imAdagio-Tempo noch einige Takte mit abwechselndem Einfallen der Instrumente fortgesetzt, bis endlich ein kurzes Ritornell in die letzte Fuge hinüberleitet. Die polyphonische Arbeit ist sehr reich und gewandt: die beiden Geigen sind immer, das Fagott ist sehr häufig obligat; besonders ist eine Begleitungsfigur:


3.

anzumerken, die in allen drei Cantaten, mehr oder weniger übereinstimmend sich findet. Bedürfte es noch eines weiteren Nachweises für die durchaus instrumentale Wurzel dieses ersten Chorsatzes, so wäre es der, daß Bach das hier geschaffene Tongebild in seiner Fis moll-Toccate für Clavier wieder aufgriff, und den Bedingungen dieses Instrumentes gemäß weiter ausgestaltete. Dieser Process muß auch schon in Weimar, doch wird er der größeren Gereiftheit der Toccate wegen nicht sofort nach Composition der Cantate vor sich gegangen sein; es wäre auch psychologisch befremdlich, da der Künstler doch für den Augenblick sein Material erschöpft zu haben glauben mußte. Die zweite Nummer besteht nun aus einer kurzen, von den unisonen Violinen und der Orgel begleiteten Sopranarie, deren gereimter Text ein muthiges Vertrauen im Unglück ausspricht. Ihrer Gestalt nach paßt sie weder auf die italiänische noch die deutsche Arie, selbst nicht auf das Arioso, obwohl sie von diesem einige Züge trägt. Es ist eine unruhige Uebergangsbildung; die [440] Sopranarie der Hochzeitscantate, auch wie ein Trio angelegt, war doch schon formvoller. Der Chor fährt nach dieser kurzen Unterbrechung mit dem fünften Psalmverse fort: »Leite mich in deiner Wahrheit und lehre mich, denn du bist der Gott, der mir hilft; täglich harre ich dein.« Seine Gestalt ist hier eine motettenhafte, insofern jeder der vier Text-Gedanken kurz für sich durchgeführt, und ohne instrumentale Unterbrechung vom einen zum andern weiter gegangen wird; die Instrumente sind nur selbständig, indem sie den harmonischen Bau höher aufthürmen. Für jeden Abschnitt hat Bach einen geistvollen Durchführungs-Gedanken. Zuerst veranlaßt ihn das »Leite mich« zu einem in gemessenen Viertelnoten aufsteigenden Tonleitergange von H bis 3. , in dem sich vom beginnenden Basse an die Stimmen taktweise ablösen, während die übrigen dazu in vollen Accorden und großartig-ruhigem Harmonienwechsel das »Leite mich« (3.) declamiren. Zuletzt läßt je eine Stimme sich mit den Tönen:


3.

auf verschiedenen Tonstufen vernehmen, gegen welche dann die übrigen in drängenden Sechzehnteln figuriren, endlich erschallt im h des Basses der durch mehre Takte hinaustönende Ruf, und unter und über ihm drängen die Stimmen leidenschaftlich nach oben, wie Arme, welche sich dem Retter sehnsüchtig entgegenstrecken. Es folgt eine Arie in D dur für Alt, Tenor und Bass, mit der zum ersten Male die Haupttonart verlassen wird, in der Form einer einfachen Choralstrophe. Da im Text vom Sturme die Rede ist, so figuriren die Bässe in malerischen Sechzehnteln und Achteln. Zwischen den Strophenzeilen ist zuweilen ein Takt Instrumentalspiel, auch werden dieselben hier und da durch kleine Imitationen etwas ausgedehnt, sonst verläuft alles ganz ebenmäßig. Wiederum geht der nächste Chor auf das Bibelwort zurück und singt mit Vers 15: »Meine Augen sehen stets zu dem Herrn, denn er wird meinen Fuß aus dem Netze ziehen.« Er beginnt in D dur, wendet sich aber bald über Fis moll wieder nach H moll. Der erste Theil ist homophon, aber von einem genialen Instrumentalspiel durchflochten und umkränzt, welches das sehnsüchtige Aufblicken zu dem Herrn eben so neu wie schön versinnlicht [441] in dem wetteifernden Aufstreben der Geigen über den leise wallenden Sechzehnteln des Fagotts. Der zweite Theil, eine Fuge mit selbständiger Betheiligung der Violinen, hat sein Charakteristisches ebenfalls durch die Vorstellungen erhalten, welche der Text hervorruft. Das verwickelte Stimmengewebe gleicht einem dicht gesponnenen Netze, und die Befreiung daraus wird unter anderm durch einen Octavenschritt nach aufwärts, mit dem das Wort »ziehen« erfaßt wird, und am Schlusse durch die gewaltsam hindurch drängenden Harmonien:


3.

sprechend genug versinnlicht. Der letzte Chor endlich zeigt die von Bach genommene Richtung noch einmal nachdrücklich an. Er ist nichts weniger als eine auf den begleiteten Vocalkörper übertragene Ciacona. Daran daß diese ursprünglich ein Tanz war, brauchte sich Bach nicht zu stoßen. Denn längst war sie als eine zur Entfaltung polyphoner Kunst und Erfindungskraft höchst geeignete Form von den Clavier-und Orgelcomponisten so viel und frei behandelt, daß eine zerstreuende Erinnerung an ihre anfängliche Bestimmung schwerlich noch in jemandem aufkommen konnte. Pflegte man sie doch, wie G. Kirchhoff an der Melodie »Herzlich lieb hab ich dich« that, auch zum Orgelchoral zu benutzen. Aber ihre Uebertragung auf das Gebiet kirchlicher Vocalmusik war mindestens eben so neu, wie die der Buxtehudeschen Fugenform. Bach löste die unerhörte Aufgabe, in der es doch auch galt, Chor und Instrumente richtig gegen und mit einander wirken zu lassen, mit wunderbarem musikalischen Takte und Scharfsinne. Das Ciacona-Thema ist dieses:


3.

[442] die Textworte lauten:


Meine Tage in den Leiden

Endet Gott dennoch zu Freuden;

Christen auf den Dornenwegen

Führen Himmels Kraft und Segen;

Bleibet Gott mein treuer Schatz,

Achte ich nicht Menschenkreuz,

Christus, der mir steht zur Seiten,

Hilft mir täglich sieghaft streiten.


In dem ersten Theile, welcher die sechs ersten Verszeilen verbraucht, wechseln die Instrumente in ruhigeren und bewegteren Gängen bald mit dem vollen Chore, bald mit einzelnen Stimmen desselben ab, und durch geschickte Ausweichungen nach D dur, Fis moll, A dur und E dur wird jede Spur von Eintönigkeit entfernt. Im zweiten Abschnitte (von Takt 53 an) wird die Haupttonart nicht mehr verlassen, aber über das simple Bassthema ein sechsstimmiger imitatorischer Bau gethürmt von größter Pracht und Fülle, »sieghaft« sowohl im Ausdruck wie in der Ueberwindung aller technischen Forderungen, so daß hierdurch nicht nur für den Schlußchor, sondern für das ganze Werk ein überragender Gipfelpunkt gebildet wird. Es kann für den Historiker keinen größeren Genuß geben, als in der fortschreitenden Betrachtung der älteren Kirchen-Cantate endlich auf Werke zu stoßen, wie dieses und die nächstfolgenden Bachschen. Man fühlt noch denselben Boden unter sich, aber ringsherum ist wie mit einem Zauberschlage alles verändert. Ein ungeahnter Reichthum der Erscheinungen dringt von allen Seiten herein: große Tonbilder von neuen, fremdartigen Formen und jedes fast anders, als das andre, Einzelgedanken von kühnem Wuchs und adlig-freiem Gebahren, poetische Stimmungen von einer Tiefe und Unaussprechlichkeit, daß es uns wie Schauer aus der andern Welt umweht. Diese Thatsache, die ohnehin in der Kunstgeschichte kaum ihres gleichen haben mag, wäre vollends unerklärlich und wunderbar, wenn sich nicht ihre instrumentalen Quellen nachweisen ließen, wie wir das zu thun versuchten und auch weiterhin thun werden. Was an Kunst-Resultaten und Erfahrungen auf einem andern Gebiete gewonnen war, wurde plötzlich mit energischer Hand in ein neues, spärlich gefülltes Wasserbette geleitet – was Wunder, [443] wenn der Strom rauschend dahin schoß! Freilich bleibt trotz dieses Nachweises noch genug zurück, was eben nur als Ausfluß von Bachs eignem Wesen begriffen werden kann, der ja auch auf instrumentalem Gebiete selbst erst einen großen Theil von dem produciren mußte, was er später als Material für seine Kirchenmusiken zu verwenden unternahm.

Die poetische Grundlage für die zweite der drei Cantaten bildet der gesammte 130. Psalm, in den die 2. und 5. Strophe des Kirchenliedes »Herr Jesu Christ, du höchstes Gut« verwoben sind80. Die Cantate steht in G moll und umfaßt fünf große Sätze; der Chor ist vierstimmig, neben der Orgel wirken als Instrumente mit eine Violine, zwei Violen, Bass, Oboe und Fagott. Der Text des Anfangschores lautet: »Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir. Herr, höre meine Stimme, laß deine Ohren merken auf die Stimme meines Flehens«, und bot von selbst die Gliederung in zwei Abschnitte dar, einen langsamen (Adagio 3/4) und einen bewegten (Vivace 3.) Voran geht eine Symphonie von der oben beschriebenen Art, in welcher Bach Gabrielis Kirchen-Sonate vollendete, daß nämlich über den breiten Accordlagen der andern Instrumente zwei obere, hier Oboe und Violine, einen imitatorisch fortschreitenden Satz ausführen. Das Motiv der Symphonie bildet auch dieses Mal der Hauptgedanke des angeschlossenen Chors:


3.

eines wehmuthsvollen, weichen und für Bachs Gefühlsleben doppelt bedeutsamen Charakterstückes, wenn man es mit der tragischen Majestät jener riesenhaften Choralchöre »Ach Gott vom Himmel sieh darein« und »Aus tiefer Noth schrei ich zu dir« aus seinen späteren [444] Mannesjahren vergleicht. Auch in der Form verläuft es wesentlich nach älterer Weise, ohne große Ausdehnung, homophon, mit den Instrumenten chorisch abwechselnd. Doch ist im 5. Takte vom Ende die frei einsetzende Septime 3. ein wirkungsreicher, für damals kühner Zug. Leidenschaftlich erregt stellt sich das folgende Vivace dar, und ist zugleich formell vom höchsten Interesse, weil es in der Fugirung die auffallendsten Analogien zu der vorhin besprochenen viersätzigen Claviertoccate in D moll bildet. Wie im letzten Satze derselben, finden wir auch hier dem eigentlichen Fugenbeginn eine Exposition des Materials vorhergeschickt, indem das Thema zweimal von einer Stimme in verschiedenen Lagen vorgetragen und jedesmal wieder vom einfallenden vollen Chore unterbrochen wird. Vor allem aber: wie im zweiten Toccatensatze eine Doppelfuge aus demselben, für den Gegensatz nur wenig veränderten Thema entwickelt wurde – eine Erscheinung, die sich sonst unter Bachs Instrumentalwerken nicht wiederfindet – ganz genau so wird hier vom 12. Takte an verfahren:


3.

[445] Und endlich: wie im zweiten Satze der gleichfalls besprochenen G moll-Toccate die Themen der Doppelfuge sich in der Octave beantworten, ebenso auch hier: erst beim dritten Einsatze ergreift das Vorderthema die Dominante, um sich von da aus wiederum in der Octave beantworten zu lassen. Solche Beobachtungen, über den formenschöpferischen Geist Bachs an sich schon äußerst belehrend, sind wie mir scheint auch das stärkste innere Beweismittel für eine gleiche Entstehungszeit. Es ist dieselbe Sache, wie mit den vorbereitenden Thema-Einführungen einiger früher erwähnten Fugen. Daß Bach auf solche Experimente der Willkür zu verschiedenen Zeiten seiner rastlosen Entwicklung zurückgekommen sei, ist so unwahrscheinlich, wie möglich. – In dem zweiten Satze, welcher den 3. und 4. Psalmvers mit der 2. Strophe des genannten Chorals combinirt, sehen wir Bach auf dem in der Rathswechsel-Cantate betretenen Wege fortschreiten, den Orgelchoral auf das Gebiet der Vocalmusik zu verpflanzen. Dort überwog noch allzusehr das rein musikalische Element, hier ist schon den poetischen Forderungen gebührend Rechnung getragen. Aus der Angst, welche die Worte des alttestamentlichen Dichters erfüllt: »So du willst, Herr, Sünde zurechnen, Herr, wer wird bestehen« zeigen mit evangelischem Trost den Ausweg die Zeilen:


Erbarm dich mein in solcher Last,

Nimm sie aus meinem Herzen,

Dieweil du sie gebüßet hast

Am Holz mit Todesschmerzen.


Die Psalmworte singt der Bass, den Choral der Sopran, natürlich Solo; dazu ist eine Oboenstimme gesetzt, welche wundersam klagend und wieder tröstend zwischen beiden und über ihnen schwebt; das Ganze stützt ein in Achteln wandelnder Continuo – also ein richtiges Quatuor! Sich in den Stil solcher Bachschen Stücke hinein zu finden, gelingt nicht einem jeden sogleich; den einzig sichern Schlüssel zum Verständniß bietet die Erwägung, wie er sich aus dem Orgelchoral gebildet hat. Absolute Hauptsache ist die Choralmelodie, deren ganzer poetisch-musikalischer Gehalt zu greifbarerer Objectivität entwickelt werden soll, als dies der reinen Instrumentalmusik möglich ist. So dient denn der gegensätzliche Bibelspruch, oder was[446] es sonst ist, nur dazu, das Gefühl tiefer aufzuwühlen und in quellenderem Ergusse an die Oberfläche zu ziehen, aber nicht dazu, dramatische Gegensätze mit einander in Kampf zu bringen. Dies zeigt außerdem in unserm Falle die hineinspielende Oboe, welche musikalisch genau so viel Bedeutung hat, als der singende Bass, mit wünschenswerthester Deutlichkeit. Eine Gesammtstimmung schließt alles ein, die zu möglichster Innigkeit gesteigert und doch wieder auf das äußerste verallgemeinert ist. Bach erreicht es, scheinbar unverträgliche Gegensätze zu einigen, den Choral zum Gefäß der subjectivsten Empfindungen zu machen, und ihm doch seine kirchliche Würde und Bedeutung zu wahren. Er fußte ganz auf jener in der ältern Kirchen-Cantate hervortretenden Richtung, wußte aber die isolirte Empfindsamkeit mit kräftiger Hand und zur Stärkung ihres eignen kränklich zarten Wesens wieder in den allgemeinen Zusammenhang einzufügen. Das Geflecht der contrapunctirenden Stimmen hängt so fest in einander, daß keine sich hervordrängen darf, ohne die Haltbarkeit desselben zu gefährden. Danach hat der Sänger seinen Vortrag zu bemessen. Er soll nicht mechanisch seinen Part heruntersingen, was er bei den überaus eindringlichen Wendungen auch garnicht vermögen wird, aber er soll sich im Mittelpunkte des Ganzen fühlen, den Gesang der gleichmäßigen Fülle des Orgeltones anähneln und alle leidenschaftlichen Ausschreitungen vermeiden. Für die choralführende Singstimme gilt dasselbe, obwohl hier die Gefahr des Dramatisirens weniger nahe liegt, so lange man sich nur irgendwie noch der Bedeutung einer Choralmelodie bewußt ist; um Bachs Intentionen ganz zu verstehen, wolle man sich besonders bei derartigen Gebilden erinnern, daß er seine Soprane und Alte mit neutralen Knabenstimmen besetzt hatte. Wer nun eine solche contrapunctirende Behandlung der Singstimme als stilwidrig tadelt, der muß überhaupt jede Art von vocalen Choral-Formen, außer den chormäßigen oder den einstimmigen mit Instrumentalbegleitung, als unberechtigt abweisen. Daß damit dann gewisse Stimmungsgebiete verschlossen werden, ist klar. Aber allerdings muß Bach solcherlei Erwägungen angestellt haben, denn er fand bald noch eine andre und in gewisser Hinsicht vorzüglichere Form; in späteren Jahren aber zog er sich in der That immer mehr auf die ebengenannten beiden Behandlungsarten zurück. – Der im zweiten Satze angstvoll gesuchte [447] Trost wird im dritten erhofft, wenn auch noch nicht gefunden: »Ich harre des Herrn, meine Seele harret, und ich hoffe auf sein Wort.« Ergreifend wirkt nach dem trüben G moll der ruhige Anfang des Chors in Es dur, da diese Tonart im vorhergehenden Stücke so gut wie garnicht berührt war. Lange wird jedoch nicht darin verweilt, die im 6. Takte einsetzende Fuge durchwandelt nur Molltöne. In F moll beginnend erhebt sie sich largo über C moll und G moll nach D moll, um sodann nach G moll abschließend zurückzusinken. Dieses sinnvolle Herauftauchen aus dunkleren in hellere Regionen ist aber nur ein einziger Zug des Stückes, das man von allen Seiten nur mit Bewunderung und Rührung betrachten kann. Es gehört zu den schönsten Erzeugnissen Bachs überhaupt: inbrünstigere und edlere Töne der Sehnsucht sind wohl niemals erklungen, reicher und gesättigter kann kein Tonquell sich ergießen. So wie sich von gewissen früheren Claviersonaten Beethovens sagen läßt, daß sie von späteren Werken wohl an Kühnheit des Ideenflugs überboten werden, aber doch des Meisters reine und hohe Künstlerseele schon in vollster Originalität und vollendetster Form ausprägen, so daß man nicht weiß, was weiter zu wünschen wäre, ebenso sind Bachs spätere Chöre wohl viel höher und majestätischer gebaut, aber keiner unter ihnen ist meisterlicher, keiner unmittelbarer das Herz bewegend. Das folgende Beispiel bietet, um wenigstens von dem Thema und der herrlichen Begleitung einen Begriff zu geben, die Anfangstakte:


3.

3.

3.

[448] Wie alles immer reicher sich gestaltet, die Thema-Einsätze immer überraschender, leidenschaftlicher ertönen, das zur Vorstellung zu bringen müßte man die ganze Fuge mittheilen. – Der vierte Satz entspricht dem zweiten: im Alt liegt die fünfte Choralstrophe, im Tenor der sechste Psalmvers, dazu im Continuo einbasso quasi ostinato, wie wir ihn aus Böhms Orgelchorälen kennen lernten. Der Gesang des Tenors ist sehr melodisch und die Gesammtstimmung weniger trüb als im zweiten Satze, wie es psychologisch auch geboten war, doch scheint das Stück etwas zu ausgedehnt, und besonders sind die Zwischensätze zwischen den Choralzeilen so lang, daß man das Gefühl[449] für deren Zusammengehörigkeit verliert. An der Wahl der Choralstrophe fällt noch auf, daß sie im Kirchenliede nur den Vordersatz zur folgenden bildet; man muß sie, wenn sie nicht ganz in der Luft schweben soll, als Nebensatz zum Texte des vorigen Chores auffassen, wobei freilich das »Und« immer unverständlich bleibt. – Der fünfte Satz ist natürlich wieder ein Chor und umfaßt die abschließenden Verse: »Israel hoffe auf den Herrn; denn bei dem Herrn ist die Gnade und viel Erlösung bei ihm. Und er wird Israel erlösen aus allen seinen Sünden.« Da auf dem letzten Gedanken das Hauptgewicht liegt, so hat Bach die vorangehenden wie zur Einleitung in drei durch Tempowechsel unterschiedenen Chorsätzchen behandelt, von denen besonders der mittlere durch herrlichen Ausdruck sich hervorhebt, während der erste mit seinen echoartigen piani und kleinen Imitationen sich mehr in den conventionellen älteren Formen bewegt, und der letzte etwas instrumental zerhacktes hat. Jener Hauptgedanke aber ist zu einer trefflichen, dem Charakter nach ernsten und gefaßten Tripelfuge verwendet; daß ein heller Freudenchor nach allem vorausgegangenen nicht den Schluß bilden dürfe, hat der Componist jedenfalls gefühlt. In der Durchführung von drei Themen aber tritt uns wieder der Instrumentalcomponist entgegen, denn der Text gab dazu durchaus keine Veranlassung. Ist es eine billige Forderung, daß in der Vocalfuge jedes Thema auch einen selbständigen poetischen Gedanken repräsentire, so hat hier Bach einen ästhetischen Fehler begangen. Wenn es aber sein Grundsatz war, das Individuelle der Gesangstimmen möglichst auszulöschen und in ein Allgemeines aufzulösen, so ist er sich hier nur consequent geblieben. Die Berechtigung dieses Grundsatzes für die Kirchenmusik ist selbstverständlich eine volle, und darin besteht ja Bachs einzigartiges Verdienst, daß er in einer Zeit des allgemeinen Gefühls-Egoismus in Kirche und Theater das subjective Wollen zur Demuth beugte vor den Erhabenheiten der Religion. Nur werden doch immer die Menschen nicht gänzlich als Singmaschinen anzusehen sein, und es giebt eine Gränze, die nicht überschritten werden darf. Bach aber beginnt die Fuge so:


3.

[450] verhindert also durch das Zusammenfallen von Worten, die nach einander gehört werden müßten, daß der einzige poetische Gedanke, der das Ganze beherrscht, klar ins Bewußtsein trete. Dies ist ein Uebermaß instrumentaler Anlage, was man nicht gutheißen darf, und man muß es bezeichnend nennen, daß Schüler und Verehrer Bachs Lust verspürten, diese Fuge als bloßes Orgelstück zu executiren81.

Die dritte Cantate ist unter dem Namen Actus tragicus, oder nach ihrem Anfange: »Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit« überall bekannt82. Aus dem Inhalte ergiebt sich ihre Bestimmung für die Todtenfeier eines wahrscheinlich schon bejahrten Mannes, auf den man Simeons Gesang: »Mit Fried und Freud fahr ich dahin« anwenden konnte. Im herzoglichen Hause kam ein solcher Todesfall in jener Zeit nicht vor, denn der Prinz Johann Ernst starb als Jüngling, und auch dann erst, als Bachs Compositionsweise schon eine ganz[451] andre war. Vielleicht galt die Cantate dem letzten Rector der weimarischen Schule vor deren Reorganisation, dem Magister Philipp Großgebauer, dessen Tod in das Jahr 1711 fällt83; ich weiß wenigstens keine andre Veranlassung ausfindig zu machen. Der Gegensatz zwischen alt- und neutestamentlichem Geiste, zwischen dem Zorn des strafenden Gottes und der versöhnenden Liebe Christi, welcher schon im 130. Psalm künstlerisch ausgebeutet wurde, bildet von dieser Cantate so sehr den Kern und Schwerpunkt, daß man sieht: Bach war sich der musikalischen Ergiebigkeit desselben nunmehr voll bewußt geworden. Um deswillen halte ich sie für später geschrieben, als den Psalm, obgleich ihr Chöre von solcher Fülle und Macht, wie dort, nicht eigen sind. Sie hat vielmehr einen ganz intimen, noch viel mehr verinnerlichten Charakter, und dabei einen Tiefsinn und eine Innigkeit, die bis an die äußersten Gränzen des künstlerisch Darstellbaren gehen. Die Anordnung des poetischen Stoffes ist vortrefflich; nicht alles darin besteht aus Bibelstellen und Choralversen, und in einigen frei zugefügten, angemessen ausgedrückten Gedanken möchten wir gern Bachs eignes Werk erblicken. Dann würde auch die poetische Gesammtgestaltung mit Grund ihm zuzuschreiben sein. Eine zartschwebende Sonate (Es dur Molto adagio 3.) für zwei Flöten, zwei Gamben und Continuo, in welcher gewisse Wendungen aus den Mittelsätzen der Cantate vorangedeutet werden, leitet ein; diese Instrumente werden während der Dauer des Werkes durch keine andren ersetzt und geben ihm ein verhülltes und träumerisches Colorit. Der erste Chor: »Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit. In ihm leben, weben und sind wir, so lange er will. In ihm sterben wir zu rechter Zeit, wenn er will«84, drückt zunächst nur das Gefühl der Abhängigkeit von Gott in Leben und Tod aus, und auf dem ersteren Moment liegt gar der größere Nachdruck, da nach wenigen schönen Takten langsamer Bewegung sich über dem zweiten Textsatze eine lebhafte Fuge entspinnt, so recht eindringlich die bunte Beweglichkeit des Erdenlebens schildernd. Erst mit dem letzten Textsatze (Adagio assai 3.), dem nur sieben, aber tief ausdrucksvolle Takte [452] in C moll gegönnt sind, sinken Todesgedanken wie verdüsternde Nebel herab, und nach dem bangen Halbschlusse »wenn er will« erwarten wir unsicher, was kommen wird. In derselben Moll-Tonart (Lento 3.) lenkt nun der Tenor mit den ernsten Worten des 90. Psalms: »Ach Herr, lehre uns bedenken, daß wir sterben müssen, auf daß wir klug werden« den Sinn nachdrücklicher auf unser gemeinsames Menschenloos. Ein traurig klingender Gang der Flöten, von den übrigen Instrumenten getragen:


3.

wiederholt sich – gleichsam eine umgekehrte Ciacona – immer von neuem, wie ein nagender, nie ablassender Gedanke; er bleibt lange in der Haupttonart, wendet sich dann nach G moll und über Es dur nach C moll zurück und bildet das eigentliche Motiv des Ganzen. Der arios gehaltene Gesang flicht sich, von Pausen oft unterbrochen, hinein. Und jetzt naht das bang Erwartete wirklich! »Bestelle dein Haus, denn du wirst sterben und nicht lebendig bleiben«, so tönt es, wie einstmals aus dem Munde Jesaias' zum Könige Hiskia, nun im düstern Gebot des Basses, und augenblickliche Folge heischt der furchtbar ausdrucksvolle Schluß. Und wenn wir im Angesichte der Vernichtung fragen: Warum?, so lehrt der Psalmist: Das macht dein Zorn, daß wir so vergehen, und dein Grimm, daß wir so plötzlich dahin müssen. Denn unsere Missethat stellest du vor dich und unsere unerkannte Sünde ins Licht vor deinem Angesicht. Auf diese finstere Anschauung sich beziehend beginnt der Chor einen neuen Satz, denn das Bass-Solo bildete zu dem Tenor-Solo formell den zweiten Theil, über die Worte aus Jesus Sirach 14, 18: »Es ist der alte Bund: Mensch, du mußt sterben« (F moll Andante 3.). Wir stehen vor dem Hauptstücke des Werks. Drei musikalische Mächte bedingen seine Gestaltung. Zuerst über einem gleichmüthig wandelnden Continuo die drei tieferen Stimmen in Doppelfugirung des eben genannten Spruches. Ihnen gegenüber der Sopran allein mit den Worten der Hingebung und des Verlangens: »Ja komm, Herr Jesu!« Endlich die Flöten und Gamben dreistimmig mit der Melodie des alten Sterbeliedes:


[453] Ich hab mein Sach Gott heimgestellt,

Er machs mit mir, wies ihm gefällt;

Soll ich allhier noch länger leb'n,

Nicht widerstreb'n,

Sein'm Willen thu ich mich ganz ergeb'n85.


Die Absicht ist klar: der Fluch des Todes hat sich durch Christi Erscheinung in Segen verwandelt, und was der Mensch vordem mit Entsetzen floh, dem streckt er jetzt verlangend die Arme entgegen; die Seligkeit des neuen Zustandes erscheint in zauberischer Glorie auf dem dunklen Hintergrund einer überwundenen Religionsanschauung. Dies ist die Idee der concertirenden Singstimmen; und daß Tausende auf Tausende im Glücke dieses Glaubens sich vereinigen, das sagt der nun sich einmischende Choral, in dessen wortlosen Klängen sich für den Verstehenden der ganze Inhalt des so mild vom Trost in Todesnoth redenden Liedes zusammenzieht, Klänge, die in jedem frommen Gemüthe die Summe dessen wachrufen, was er empfand, so oft im Wechsel des Lebens ihm dieser Choral sich darbot, sei es zur Theilnahme an Anderer Leid, sei es um des Herzens eigne Bangigkeit in Gott zu beschwichtigen. Diese Klänge sind es, die den ganzen Gefühlsstrom zu sich aufziehen. Sie bauen einen unsichtbaren Tempel um und über uns her, in dessen Wölbungen der Gesang tausendfältig widerhallt und sich fortsetzt. Freilich in demselben Maße verliert er an Deutlichkeit und wird weniger verständlich. Vor der im 130. Psalm angewendeten Form, welche auch den Choral einer Singstimme zuertheilt, hat diese den Vorzug, daß die contrapunctirenden Singstimmen nicht zu tief ins Instrumentale hinabgedrückt werden, da sie sich Flöten, Geigen oder Oboen gegenüber viel freier geltend machen können. Aber die eigentliche Hauptsache, der Choral, verschwimmt ins Mystisch-Unbestimmte, zumal wenn er wie hier durch Umspielung und Zerdehnung von seinem stetigen Gange oft abweicht, und verflüchtigt mit sich den ganzen [454] übrigen Gehalt. Nur für Stimmungen, welche uns die tiefsten Mysterien des Daseins ahnen lassen sollen, ist die Form wunderbar geeignet, und wahrlich, wer beugte sich nicht vor der Größe des Genius, welcher dem jugendlichen Künstler hier den Weg wies! Vom technischen Standpunkte betrachtet, was ist es weiter, als ein übertragener Orgelchoral in Böhms Manier mit Zwischensätzen aus selbständigen Motiven? Und doch, wie ist die Form so ganz und gar einer neuen, erhabenen Idee dienstbar gemacht; wie ist andrerseits die Idee so völlig in die Form aufgegangen! Diese fordert mit der bei Orgelstücken am wenigsten erläßlichen Consequenz die Wiederkehr des motivischen Materials nach jeder Choralzeile, und eben hierdurch erhält auch das kirchliche Vocalstück sein gattungsgemäßes Gepräge. Die Gegenüberstellung der gesetzhaften und evangelischen Anschauung vom Tode, so könnte man meinen, sei von Bach dahin entwickelt, daß jene, wie sie von dieser in Wirklichkeit besiegt wurde, entsprechend auch im Kunstwerk mehr und mehr zurückgedrängt werde und zuletzt ganz verstumme. Das wäre ein dramatischer Conflict jener beiden Mächte, aber alles dramatische liegt, wie es überhaupt der echten Kirchenmusik fremd ist, gänzlich außerhalb des Gebietes der Bachschen Kirchencantate. Gluck läßt vor dem Gesange des Orpheus die Furien allmählig zurückweichen und ihm das Feld räumen, bei Bach bleibt das drohende Bild des »alten Bundes« bis zuletzt auf dem Platze. Es gilt immer nur die dem Gegensatze entströmende lyrische Gesammtstimmung, ebenso wie in den Choralstücken der Raths-Cantate, des 130. Psalms und überall sonst. Das Streben nach größtmöglicher Intensität des Gefühlsergusses ist es denn auch, was Bach mit dem durch die beschriebenen Mittel Erreichten sich noch nicht begnügen läßt. Einige Momente, die mit dem Kunstmaterial nicht nothwendig zusammenhängen, müssen die beabsichtigte Wirkung vollenden. Zunächst sind die Worte des Soprangesanges der Offenbarung Johannis entnommen (22, 20), diesem Erzeugnisse hochfliegender religiöser Schwärmerei, und leiten die Stimmung derselben mit all ihren geheimnißvollen Schauern auf den bibelkundigen Hörer hinüber86. Und was ist das [455] für eine flackernde Bewegung der tiefliegenden Flöten nach dem letzten Choraltone und der irre Triller, der erstirbt, ohne zum Ende zu kommen?:


3.

»Wenn mein Herz und Gedanken

Zergehn als wie ein Licht,

Das hin und her thut wanken,

Wenn ihm die Flamm gebricht« –


diese Worte eines herrlichen alten Liedes, zu dem vor mehr als hundert Jahren ein weimarischer Cantor, Melchior Vulpius, die Melodie gesetzt hatte87, geben die Antwort. Gewiß! sie waren es, die dem tiefsinnigen Tondichter vorschwebten und ihn zu jenem einzigen Tonbilde inspirirten, wenn die tiefern Stimmen ihren Sterbefluch murmelnd zuletzt in Dreiklängen unter Gegenbewegung der Gamben leise aufwärts ziehen und wie Nebel in Luft zerrinnen, der Sopran aber über den schwächer und schwächer pulsirenden Bässen einsam hängt wie ein schwankender Falter über dem Abgrund, und als endlich alles todtenstill geworden ist, sterbend den Namen »Jesu« haucht. Man erwäge zusammenfassend noch einmal, aus wie vielen Quellen Bach die Gefühlsströme zusammenleitet, um die Stimmung so zu mischen, wie sie seine Phantasie erfüllte. Alttestamentlicher Schrecken, evangelische Tröstung, Erhebung zu kirchlicher Gemeinschaft, verzückte Hoffnung auf unsägliche Herrlichkeit, das ergreifende Bild menschlicher Hinfälligkeit, über wel che dennoch der Geist triumphirt, und als dichter Kern in dieses unstet schillernde Farbenmeer ein fest und einfach gefügter musikalischer Organismus. Wer es vermag, alle diese verschiedenen Elemente zusammenfassend zu empfinden, der wird in seinem Innern Unerhörtes erleben. Aber sicher ist auch, daß bei einer so ausgedehnten Herbeiziehung subjectiver Nebenempfindungen zur Construction eines Kunstwerks von einer allgemeinen Wirkung nicht die Rede sein kann. Wenn Bach [456] kein zweites Stück von dieser Art geschrieben hat, so wußte er, warum?

Der Weg des Trostes ist gezeigt; nun faßt das Vertrauen auf Christi erlösendes Werk immer tiefere Wurzeln. Mit Umschreibung seiner am Kreuz gesprochenen Worte singt der Alt zu unbeschreiblich milden und innigen Weisen: »In deine Hände befehle ich meinen Geist; du hast mich erlöset, Herr du getreuer Gott« (B moll 3.). Nur der Continuo begleitet und stellt mit seinem fünfmal wiederkehrenden Bass-Motiv eine Form her, die aus Ciacone und Böhmschem Orgelchoral combinirt erscheint. Ja! das inbrünstig betende Gemüth glaubt des Erlösers eigne Worte an sich gerichtet zu hören, wenn nun der Bass, wie antwortend und ebenfalls arioso, einsetzt: »Heute wirst du mit mir im Paradiese sein«. Nach dem Empfang dieser Verheißung strömt wie unwillkürlich Simeons Sterbelied aus der beruhigten Brust: »Mit Fried und Freud fahr ich dahin in Gottes Wille«, mit dem sich der Alt dem Basse zugesellt, während dieser seinen herrlich ausdrucksvollen Gesang fortsetzt und zwei hinzutretende selbständige Gamben das Bild vervollständigen. So wird die Einzelempfindung wieder zum kirchlichen Gesammtgefühl geläutert, und dies tritt auch darin noch besonders hervor, daß der Bass den Choral nur bis zur Hälfte seines Weges begleitet, dann verstummt und ihn allein weiter ziehen läßt, da nichts mehr zu sagen ist, was der Choral mit seiner tiefsinnig ausdeutenden Instrumentalbegleitung nicht schon in sich trüge. Hiermit schließt dieser vierte Satz ab, der von dem anfänglichen B moll mit Eintritt der Choral-Melodie nach C moll zurückkehrte, um von da aus den Schlußchor in der Haupttonart zu erreichen. Seine ganze Anlage weist klar darauf hin, daß der Choral nur durch eine Solostimme zu besetzen ist, obwohl neuerdings mehrfach die entgegengesetzte Ansicht laut wurde. Auch Analogien aus andern Cantaten sprechen dafür, z.B. aus »Ein feste Burg ist unser Gott«, wo der choralführenden Stimme Figurirungen vorgeschrieben sind, die nur ein Solosänger ausführt, ganz abgesehen davon, daß mehrfache Besetzung zu der contrapunctirenden Singstimme leicht ein unschönes Verhältniß ergiebt. Im übrigen ist bei solchen Fragen nicht zu vergessen, daß ein so merkbarer Klangunterschied zwischen Solo und Chor, wie wir ihn jetzt gewohnt sind, für Bach überhaupt nicht existirte. [457] Die eigentliche Vocalcapelle hatte nur doppelte Besetzung, und selbst wenn die Ripienchöre der Capellknaben und vielleicht einiger Adjuvanten hinzukamen, was aber nur bei vollen Chorsätzen zu geschehen pflegte, zählte doch sicherlich nie eine Stimme mehr als fünf Repräsentanten. Selbst wenn also Bach mehrfache Besetzung zugelassen hätte, würde eine Chorausführung mit den heutigen Massen dadurch immer noch nicht berechtigt; ebenso würde aber auch eine Benutzung von zwei oder drei Stimmen in solchen Fällen, wenn nur das akustische Ebenmaß nicht gestört wird, ästhetischen Bedenken nicht unterliegen. Das Vivace des Basses »Bestelle dein Haus, denn du wirst sterben« ist sicherlich ebenfalls nur für Solo-Bass beabsichtigt, oder man müßte den vorhergehenden Tenor-Gesang, der formell ganz eng mit ihm zusammenhängt, auch dem Tutti zuschreiben. Man sieht ja gleich, daß das Verhalten beider Stimmen zu einander ganz dasselbe ist, wie im vierten Satze zwischen Alt und Bass. Ueberhaupt weist der Charakter der Cantate größere Massen ab mit etwaiger Ausnahme der Ecksätze, in denen, wenn irgendwo, die Ripienchöre allein mitgewirkt haben werden88. Diese beiden Sätze entsprechen sich in ähnlicher Weise, wie die Sätze 2 und 4, so daß der F moll-Satz als eigentlicher Kern von doppelten, correspondirenden Gliedern eingeschlossen wird. Der letzte Chor besteht aus dem sogenannten fünften Gloria zur Melodie »In dich hab ich gehoffet, Herr«:


Glori', Lob, Ehr und Herrlichkeit

Sei Gott, Vater und Sohn bereit't,

Dem heilgen Geist mit Namen.

Die göttlich' Kraft

Mach uns sieghaft

Durch Jesum Christum. Amen.


Die Behandlung des Chorals ist mit ihren melismatischen Ausschmückungen, Zwischenspielen und der Gestalt des Vorspiels noch jene ältere, die uns aus Buxtehudes Cantaten bekannt wurde. Die Zeilen werden in breiter vierstimmiger Harmonie vorgetragen, die letzte aber dient als Fugenthema; ein Gegenthema auf »Amen« in [458] Sechzehnteln gesellt sich dazu und imAllegro rauscht das glänzende Stück dahin. Durch das spätere Hinzutreten der Instrumente, durch die endliche Vergrößerung des Themas im Sopran wird eine fortwährende Steigerung hervorgebracht. Darnach wird es besonders bemerkbar, daß die letzten Accorde des Chors mit einem instrumentalen Echo im piano verhallen, eine übrigens damals beliebte Schlußart, welche wohl einem Orgeleffect ihren Ursprung verdankt und auch schon in der Hochzeitscantate sich findet. Hier sollen diese Accorde, die, um zur Geltung zu kommen, breit und etwas zurückhaltend vorgetragen werden wollen, dem Hörer die Grundstimmung des Ganzen lebendig erhalten89. Es liegt aber auf der Hand, daß auch in der Stimmung dieser Chor das Gegenbild des ersten ist. Wie dort von dem Leben in Gott ausgegangen wurde, so behält auch hier der Gedanke des Lebens durch göttliche Kraft endlich Recht, wenngleich gedämpft durch den Gegensatz des Todes. Und so soll es sein; die weltabgewendeten Betrachtungen am Grabe eines theuren Entschlafenen sollen wir durch das Bewußtsein sittlicher Lebenspflicht zurückzudrängen lernen.

So steht ein abgerundetes, in allen Theilen fest gefügtes, und von innigster Empfindung bis in die feinsten Spitzen erwärmtes Kunstwerk vor uns. Die Bewunderung, welche es seit seinem erneuten Bekanntwerden allgemein gefunden, erfährt es mit Recht. Mit der zeitlich wie innerlich nahestehenden Cantate »Ich hatte viel Bekümmerniß« ist diese aus den etwa hundert jetzt veröffentlichten Bachschen Cantaten die beliebteste geworden. Ganz naturgemäß hat sich der musikalische Instinct dieser jugendlich weicheren und das Gemüth unumwundener ansprechenden Religiosität eher zugewendet, als der strengen Hoheit späterer Compositionen. Denn nicht durch das Medium der Kirche fand unsere Zeit zu Bach wieder den Zugang, sondern durch das der abstracten Musik: seine Instrumentalcompositionen waren niemals ganz vergessen gewesen. Einen ähnlichen Weg nahm der Meister selbst, der von der Orgel und dem Clavier ausgehend zuerst der persönlich empfundenen älteren Kirchencantate [459] stärkend verallgemeinernden Inhalt zuführte und sich von ihr aus mehr und mehr dann zur kirchlichen Erhabenheit aufschwang. In dieser Uebereinstimmung begründet sich die Hoffnung auf ein fortschreitend wachsendes Verständniß unserer Zeit auch für die spätere Bachsche Kirchenmusik, in welche jene früheren Cantaten gradesweges hineinführen. Freilich, wie dieselben mehr als bloße Vorstufen, wie sie in sich vollendete Kunstwerke sind, so besitzen sie auch gewisse Eigenschaften, welche den nachfolgenden Werken fehlen. Die Texte haben den erheblichen Vorzug, größtentheils aus gehaltreichen Bibelsprüchen und Kirchenliedern zu bestehen, an deren Stelle in der neueren Cantate eine oft sehr wässrige Reimerei trat. Die Musik ist leichter ausführbar, besonders auch wegen der sehr zurückhaltenden Verwendung der Blasinstrumente. Vor allem aber herrscht hier eine Ursprünglichkeit, die auf jede, auch die nebensächlichste Forderung ihr Bestes giebt, die zuweilen vielleicht zuviel thut, aber überall das Gefühl einer unerschöpflichen Kraft erweckt. Nicht nur die einzelnen Gedanken, auch die Gesammtformen, alles ist von Grund aus neu. Man beachte nur die fabelhafte Mannigfaltigkeit und Fülle der Formen, welche unsere drei Cantaten umschließen, und wie diese Formen garnichts bloß beabsichtigtes haben, sondern sämmtlich mit bewundernswerther Kraft ausgestaltet sind. Als Bach sich bald darauf mit der italiänischen Da capo-Arie vertraut gemacht hatte, wurde er einer Kraftverschwendung inne, da er in jener vieles einfacher und darum besser sagen konnte, ohne seiner Originalität etwas zu vergeben, während nach andern Seiten seine Begabung für das Schaffen von Gesammtformen noch offenes Feld genug behielt. Erleichterte er sich hierdurch die Production, so stellte sich doch auch wenigstens die Möglichkeit des Formalismus ein, dem er in Wahrheit freilich höchst selten verfiel, für den aber in seinen älteren Cantaten auch gänzlich die Bedingungen fehlten. Wer diese mit jenen vergleicht und wohl aus ihnen zu begreifen sucht, dem müssen sie wie von allem stofflichen losgelöst in einer Welt für sich schwebend erscheinen. Wenn es gelungen ist, die Stellen nachzuweisen, wo sie dennoch ihre Wurzeln in das damalige musikalische Erdreich einsenken, so ist damit zugleich der Vorwurf der Formlosigkeit entkräftet, der nur mit [460] Uebersehung des historischen Zusammenhanges erhoben werden konnte90.

Fußnoten

1 Mizler, a.a.O. S. 163. Vrgl. Forkel, S. 6.


2 Mattheson, Das beschützte Orchestre. Hamburg, 1717. S. 222, Anmerk. Es ist dies vielleicht das erste Mal, daß Bach litterarisch erwähnt wird.


3 Mizler, a.a.O. S. 172. Vrgl. Gerber, Lexicon I, Sp. 90.


4 Mizler, a.a.O. S. 172. Forkel, S. 20.


5 Die beiden erwähnten Sammlungen sind das Königsberger (offenbar ältere) Autograph und das (spätere) Frankenbergersche. Der betreffende Choral steht P.S. V, C. 6, Nr. 22. Inwiefern schon die Ueberlieferung Walthers an sich eine chronologische Stütze ist, darüber sehe man Nr. 34 des Anhangs A.


6 Mit dem Ausdrucke »Clavier« sind immer nur die Manuale allein gemeint.


7 Ich bemerke hier gelegentlich, daß die Waltherschen Handschriften in einigen Punkten von der Griepenkerlschen Edition abweichen. Da das Autograph Bachs fehlt, so haben Walthers Lesarten wohl die vorzüglichste Autorität, was zum Theil auch aus innern Gründen der Fall ist. Die beiden bedeutendsten Abweichungen bestehen darin, daß die zweite Hälfte des 19. Taktes so lautet:


3.

und daß der Pedalbase von Takt 21 bis 28 eine Octave tiefer liegt.


8 S. Anhang A. Nr. 18.


9 P.S. V, C. 8, Nr. 11; C. 4, Nr. 13; C. 8, Nr. 8. Nur das mittlere Stück ist durch Handschriften der Bachschen Schüler J.L. Krebs und Kittel gut beglaubigt; von den andern lagen neuere Handschriften vor, aber aus innern Gründen kann deren Echtheit nicht angezweifelt werden.


10 P.S. V, C. 8, Nr. 9.


11 P.S. V, C. 8, Nr. 10.


12 Im 10. Takte halte ich die Ueberlieferung für unrichtig: das Fis im Alt und Tenor muß jedenfalls F bleiben. Man vergleiche die Schlußharmonien der D moll-Toccate P.S. V, C. 4, Nr. 4.


13 P.S. V, C. 8, Nr. 5. Aus dem Nachlasse des Hamburgischen Musiklehrers G. Pölchau kam an die königl. Bibl. zu Berlin eine ältere Handschrift derselben mit folgendem Titel: »VIII PRAELUDIA | èd | VIII FVGEN | di. | J.S. BACH. (?)« Unten rechts: »Poss: |C.A. Klein.« Das Fragezeichen, was eben so alt wie der übrige Titel ist, entbehrt meines Erachtens der Begründung.


14 P.S. V, C. 4, Nr. 7.


15 P.S. V, C. 4, Nr. 1, – B.-G. XV, S. 81. Die handschriftliche Ueberlieferung bekräftigt das Resultat der innern Untersuchung. Ein Manuscript aus dem Nachlasse Griepenkerls, jetzt auf der königl. Bibl. zu Berlin, ist jedenfalls autograph und zeigt den ersten Entwurf der Composition, da auch noch andre Passagen wie versuchsweise darauf notirt sind. Den Schriftzügen wie dem Papier nach kann dies Autograph nur aus einer ganz frühen Zeit stammen.


16 P.S. V, C. 3, Nr. 10. – B.-G. XV, S. 100.


17 Die Taktzählung nach Griepenkerls Ausgabe. In der Ausgabe der Bach-Gesellschaft ist der, kritisch allerdings bedenkliche, 18. Takt des Praeludiums gestrichen.


18 Der aber aufs schwerste geschädigt wird, wenn man den Mordent so ausführt:


3.

wonach das Ohr h für die Tonika zu halten gezwungen wird. Nur durch diese Ausführung:


3.

wird das durchaus geforderte Gefühl der schwebenden Quinte klar geweckt. – Ich bemerke gleich noch, daß auch in dieser Fuge, im 19. Takt, das Pedal nach längerer Pausirung nur mit harmoniestützenden Tönen eintritt. Außer den bis jetzt aufgeführten Fällen kommt diese Licenz in späteren Bachschen Orgelfugen nicht mehr vor.


19 P.S. V, C. 4, Nr. 4. – B.-G. XV, S. 267.


20 P.S. V, C. 4, Nr. 2.


21 P.S. V, C. 4, Nr. 3. – B.-G. XV, S. 88.


22 Mizler, S. 172.


23 S. Griepenkerls Vorrede zum 4. Bande der Peters'schen Ausgabe S. III.


24 Diese Variante ist von Griepenkerl im Anhang des betreffenden Bandes mitgetheilt.


25 P.S. V, C. 3, Nr. 5. – B.-G. XV, S. 112.


26 P.S. V, C. 2, Nr. 8. – B.-G. XV, S. 189.


27 P.S. V, C. 4, Nr. 1.


28 Walther, Lexicon S. 331. Das Compendium ist kürzlich wieder ans Licht gekommen; s. Monatshefte für Musikgesch. IV, S. 165 ff.


29 Walther in Matthesons Ehrenpforte S. 389.


30 Walther, Lexicon S. 596.


31 Mattheson, Große General-Bass-Schule (1731) S. 409. Etwas ungenauer ist die Sache in der ersten Auflage des Werkes erwähnt (Exemplarische Organisten-Probe. 1719. S. 203). – Constantin Bellermann sagt (Parnassus Musarum S. 37) bei Aufzählung der musikalischen Potentaten: »nec non et Comes de Buckeburg, et Jo. Ernestus Princeps filius Ducis Sax. Vinar. qui modos musicos fecerunt, hanc Poecilen exornant«.


32 Im Autograph auf der königl. Bibliothek zu Berlin. Die beiden Albinonischen Concerte sind das vierte und fünfte aus dessen Sinfonie e Concerti a cinque, due Violini Alto Tenore Violoncello e Basso, opera seconda. Von Taglietti zählt Walther im Lexicon elf Werke auf und bemerkt, dieselben seien alle vor 1715 erschienen. Daß ihm bei Abfassung des Lexicons dieses Jahr, das Todesjahr des Prinzen Johann Ernst, wieder in den Sinn kam, enthält die Andeutung, daß er nach demselben aufgehört habe, sich mit jener Kammermusik eingehender zu beschäftigen.


33 P.S. I, C. 10, und S. V, C. 8, Nr. 1–4. Man sehe dazu die Vorreden der Herausgeber.


34 Wasielewski, Die Violine und ihre Meister. Leipzig, Breitkopf und Härtel, 1869. S. 60 ff.


35 Es befindet sich handschriftlich in der Musikaliensammlung des Königs von Sachsen zu Dresden.


36 Die Dresdener Handschrift giebt ihm die Bezeichnung Allegro assai.


37 P.S. I, C. 10, Nr. 13 und S. V, C. 8, Nr. 4. S. Anhang A. Nr. 19.


38 Im zweiten Theile der »Clavierübung«; B.-G. III, S. 139.


39 Dasselbe besitzt in alter Handschrift Herr Dr. Rust. Was Forkel S. 23 von Bachs ersten Claviercompositionen sagt, paßt ziemlich genau auf gewisse Stellen dieses Concerts, so daß ihm vielleicht bestimmte Fälle vorgeschwebt haben. Wenn er aber weiter behauptet, daß jener von dem wilden Wesen, was er eine Zeitlang auf dem Claviere getrieben habe, durch das Studium von Vivaldis Werken zurückgekommen sei, so gilt das wohl für Compositionen der betreffenden Gattung, deren er vielleicht eine ziemliche Anzahl schon in frühester Zeit machte, ist aber in seiner Allgemeinheit unrichtig. In allem, was mit dem Bau eines polyphonen Stückes zusammenhängt, konnte Bach nichts von Vivaldi lernen. Auch setzt damit Forkel die Beschäftigung mit den Concerten dieses Italiäners in eine viel zu frühe Zeit.


40 P.S. V, C. 3, Nr. 8. – B.-G. XV, S. 253.


41 P.S. I, C. 13, Nr. 3.


42 P.S. I, C. 9, Nr. 2. Das Stück existirt in einer Handschrift J.P. Kellners, wo es das Datum 1725 trägt. Es hat eine ziemlich merkbare innere Verwandtschaft mit jener großen A moll-Fuge, welche sich im Buche des Andreas Bach findet (P.S. I, C. 4, Nr. 2).


43 B.-G. XVII, S. 223.


44 Diese merkwürdige Reliquie befindet sich auf der Bibliothek des königl. Instituts für Kirchenmusik in Berlin.


45 Zum ersten Male nachgewiesen ist dies interessante Verhältniß von Ambros, Geschichte der Musik, Bd. III (Breslau, Leuckart, 1868), S. 533 ff. Vrgl. Bd. II, S. 506. Eine Auswahl aus jenen Fiori musicali Frescobaldis ist herausgegeben von Fr. Commer (Compositionen für die Orgel aus dem 16., 17., 18. Jahr hundert. Leipzig, D.H. Geissler. Heft 1.). In ihr finden sich auch zwei Canzonen, wodurch eine Vergleichung mit Bach ermöglicht wird.


46 P.S. V, C. 4, Nr. 10.


47 Im vierten Abschnitt des zweiten Buches.


48 P.S. V, C. 8, Nr. 6. – Ein ähnliches Stück von Pachelbel bei Commer, Musica sacra I, S. 137, wird man nicht ohne Interesse vergleichen.


49 P.S. V, C. 4, Nr. 6. Das einstweilen verschollene Autograph nannte, nach Griepenkerl, Legrenzi als Erfinder des Themas nicht, aber die verläßliche Quelle des Andreas Bachschen Manuscripts zeigt die Aufschrift: »Thema Legrenzianum elaboratum cum subjecto pedaliter«. Mit dem subjectum ist das selbständige Gegenthema gemeint.


50 Gerber, N.L. I, Sp. 786.


51 P.S. V, C. 4, Nr. 8. Die Sonate findet man in der neuen Ausgabe der Werke Corellis von J. Joachim (Denkmäler der Tonkunst III. Bergedorf bei Hamburg, 1871) S. 142–147.


52 Gerber, L. I, Sp. 492.


53 Beide finden sich in den Suonate | a tre | doi Violini, e Violoncello | col Basso per l'organo | da | Tomaso Albinoni | Musico di Violino diletante Veneto. | Opera prima |. Hier sind es die zweiten Sätze der dritten und achten Sonate.


54 P.S. I, C. 13, Nr. 10. Wenn sie sich auch in G dur findet, so stellt sich das hiermit als Transposition heraus.


55 Die zweite Bearbeitung von Bachs Fuge steht P.S. I, C. 3, Nr. 5, die erste im Anhange dazu. Albinonis Fuge ist als Beilage 2 vollständig mitgetheilt.


56 Das Q als dritte Note des Gefährten (Takt 3) halte ich aber für ein in der handschriftlichen Vorlage verschriebenes 3.. Es war kein Grund, von diesem cis abzuweichen, was Albinoni hat und Bach selber Takt 12, 37 und 68, und überall in der zweiten Bearbeitung; Q dissonirt außerdem unangenehm mit dem contrapunctirenden 3..


57 S. Anhang A. Nr. 20.


58 P.S. I, C. 13, Nr. 2. Die Zahl der Variationen ist nicht in allen Quellen gleich. Der beste Gewährsmann, Andreas Bach, hat ihrer zehn.


59 Man vergleiche z.B. das H moll-Concert Nr. 8, und besonders dessen Anfang mit der 9. Variation.


60 P.S. I, C. 13, Nr. 4.


61 P.S. I, C. 13, Nr. 9.


62 P.S. I, C. 9, Nr. 13.


63 P.S. I, C. 9, Nr. 15.


64 Handschriftlich aus dem Westphalschen Nachlasse jetzt auf der königl. Bibl. zu Berlin, sign. P. 291, 34, erstes Stück. Ich wüßte nichts, was gegen ihre Echtheit spräche. Sie ist noch unveröffentlicht; ihr Thema im thematischen Verzeichniß der Instrumentalwerke Anhang I, 19.


65 Die Abschrift ist auf der königl. Bibl. zu Berlin und führt folgenden Titel: »Jova Juva | Praeludium ex c dis [= es, d.h. c moll] | di Joh: Seb: Bach. |« Unten rechts: »Joh. Ch: Schmidt | Hartz p.t. org. | d. 9 9br. 1713. |« »Hartz« kann Hartzungensis, Hartzburgensis, Hartzgerodanus oder anderes bedeuten; ich habe über die Person des Schreibers, der übrigens sehr fehlerhaft copirt hat, nichts herausbringen können. Dasselbe Stück findet sich noch einmal und sorgfältiger geschrieben bei Andreas Bach, Blatt 71b und 72a, aber ohne den Namen des Componisten und zeigt nicht die Handschrift der übrigen Bachschen Stücke.


66 Es ist veröffentlicht P.S. I, C. 13, Nr. 1. unter dem Titel Fantasia, obgleich es in zwei Handschriften ebenfalls die Ueberschrift Praeludium trägt.


67 P.S. V, C. 4, Nr. 4.


68 Eine ganz ähnliche harmonische Wendung findet sich schon in der letzten der italiänischen Variationen (im vorletzten Takt); ein neuer Beleg dafür, daß beide Werke in dieselbe Schaffensperiode fallen.


69 In dem autographen »Clavier-Büchlein vor Wilhelm Friedemann Bach«.


70 P.S. I, C. 13, Nr. 5.


71 P.S. I, C. 13, Nr. 7. Der Ansicht von Roitzsch, daß die H moll-Fantasie für Orgel bestimmt sei, glaube ich nicht unbedingt beistimmen zu dürfen. Der vereinzelte Gebrauch tiefer Pedaltöne, wie in Takt 15–24, kommt zur Zeit von Bachs Reife – und dahin muß das Stück doch jedenfalls verlegt werden – nur noch bei Clavierwerken vor, wenigstens haben meine Beobachtungen mich durchaus zu diesem Ergebniß geführt. Mir scheint auch der leichte und minutiöse Charakter des ersten Satzes der Orgel nicht angemessen.


72 Handschriftlich aus dem Fischhoffsehen Nachlasse auf der königl. Bibl. zu Berlin.


73 P.S. I, C. 9, Nr. 3.


74 Ich spreche kurz nur von »Toccate« und »Fantasie«, denn der Zusatz »con Fuga« hat keine Berechtigung, da in allen diesen Stücken mehre Fugen vorkommen, und erweckt den Schein, als sei alles übrige nichts, als Vorbereitung auf die Schlußfuge. Ich bin auch überzeugt, daß dies im Sinne Bachs geschieht, da er z.B. der großen Fis moll-Toccate (von welcher später) eigenhändig nur diesen einen Gesammtnamen gab; s. die Peterssche Ausg. S. I, C. 4, Nr. 4 mit der Bemerkung von Griepenkerl.


75 Eine aus Kittels Auction erstandene, und wahrscheinlich von ihm selbst gefertigte Abschrift auf der königl. Bibl. zu Berlin trägt den Titel: »Toccata Prima. ex Clave D.b. manualiter. per J.S. Bachium.« Anordnung der Worte und Interpunction sind so, daßprima nur ganz allgemein auf Toccata bezogen werden kann, nicht etwa auf die Angabe der Tonart. Veröffentlicht ist das Werk P.S. I, C. 4, Nr. 10, jedoch in einer Gestalt, welche eine zweite Bearbeitung durch die Hand des Componisten verräth. Die alte von C. Czerny bei C.F. Peters besorgte Ausgabe scheint die erste Gestalt darzubieten. Namentlich geht dies aus Takt 18 und 19 des ersten Fugensatzes hervor, welche hier fehlen und doch für die Klarlegung der Entwicklung so sehr nothwendig sind. Einiges beruht bei Czerny offenbar, bei Griepenkerl vielleicht nur auf Schreibfehlern ihrer Vorlage.


76 P.S. I, C. 9, Nr. 1.


77 P.S. I, C. 4, Nr. 3. Griepenkerl hatte die zu Grunde liegende Form nicht erkannt und urtheilt deshalb in der Vorrede unrichtig über das Werk.


78 Aus C moll, P.S. V, C. 4, Nr. 9.


79 Meine Kenntniß beruht bis jetzt nur auf der in der königl. Bibl. zu Berlin befindlichen Handschrift; eine andre, vermuthlich ältere, befindet sich noch im Hauserschen Nachlasse.


80 Eine saubere Copie, welche aus der Sammlung des Grafen von Voss-Buch stammt, befindet sich auf der königl. Bibl. zu Berlin, sign. P. 49; in derselben scheint die Oboe für eine B-Clarinette umgeschrieben zu sein. Von der Existenz eines Autographs habe ich noch keine Kunde. Einige sehr tiefe Töne des Singbasses, z.B. D und C, erklären sich wohl aus der hohen Stimmung der weimarischen Schloßorgel.


81 Veröffentlicht nach Handschriften von Kittel und Dröbs P.S. V, C. 8, Nr. 12. Vom Componisten selbst rührt das dürftige Arrangement auf keinen Fall her, was nur die Singstimmen und oft nicht einmal diese alle oder unverändert wiedergiebt, während im Original nicht allein der Continuo oft ganz selbständig ist, sondern auch die Instrumente in durchgreifender Weise sich an der Fugirung betheiligen. In den vier Schlußtakten hat der Uebertrager auf die Einleitung zurückgegriffen, dieselben sind im Original ganz abweichend.


82 Kirchen-Musik von Joh. Sebast. Bach, herausg. von A.B. Marx. Bonn bei N. Simrock. Nr. 6.


83 A. Wette, Historische Nachrichten u.s.w. S. 418.


84 Nur der mittlere Satz größtentheils ist biblisch (Apostelg. 17, 28). Ob das Uebrige ganz frei erfunden ist oder irgendwo Anhaltepunkte hat, weiß ich nicht.


85 Es ist nicht die Melodie in ihrer allgemein gebräuchlichen Gestalt, sondern eine Umbildung derselben, die auch Dretzel (Des Evangelischen Zions Musicalische Harmonie. Nürnberg, 1731. S. 698 drittes System) anführt, und deren erste Zeile mit der Weise »Warum betrübst du dich, mein Herz« ganz übereinstimmt. Einen Irrthum begeht Mosewius, Joh. Seb. Bach in seinen Kirchencantaten und Choralgesängen. Berlin, T. Trautwein. 1845. S. 13.


86 Daß jene vier Worte auch ohne Hinblick auf Biblisches gesetzt sein können, ist natürlich nicht unmöglich und ich kann meine Behauptung nicht anders beweisen, als durch Berufung auf mein persönliches Gefühl. Doch bin ich von ihrer Richtigkeit fest überzeugt. Man lese die beiden letzten Capitel der Offenbarung einmal nur auf den allgemeinen poetischen Eindruck hin und gehe dann an die Bachsche Musik – und urtheile selbst.


87 »Christus der ist mein Leben«, von einem unbekannten Dichter.


88 Es ist zu bedauern, daß sich garkeine autographen Reste erhalten haben, die doch nach dieser Seite hin vielleicht Aufklärung geben könnten.


89 In der Marx'schen Ausgabe steht das piano nur bei den Instrumenten; es gilt natürlich auch für das letzte »Amen« des Chors, so lange auf Analogien und innere Gründe noch etwas zu geben ist.


90 In einem Briefe an O. Jahn (mitgeth. Grenzboten, Jahrgang XXIX. S. 95 f.) sagt M. Hauptmann, begründetes Lob mit unbegründetem Tadel vermischend: »– Da ward gestern im Euterpeconcert Bachs ›Gottes Zeit‹ aufgeführt; was ist das für eine wundervolle Innerlichkeit, kein Takt Conventionelles, Alles durchgefühlt. Von den mir bekannten Cantaten weiß ich keine, in der für die musikalische Bedeutung und ihren Ausdruck Alles und Jedes so bestimmt und treffend wäre. Wollte man und könnte man sein Gefühl aber für diese Seite der Schönheit einmal verschließen und das Ganze als ein musikalisch-architektonisches Werk betrachten, dann ist es ein curioses Monstrum von übereinander geschobenen, ineinander gewachsenen Sätzen, wie sie die ebenso zusammengewürfelten Textphrasen sich haben zusammenfügen lassen, ohne alle Gruppirung und Höhenpunct« u.s.w. Andre Aeußerungen Hauptmanns über die Cantate in seinen Briefen an Hauser (Leipzig, Breitkopf und Härtel) I, 86 und II, 51. Daß Mendelssohns eminentes Kunstgefühl das Verhältniß zu den späteren Bachschen Cantaten sicher herausfand, ist höchst bemerkenswerth (Briefe II, 90).

Quelle:
Spitta, Philipp: Johann Sebastian Bach. Band 1, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1873.
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