VI.

Joh. Michaels einziger Sohn starb bald nach seiner Geburt, aus Joh. Christophs Ehe gingen vier männliche Sprößlinge hervor, von denen der älteste die größte Bedeutung erlangte. Dieser, Johann Nikolaus, wurde 1695 Stadt- und Universitäts-Organist in Jena und starb dort am 4. Nov. 1753, nachdem er 84 Jahre alt geworden war und 58 Jahre seinem Berufe obgelegen hatte, der kraftvolle letzte Zweig der reichbegabten Linie, und lange Zeit hindurch Senior des ganzen Geschlechts1. Er vermählte sich 1697 mit der Tochter eines Jenenser Goldschmidts: Anna Amalia Baurath; diese starb am 14. April 1713, und schon am 13. Oct. desselben Jahres schloß [129] er eine zweite Ehe mit Anna Sibylla Lange, der Tochter eines einstmaligen Pastors zu Isserstedt. Von den zehn Kindern, welche ihm mit der Zeit geboren wurden, starb die Hälfte ganz früh, von den Söhnen brachte es nur Johann Christian zu erwachsenen Jahren (1717–1738)2; den Vater überlebte keiner. Nikolaus Bach war seinen Zeitgenossen als fleißiger Suitencomponist bekannt, und wir müssen uns mit Reproduction dieser Aussage begnügen3. Es liegt aber noch eine Messe von ihm vor, die ihn auch nach andrer Richtung hin als ein beträchtliches Compositionstalent erscheinen läßt und als einen Künstler, dessen Gediegenheit ihn seines großen Vaters würdig machte4. Sie ist eine kurze Messe, umfaßt also nur Kyrie und Gloria; ersteres in E moll, letzteres in G dur; Besetzung: 2 Violinen, 2 Violen, Canto, Alto, Tenore, Basso, Orgel und Bässe; im Gloria tritt noch eine neue Vocal- oder Instrumental-Stimme hinzu. Das Werk ist sowohl nach Inhalt wie wegen seiner technischen Vollendung von großem Interesse. Es lehnt sich im Stil, melodisch, harmonisch wie rhythmisch, an die damaligen italiänischen Meister an, vor allem an Antonio Lotti, auch in der sang- und dankbaren Behandlung der Singstimme und in der Instrumentirung (2, einmal sogar 4 Violen); trägt demnach auch vorwiegend den Charakter allgemeiner Fest- und Feierlichkeit, nicht den subjectiv-religiöser Andacht. In das gesammte Gloria ist nun aber der Choral eingewebt, welcher im protestantischen Cultus dasselbe vertreten sollte: »Allein Gott in der Höh sei Ehr«, und zwar je eine Strophe zu den vier Sätzen:Gloria in excelsis deo; Laudamus te, benedicimus te; Domine fili, unigenite; Quoniam tu solus sanctus. Die Schlußfuge: Cum sancto [130] spiritu ist ohne Choral. Hier ist also ein ausschließlich deutschprotestantisches Element eingemischt, dessen Behandlung auch nur nach der von den protestantischen Componisten ausgebildeten Weise geschehen konnte. Es sind somit zwei ganz verschiedene Stilgattungen zu einem Ganzen verschmolzen. Der Charakter des betreffenden Chorals erleichterte hier die Aufgabe, von der man sagen muß, daß sie von Nikolaus Bach vollständig und mit meisterlicher Beherrschung der Technik gelöst ist. Die Choralmelodie steht in der Sopranhöhe, sie möchte jedoch wohl nicht ursprünglich für eine Singstimme, sondern für ein Instrument, etwa Trompete oder Horn gesetzt sein, denn ein Sopran würde unter dem fast immer darüber hinausgehenden Sopran und Alt des vierstimmigen Chors unhörbar werden. Erst später wird man einen solchen den wirklichen Choral haben singen lassen, wie es in der mir vorliegenden Partitur steht, in welcher auch, da die Vermischung von deutschem und lateinischem Text anstößig erscheinen mußte, eine lateinische, sich reimende Uebersetzung des Kirchenliedes beigegeben ist. Es ist also dasselbe Verfahren, was Sebastian Bach imKyrie der F dur-Messe angewendet hat, wo zu dem Chor in den Hörnern der Choral: »Christe, du Lamm Gottes« ertönt, hier allerdings so viel kunstvoller und complicirter, als der deutsche Stil den italiänischen an Tiefsinn und Innigkeit überragt5. Es ist merkwürdig genug, die beiden Vettern hier an ein und derselben Aufgabe so ganz verschiedene Kunstrichtungen vertreten zu sehen. Nikolaus Bach hatte nach dem Vorbilde seines Vaters die italiänischen Meister eines eingehenden Studiums gewürdigt und durch Verbindung ihrer Errungenschaften mit der heimischen Musik auch in dieser Messe etwas eigenthümliches zu schaffen gewußt. Im allgemeinen muß man jedoch sagen, daß das Wesen des protestantischen Chorals sich nicht mit dem italiänischen Kirchenstile verträgt, und daß das Experiment vielleicht eben nur mit dieser Melodie, ihrem Charakter nach glücken konnte. Wollte Nik. Bach in dieser Weise zur höchsten Kunsthöhe gelangen, so mußte er den Weg einschlagen, welchen Händel nahm, er mußte [131] den protestantisch-kirchlichen Standpunkt und dessen ganz nach Innen gekehrtes Wesen verlassen, und den freien Ausblick allgemein menschlicher Betrachtung zu gewinnen suchen. Dies versagte ihm seine Lebensstellung, vielleicht auch schon seine ursprüngliche Anlage. Im andern Falle nützte der italiänische Stil nichts, und der einzige Pfad, welcher zum Ideale hinanführte, war der, welchen sein großer Vetter Sebastian verfolgte, indem er an der deutschen Orgelkunst einen eignen Vocalstil sich heranbildete. Aber, wie gesagt, die Meisterschaft, mit der diese Messe componirt ist, ist eine vollendete; sowohl in dem nicht sehr ausgedehnten Kyrie, dessen letztes, vortreffliches Fugato ohne weiteres Lotti gemacht haben könnte, als auch in dem vielsätzigenGloria. Hier verdient es besonders Bewunderung, mit welcher Selbständigkeit der vierstimmige Chor die Choralmelodie umrankt, wie reich die Erfindung ist, wie bestimmt und mannigfaltig der Ausdruck der so verschiedenen und doch durch die stete Wiederkehr des Chorals gebundenen Gedanken. Eine glänzende Fuge krönt das Werk, von dem schon des besondern historischen Interesses wegen zu wünschen wäre, daß es wieder allgemeiner bekannt würde, und das zuverlässig auch heute noch seiner vollen Wirkung sicher ist.

Der Zufall hat es gefügt, daß wir dieser Composition, die uns in eine Welt heiliger Ideale führen soll, ein andres Werk desselben Meisters gegenüberstellen können, welches gänzlich auf den derbsten Realismus gegründet ist: ein komisches Singspiel. Und dieser Zufall darf ein besonders glücklicher genannt werden, denn er fügt in das Bild vom Wesen und Treiben des Bachschen Geschlechtes, das wir hier zu entrollen versuchen, mit kräftiger Hand einen Zug, der zur wahrheitsgetreuen Vollendung nicht fehlen darf. Wie sehr auch der Sinn dieser Leute den hehrsten und ernstesten Dingen zugewendet war, sie standen doch mit ihren gesunden Füßen fest auf der Erde, sie bewahrten sich die Fähigkeit, in der menschlichen Beschränktheit sich zeitweilig behaglich zu fühlen, und für die heitern und komischen Seiten des sie umgebenden gewöhnlichen Lebens Auge und Verständniß zu haben. Daß, je transcendenter der Flug des Geistes und der Phantasie war, desto dringender hernach für jeden normal geschaffenen Menschen das Bedürfniß hervortritt, sich auch einmal recht ausgelassen in der irdischen Atmosphäre herum [132] zu tummeln, dies ist ein Erfahrungssatz, den das Leben all unserer großen Künstler bestätigt. Dem ganzen Bachschen Geschlechte ist die zeitweilige herzliche Freude an derben, muthwilligen Possen eigen gewesen. Wüßten wir dies nicht auch sonst aus guter Quelle, so wäre schon der Umstand, daß neben den im Dienst der Kirche und Schule stehenden Bachs so viele von ihnen sich dem leichtlebigen Kunstpfeiferthum zuwandten, Beweis genug dafür. Bei diesen Kunstgenossen setzt man einen solchen Zug schon von selbst voraus; daß er aber auch den andern nicht fehlte, zeigt uns, ehe wir es aus Sebastian Bachs eignen Werken erfahren, die mit Behagen geschriebene Burleske seines Vetters Nikolaus. Sie führt den Titel: »Der jenaische Wein-und Bierrufer«6, und ist eine lustige Scene aus dem Studentenleben, den Kunstformen der damals blühenden und besonders in Hamburg gepflegten deutschen Oper angepaßt. Die Aufführung hat natürlich auch bei irgend einer besondern Gelegenheit durch Studenten stattgefunden. Der einfache Inhalt ist folgender: Ein Preislied auf Jena, den Musensitz, singend, ziehen zwei junge Studenten, Peter und Clemon, zum Thore herein, von denen der zweite ein »crasser Fuchs« ist. Sie haben große Angst vor dem Prellen der jenensischen Burschen und beschließen, bei dem Wirthe Caspar einzukehren, der ein Landsmann beider und dem Peter von früher schon bekannt sei. Derselbe nimmt sie auf, setzt sich durch die Arie: »Ein Fuchs ist gar ein närrisch Thier, er kommt mir wie ein Affe für« den schüchternen Jünglingen gegenüber in Position, und beginnt ein herablassend-cordiales Gespräch mit ihnen. Der »grüne« Clemon ist eben dabei, die wichtigen Neuigkeiten aus der Heimath auszukramen: »Der Vater hat den Rock gewandt, die Mutter hat den Pelz verbrannt«, als man auf der Straße den Rufer »einen guten Fernewein« ausschreien hört. Dies erregt Aufmerksamkeit, und der Ausrufer verkündet in einer Arie mit komischer Würde seinen Stand und Charakter. Der Wirth fügt hinzu, es sei ein »ehrlicher Philister«, der aber viele Hänseleien erdulden müsse, und durch sein Schimpfen und Fauchen das allgemeine [133] Ergötzen sei. Der weitere Verlauf gestaltet sich nun so, daß der kecke Peter, zuletzt auch der furchtsame Clemon nebst dem Wirthe ans Fenster treten und durch Neckereien an dem wiederholt vorübergehenden Ausrufer ihr Müthchen kühlen; dieser versteht schlagfertig und zwar derb und cynisch zu antworten. Endlich artet die Sache aus, es kommt zu Thätlichkeiten und der Rufer droht die Füchse beim Rector zu verklagen. Sie bekommen Angst und entfernen sich; eine lustige vierstimmige Arie macht den Schluß, die das Treiben der Studenten in Jena besingt. Der Schwank mag an seinem poetischen Theile von einem solchen herrühren, er ist offenbar mitten aus dem dortigen Burschenleben gegriffen, und besonders scheint der Ausrufer Johannes auf eine ähnliche Persönlichkeit des damaligen Jena hinzudeuten. Von demselben Realismus ist die Musik, zumal in den Recitativen, welche den Verlauf der Handlung begleiten; die Art, wie Bach den Johannes ausrufen läßt, ahmt in possirlicher Weise den wirklichen Tonfall solcher Leute nach, die kurz hineingeworfenen Neckereien der am Fenster lauernden Schelme sind eine sehr gelungene Sprechmusik, und ergötzlich ist es, wie der Alte im raschesten Sprachtone seinen Angreifern bei Seite zu dienen weiß und ohne nur Athem zu schöpfen in seiner öffentlichen Beschäftigung fortfährt. Das Vergnügen, mit der hier der Componist die komische Wirklichkeit copirt hat, ist unverkennbar, wie er denn überhaupt mit der Studentenschaft in sehr gutem Einvernehmen gelebt haben muß. Aber es bleibt doch alles maß- und formvoll; Bach hat keinen Augenblick vergessen, daß er Künstler war, ebenso wie auch Mozart in derartigen Späßen sich der Naturwahrheit bis aufs äußerste nähern konnte und doch immer Musik machte. Die eingestreuten Arien, in denen die Musik zu ihrem vollen Rechte kommen soll, sind in jenen kleinen Formen der damaligen deutschen Oper gehalten, welche zwischen dem deutschen Liede des 17. Jahrhunderts und der italiänischen entwickelten Arie in der Mitte stehen, sie zeigen viel Frische, oft eine barocke Possenhaftigkeit und sehr gute Mache.

Von N. Bachs Fertigkeit als Spieler haben wir keine Nachricht, und von seinen Orgelcompositionen war nur eine zweistimmige Behandlung des Chorals »Nun freut euch, lieben Christen g'mein« im Pachelbelschen Stile aufzufinden, die zur Begründung [134] eines Urtheils zu klein und unbedeutend ist7. Was aber noch mehr als seine Compositionen ihm Ruf erworben hat, war eine hervorragende Tüchtigkeit und Erfindsamkeit im Instrumentenbau. Als Jakob Adlung, später Professor an der Erfurter Akademie und Organist an der Predigerkirche daselbst, in Jena studirte, gestattete Bach dem strebsamen, aber mittellosen Jünglinge, sich zuweilen auf seiner Orgel zu üben. Dadurch scheint eine nähere Bekanntschaft beider vermittelt zu sein, und Adlung hat durch eine häufige Erwähnung Bachs in seinen Schriften diesem seine Gefälligkeit vergolten und der Nachwelt manch bedeutsamen Zug aus dessen Wirksamkeit aufbewahrt. Die Jenenser Stadtkirche erhielt im Jahre 1706 eine neue Orgel mit drei Manualen und Pedal, im ganzen 44 Stimmen. Diese Orgel wurde nach Bachs detaillirter Disposition und unter seiner steten Oberaufsicht von einem Orgelbauer Sterzing gebaut8. Zu derselben Zeit studirte Johann Georg Neidhardt, der um die Herstellung einer gleichschwebenden Temperatur verdiente Musiker und nachmalige Capellmeister in Königsberg, in Jena Theologie. Schon damals beschäftigte er sich viel mit der zweckmäßigsten Vertheilung des ditonischen Kommas, worin er sich im wesentlichen an Andreas Werkmeister anschloß. Die gleichschwebende Temperatur der Orgel meinte er am sichersten zu erreichen durch Einstimmung nach dem Monochord, einem mit einer Saite bespannten schmalen Kasten, auf dessen Decke die Proportionen der Intervalle mit Rücksicht auf die Vertheilung des Kommas mathematisch genau eingezeichnet waren, so daß durch Unterschiebung eines Stegs an den betreffenden Stellen jedesmal der geforderte Ton mit Sicherheit erzeugt werden könnte. Er bat nun um Erlaubniß, diese Stimm-Methode an der neuen Orgel anwenden zu dürfen, und erhielt sie wenigstens zu einem Versuch. Bach ließ ihn nämlich das Gedackt eines Claviers nach dem Monochord stimmen, während er selber das eines andern Claviers nur nach dem Gehör stimmte. Als man darauf die Wirkung probirte, klang Bachs Gedackt gut und das Neidhardts schlecht; dieser wollte das Ungenügende seiner Methode [135] noch nicht zugeben, aber man holte einen festen Sänger herbei, ließ ihn einen Choral in dem entlegenen B moll anstimmen, und er traf mit der Bachschen Stimmung über ein. Neidhardt hatte nicht bedacht, daß der Ton der Saite beim Anschlag etwas höher erklingen mußte als nachher und dadurch unbestimmt wurde, auch nicht, wie leicht sich eine solche Saite verstimmt. Für Bach aber beweist der Vorgang, daß er, obgleich in mechanischen Dingen höchst erfahren, doch auch grade Künstler genug war, um sich mehr auf sein Gefühl, als auf die graue Theorie zu verlassen. Allerdings hatte das Temperiren nach dem bloßen Gehör für ungeübtere Ohren etwas sehr mühsames. Und so kam er auf den Gedanken, die aus dem Wesen der Saite erwachsenden Mängel des Monochords zu beseitigen, mit Beibehaltung des mathematischen Maßstabes. Hierzu sollte eine Pfeife von überall gleicher Weite dienen, die er sich über einem gut gearbeiteten, den Wind gleichmäßig ausströmenden Balge stehend dachte. Dann sollten auf einem genau in die Pfeife passenden Cylinder die Entfernungen der Intervalle eingezeichnet sein, und nun durfte der Cylinder nur jedesmal bis zu dem betreffenden Punkte in die Pfeife eingeschoben werden, damit der gewünschte Ton erklang9. Die praktische Brauchbarkeit dieses Gedankens scheint aber durch die Schwierigkeit verhindert zu sein, welche die größere oder geringere Dehnbarkeit alles Holzes mit sich bringt. – Bachs Ruf als Kenner des Orgelbaus war, wie gesagt, bedeutend, und andre Organisten holten sich Rath von ihm. Wenn man liest, wie viel in jener Zeit über unkundige und beschränkte Organisten geklagt wird, so werden diese Herren wohl oft der Anweisung bedürftig gewesen sein. Einer hatte von Bach einmal Billigung verlangt für die wunderliche Ansicht, daß, wenn man im Manual mit einem sechzehnfüßigen Principal spiele, im Pedal dazu immer ein zweiunddreißigfüßiges Principal gezogen werden müsse, nicht aber ein sechzehnfüßiges. Bach muß sein Ergötzen hierüber an Adlung mitgetheilt haben, der das Geschichtchen erzählt10. Dem klugen Organisten aber hat er sicher geantwortet, daß, wenn er das Manual 16 Fuß einem gleich tiefen Pedal gegenüber nicht zu behandeln wisse, ein[136] Subbass 32 Fuß ja die gleichen Dienste thue, wie ein derartiges Principal.

In der Fertigkeit des Clavierbaues hatte er ein Vorbild an seinem Oheim Michael haben können, und da die Bachs ja immer unter einander ihre Fähigkeiten bildeten, so ist er von ihm vielleicht nach dieser Richtung hin angeregt und zuerst unterwiesen. Wie sich alle seine Cembalos durch Eleganz, saubere Arbeit und leichte Spielart auszeichneten11, so war er auch eifrig bemüht, ihren Mechanismus zu verbessern. Für die mehrchörigen Claviere hatte er ein Verfahren erfunden, welches mit größerer Sicherheit, als die üblichen Registerzüge, das Erklingen bald eines, bald mehrer oder aller Saitenchöre bewirkte. An dem hinteren Theile der Palmulen nämlich, dort wo beim Niederdrücken der Taste die Docken von ihnen gehoben werden, jene dünnen Hölzchen, an deren oberem Ende die Rabenkiele zum Anreißen der Saiten befestigt waren, hatte er mehre Ausschnitte gemacht; wenn nun die Claviatur in verschiedenen Distanzen nach einwärts geschoben wurde, so kamen jedesmal die Docken des einen oder andern Saitenchors, oder auch zweier zusammen über die Ausschnitte zu liegen, und wurden beim Niederdruck der Taste von der Palmula nicht mit gehoben. Auf diese Weise konnte Bach an einem dreichörigen Cembalo eine siebenfache Klangveränderung bewirken, indem entweder der vordere, oder der mittlere, oder der hintere Saitenchor angeschlagen wurde, oder der vordere und hintere, oder ferner der vordere und mittlere, oder auch der mittlere und hintere, oder endlich alle drei Chöre zusammen12. Bei der gewöhnlichen Bauart der Claviere war die Einrichtung so, daß jedesmal die Docken zu allen Saitenchören sich hoben, sie konnten aber zum Theil in ihrer Lage etwas verändert werden, daß sie dann gewisse Saiten nicht trafen. – Adlung rühmt ferner Bachs vortreffliche Lautenclaviere13. Für den Erfinder dieses Instruments, was den weichen, schwebenden Lautenton mit der Technik des Claviers zu verbinden strebte, wird man ihn nicht zu halten haben; eher dürfte seinem Zeitgenossen J. Chr. Fleischer in Hamburg diese [137] Ehre gebühren. Das Project beschäftigte aber damals die erfinderischen Köpfe mehrfach, weil man das Spröde und Ausdruckslose des Claviertons lebhaft empfinden mußte. Auch Sebastian Bach ließ in Leipzig einmal nach seinem Plane ein solches ausführen. Der Vetter Nikolaus machte seine Sache so geschickt, daß man, ohne zu sehen, eine wirkliche Laute zu hören glaubte; er verfertigte diese Instrumente in verschiedenen Figuren, ging bis zu zwei und drei Clavieren fort, und wußte durch Anhängung einer fünften Octave auch den verwandten Charakter der tiefer stehenden Theorbe mit hineinzuziehen. Ein dreiclavieriges Lautenclavicymbel verkaufte er zu ungefähr 60 Reichsthalern.

Sein jüngster Bruder Johann Michael betrat theilweise ähnliche Pfade: er lernte die Orgelbaukunst. Darauf zog er nach Norden in die Fremde, vielleicht nach Stockholm, wo in dem zweiten und dritten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts Jakob Bach, ein Bruder Sebastians, als Hofmusicus lebte. Seinen deutschen Verwandten gerieth er ganz aus den Augen14. Auch ist weder sein Geburts- noch Todesjahr anzugeben; ersteres wird wohl in die achtziger Jahre des 17. Jahrhunderts zu setzen sein.

Auch Johann Christoph, der zweite Sohn, fiel von den alten Familientraditionen ab und kehrte Heimath und Vaterland den Rücken. Er war als Clavierlehrer zuerst in Erfurt und Hamburg, dann eine Weile in Rotterdam und gegen 1730 in England thätig15, eine feste Anstellung hat er aber, soweit die Nachrichten gehen, auch im Auslande nicht bekleidet16.

Der dritte endlich, Johann Friedrich, dessen Geburtsjahr wir zwischen 1674 und 1678 zu suchen haben werden17, studirte, vermuthlich Theologie, und erhielt 1708 die Organistenstelle an der Blasiuskirche in Mühlhausen, welche Sebastian Bach in diesem Jahre aufgab18. Er bekam als Besoldung aus der Kirchenkasse [138] 43 Thlr. 2 ggr. 8 Pf., zu Neujahr 10 ggr. 8 Pf., ferner für jede Brautmesse mit Figuralgesang 12 ggr., mit Choralgesang 6 ggr.19 Einkünfte, die an Interesse gewinnen, wenn man sie mit denen Seb. Bachs vergleicht. Auch wurde er zuerst nur versuchsweise genommen, doch wird die definitive Anstellung nicht lange haben auf sich warten lassen. Denn nach allen Zeugnissen war er ein höchst talentvoller und leistungsfähiger Künstler, auch mit der Construction der Orgel wohl vertraut, und noch in der letzten Zeit seines Lebens wurde nach seiner Angabe das Orgelwerk der Blasius-Kirche einer Reparatur unterworfen20. Heinrich Gerber, der, ehe er nach Leipzig zu Sebastian Bach ging, auf dem Mühlhäuser Gymnasium eine Zeit lang gewesen war, rühmte ihn sein Leben lang, und behauptete, alles was er auf der Orgel verstehe, von Friedrich Bach durch Hören gelernt zu haben. Unterricht gab er nicht, und – konnte es nicht. Denn leider schwächte und entehrte er seine herrlichen Gaben durch einen der Trunksucht ergebenen Lebenswandel, und soll späterhin selbst seine kirchlichen Functionen in berauschtem Zustande erfüllt haben, nüchtern aber keines künstlerischen Aufschwungs mehr fähig gewesen sein21. Seine Umgebung war auch nicht darnach, ihn emporzureißen. Denn die Zeit, wo Mühlhausen durch seine Musiker etwas bedeutete, war lange vorüber: dies hatte schon Sebastian Bach zu empfinden. Johann Friedrich war verheirathet, blieb aber kinderlos. Er starb im Jahre 173022, und bietet einen Beleg zu dem Erfahrungssatze, daß die von genial begabten Männern auf ihre Kinder überpflanzten Talente diesen so häufig gefährlich und verderblich werden.

Fußnoten

1 Die Daten nach den Pfarr-Registern zu Jena. Sein Todesjahr ist bis jetzt überall irrthümlich als 1740 angegeben, merkwürdiger Weise sogar von seinen eignen Verwandten, nämlich auf der Emmertschen Stammtafel.


2 Der Emmertsche Stammbaum führt zwei Söhne auf, er hätte dann eben so gut viere, die volle Zahl, nennen können.


3 Adlung, Anl. zur mus. Gelahrtheit, S. 706.


4 Die Messe befindet sich auf der königl. Bibliothek zu Berlin und auf der königl. Bibliothek zu Königsberg in Pr. (Nr. 13866). Letzteres Exemplar, was mir vorliegt, ist eine Abschrift Schichts, gefertigt im September 1815 und trägt den Titel: Messa a 9 voci da Giov. Nicolò Bach, figlio di Giov. Cristofforo Bach, e Zio di Giov. Sebastiano Bach. Außerdem existirt noch eine Abschrift, vermuthlich von der Hand Johann Ludwig Bachs, im Besitze der Herren Breitkopf und Härtel in Leipzig. Diese trägt das Datum: 16. Sept. 1716, so daß die Jahreszahl 1734 der Berliner Handschrift nicht die Entstehungszeit bezeichnen kann.


5 Auch in dem Seb. Bachschen Stücke hat man zeitweilig den Choral durch eine Sopranstimme singen lassen, wie ein Manuscript auf der königl. Bibliothek zu Berlin beweist. S.B.-G. VIII, S. XIV.


6 Der | Jenaische Wein- und | Bierrufer. | a | 2 Violini, | Alto, Monsieur Peter. | Tenore 1, Monsieur Clemon. | Tenore 2, Herr Johannes. | Basso, Monsieur Caspar. | ed | Fondamento | von Joh. Nicol. Bach. | In Stimmen auf der königl. Bibliothek zu Berlin.


7 Im Besitze des Herrn Musikdirector Ritter in Magdeburg.


8 Adlung, Musica mechanica organoedi. Berlin, 1768. Bd. I, S. 174 und 244–245, s. auch Bd. II, S. 37.


9 Adlung, a.a.O. Bd. II, S. 54 und 56; Anleit. zur mus. Gel., S. 311.


10 Musica mechanica Bd I, S. 187.


11 Adlung, a.a.O. Bd. II, S. 138.


12 Adlung beschreibt diesen Mechanismus mit Abbildung a.a.O. II, 108 und 109; vergl. Anl. zur mus. Gel., S. 555.


13 Und beschreibt sie weitläufig Mus. mech. II, S. 135–138.


14 Nach der Genealogie.


15 Walthers Lexicon, S. 63.


16 Der Kittelsche Stammbaum giebt an, daß er einen einzigen Sohn gehabt habe, der aber unverehelicht gestorben sei.


17 S. die oben über die Geburten der Kinder Joh. Christoph Bachs gemachten Mittheilungen.


18 Actenfascikel auf dem Rathsarchiv zu Mühlhausen, die Organisten der Blasius-Kirche betreffend, pag. 35.


19 Kirchen-Rechnungen der Kirche D. Blasii in Mühlhausen.


20 Protokoll des Kirchenvorstandes vom 8. Dec. 1730.


21 Gerber, N.L. I, Sp. 208 und 210. L. I, Sp. 490 und 491. S. Anhang A. Nr. 7.


22 Wie es aus dem angeführten Protokolle hervorgeht, und mit der Angabe in Walthers Lexicon, S. 64, übereinstimmt.

Quelle:
Spitta, Philipp: Johann Sebastian Bach. Band 1, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1873.
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