2.

Die Entführung aus dem Serail.

Komische Oper in drei Acten.


Die Geschichte Belmonte's ist Mozart's Heirathsgeschichte, die in derselben Zeit spielte, in welcher die Oper componirt wurde: eine ausdauernde, über alle Prüfungen erhabene Liebe, die alle Hindernisse besiegt und endlich zu einem glücklichen Ziele führt. Belmonte hatte mit der Eifersucht eines türkischen Pascha's zu kämpfen, von welchem er gespießt oder gehängt zu werden Gefahr lief. Mozart kämpfte seit zwei Jahren gegen den Widerstand eines berechnenden Vaters und gegen den Eigensinn einer zukünftigen Schwiegermutter, die in ihrem Hause dem Pascha an Despotismus Nichts nachgab; er riskirte, wenn er Fräulein Weber heirathete, sich dem äußersten Mangel preisgegeben zu sehen, die traurigste Aussicht für eine angehende Haushaltung. Der Eine wie der Andere, nämlich der Ritter und der Musiker, durchschnitten durch eine Entführung den gordischen Knoten ihrer Liebe und setzten sich in den Besitz ihrer Constanze, deren Name die glücklichste Vorbedeutung des ehelichen Glückes für Beide war.

Die Aehnlichkeit des Geschicks zwischen dem Helden und dem Verfasser des Stücks wirkte sehr entscheidend auf die Bearbeitung [135] der Entführung. Um Belmonte zu zeichnen, brauchte Mozart nur sich selbst zu zeichnen. Die Rolle des Belmonte ist aber auch eine der individuellsten, das heißt eine der ausdrucksvollsten und schönsten, welche Mozart geschaffen hat. Er machte aus ihr eine wirkliche erste Tenorpartie. Idomeneo war nur ein Tenor der Opera seria, in welcher die hohe männliche Stimmlage vorzugsweise da verwendet wurde, wo man nicht gerade durchaus den Tenor unumgänglich nothwendig braucht. Wenn diese Stimme gehörigen Klang und Umfang hat, so bietet sie die süßesten Töne, welche Kunst und Natur hervorzubringen vermögen, und dann charakterisirt sie auch die Mannheit in ihrer Blüthe; sie wird das Organ der leidenschaftlichen, tugendhaften Liebe, eine Liebe, die an die eheliche Verbindung und zwar ohne den rückhaltigen Gedanken an die Aussteuer denkt. Gerade wie die Harmonie sich dem Ohre durch die Töne kundgibt, aus denen sie besteht, ebenso scheint Alles, was in dem Herzen des Menschen Edles und Poetisches liegt, aus einer solchen Liebe zu fließen, unter ihrem Einflusse zu vibriren, und jedem ihrer Ausdrücke sich beizugesellen. So ist Belmonte, so ist auch Ottavio. Ich habe von Musikern sagen hören, daß Almaviva und Don Juan sehr dabei gewonnen hätten, wenn Mozart erste Tenore aus ihnen gemacht hätte. Nach meiner Ansicht wäre dieß ein großer Mißgriff gewesen, der beide Rollen verdorben hätte.

Aber der Liebhaber ist nicht die einzige Rolle im Stücke, welche uns das versöhnliche Bild des Componisten vorführt. Es scheint uns, daß dieses Bild in der Entführung zweifach sich abspiegelt, und daß die Züge desselben sich zwischen Belmonte und einer andern Person theilen, deren dramatische und musikalische Physiognomie auf die entschiedenste Weise mit dem erstern contrastirt. Sollte man es glauben? Osmin, der Barbar, der [136] blutdürstige Osmin, ist ebenfalls Mozart. Und wie das? Als Mozart den Auftrag erhielt, die Entführung zu componiren, flößten ihm die Schwierigkeiten, die seiner Heirath im Wege standen, keine ernstlichen Sorgen mehr ein. Er überließ sich ganz der Hoffnung seines nahen Glückes, zugleich aber auch der Lust, an einer nationalen Oper zu arbeiten, deren Bestellung er mit außerordentlicher Freude angenommen hatte. In dieser Gemüthsstimmung mußte das seiner Natur innewohnende komische Element, welches wir in Versen und burlesken musikalischen Improvisationen zum Vorschein haben kommen sehen, mit Begierde die Gelegenheit ergreifen, sich einmal aus dem Theater entwickeln zu dürfen. Der Verfasser des Stücks, der unter Mozart's Direction arbeitete, hatte ihm hinreichend Stoff dazu bereitet, was wir gerechterweise anerkennen müssen. Osmin ist ein höchst origineller und spatzhafter Buffo, der es freilich viel weniger wäre, wenn man statt auf der Bühne, ihn in irgend einem Paschalik, im Kleide eines türkischen Beamten träfe. Dieser Osmin ist ein drolliger Bursche! Er träumt von Nichts als von Pfahl und Galgen, Köpfen, Erwürgen, im Sack in's Meer werfen, u.s.w. u.s.w. Er liebt die Hinrichtungen, wie wir die Musik, und als Kenner oder übersättigter Dilettant ist er in diesen Genüssen sehr schwer zu befriedigen. Er findet, daß man selbst in der Türkei noch sehr weit in diesen Dingen zurück sei. Eine einzige Execution für jeden Patienten, wie elend! Er wünscht, daß seine Kunden mit mehr Umständen und Rücksichten behandelt würden; zuerst gespießt, dann erwürgt, dann gehängt, dann geköpft, verbrannt und zu guter Letzt in's Wasser geworfen. Unser Türke ist ein wahrer Sybarite. Nach den Unterhaltungen dieser Gattung liebt Osmin Nichts mehr als Blondchen, Constanzen's Kammerjungfer, welche er auch vom Pascha als Belohnung für seine vielen und treu geleisteten [137] Dienste zu erhalten hofft. Im Grunde hat dieser Charakter eigentlich an und für sich Nichts sehr Komisches; aber Osmin ist alt, er ist taub, ist verliebt und ist eifersüchtig; man täuscht und berauscht ihn; auch liegt seine Bosheit glücklicherweise nur in seiner Absicht, so daß der Stoff eines ausgezeichneten Opern-Buffo sich in ihm findet, womit ich nicht sagen will, daß er eine erträgliche Komödien-Figur abgebe. Nur die Musik konnte sich Osmin's bemeistern.

Mozart, dem diese groteske Skizze außerordentlich zusagte gefiel sich darin, ihn mit unvergleichlicher Laune und Muthwillen, mit einem unerhörten Talent für die Gattung von Carricatur zu beleben, bei welcher sich die Aehnlichkeit aus der Uebertreibung, selbst ergibt, und dadurch nur um so frappanter wird. Der lächerliche und doch zugleich grausame Osmin stellt sich neben Leporello unter die Muster des Buffo-Styls, Uebrigens könnte man nicht zwei einander mehr diametral entgegenstehende Typen von Possenreißern finden, als den Diener Giovanni's und den liebenswürdigen Anbeter Blondchen's.

Dadurch daß die Sympathieen des Componisten sich vorzugsweise den Männerrollen zuwenden, leiden die der Frauen etwas darunter, ohne daß sie aber ein Recht haben, sich darüber zu beklagen, da sie in Idomeneo dagegen ganz im Vortheile gewesen waren. Constanze wurde von einer Sängerin mit bedeutenden Stimmmitteln und großer Bravour dargestellt. Das brachte der Rolle Unglück, von welcher Mlle. Cavaglieri mehr als die Hälfte zu Gunsten ihrer Rouladen und ihrer hohen Töne in Anspruch nahm. Was Blondchen's Arien anbelangt, so hatte sie deren zwei, welche unter das Mittelmäßigste gehören, was Mozart geschrieben hat, um mich keines andern Beiwortes zu bedienen; die Melodieen sind trivial, spitzig und veraltet. Die Unbedeutendheit [138] des Textes derselben entschuldigt den Componisten bis auf einen gewissen Grad.

Blondchen und Pedrillo, die Soubrette und der Diener, welche zur Intrigue nothwendig sind, deren kauptsächlichste Triebfedern sie bilden, haben eigentlich keine weitere musikalische Wichtigkeit, als durch ihren Antheil an den Ensemblestücken. Doch ich vergaß Pedrillo's Romanze, was allerdings eine große Zerstreuung ist.

Es befindet sich in der Entführung noch eine sechste Person, Selim, Pascha und Renegat, den man streng genommen eigentlich gar nicht zählen darf, denn er singt durchaus Nichts. Er handelt fast eben so wenig, und sein ganz lyrisch-dramatischer Nutzen besteht darin, daß er durch seine zarten Bewerbungen Constanzen's abschlägige Antworten hervorruft, und daß er ihre Bravour-Arien anhört. Welch' eine Rolle für einen Pascha von drei Roßschweifen. Zur Rechtfertigung dieser personificirten Maschine müssen wir sagen, daß das Unpassende einer handelnden Person im musikalischen Drama weniger fühlbar ist, als da, wo der Dialog gesprochen wird. Wenn man sich von den fictiven oder idealen Verhältnissen entfernt, auf welche die schönsten Künste all' ihre Wunder gründen, und welche in der Oper in dem unausgesetzten Singen liegen, so muß man aus die fortwährende Täuschung Verzicht leisten und sich der periodisch wiederkehrenden Enttäuschung unterwerfen, welche der gesprochene Dialog mit sich führt. Selim ist übrigens ebenso gutmüthig als der andere Türke bösartig ist. Er gleicht seine lyrische Stummheit durch die schönsten moralischen Eigenschaften aus, indem er den beiden Liebespaaren, ihren Entweichungsplan verzeicht, in ihre beiderseitige Verheirathung willigt, ihnen seinen Segen als Renegat ertheilt und sie, entzückt über [139] sein Benehmen und voll Erkenntlichkeit gegen seine Güte, abreisen läßt.

Der alte Zuschnitt der Operette oder des Singspiels findet sich noch bis auf einen gewissen Grad in der Entführung vor, wie an der alten Opera seria in Idomeneo. Weder Introduction noch Finales, dagegen aber Duetts und Ensemblestücke, in denen die Handlung vorwärts schreitet. Bei'm Vergleiche dieser beiden Werke fällt einem zuerst der ungeheure Fortschritt auf, den der Compositeur als Melodist in den Zeitraume von zwei Jahren gemacht hatte, die dazwischen liegen. Mehrere Melodieen in der Entführung, und zwar gerade die schönsten, entfernen sich ganz von den Formen des italienischen Gesangs und beurkunden einen Charakter, welchen die Vocalmusik nirgends zuvor gehabt hatte, nämlich den romantischen Charakter, aus welchem, wie man wohl sagen darf, die deutsche Oper entsprang und sich entwickelte, und welcher in unseren Tagen eine so tiefe Scheidungslinie zwischen den beiden Schulen gezogen hat, in deren gegenüber stehenden Systeme sich die Vorliebe der Dilettanten theilt, und welche die Veranlassung zu ihren Streitigkeiten geben. Dieser Charakter ist so verschieden von Allem, was ihm nicht eigen ist, so leicht erkennbar für die Seele, daß es wohl eine überflüssige Mühe wäre, ihn definiren zu wollen. Man höre einige Scenen aus Don Juan, einige Scenen aus der Zauberflöte, den ganzen Freischütz, und man wird wohl nicht nöthig haben zu fragen, was musikalische Romantik sei. Der deutsche Genius personificirte sich in Mozart, sobald Mozart für sein Vaterland zu arbeiten hatte. Bereits waren auch ihrerseits die Repräsentanten der neuen deutschen Poesie: Goethe, Wieland und Schiller erstanden. Ob Noten oder Worte, derselbe Geist gab sich darin kund.

Bei'm Aufziehen des Vorhangs sehen wir Belmonte den Fuß [140] an's Ufer setzen, aus welchem seine Geliebte in dem Gefängnisse eines Harems schmachtet. Hier soll ich Dich denn sehen, Constanze! sind die ersten Worte, die er ausspricht und die er zu sagen hat. Mozart danken wir es, daß er es in Musik thut14. Diese Cavatine ist dem Andante der Ouverture entnommen. So kurz sie auch ist, so führt sie uns doch sogleich in die romantische Sphäre ein. Der neue Geist, welcher der artistischen und literarischen Welt eine neue Gestalt geben sollte, verkündigt sich hier durch eine Wendung der Melodie und eine Combination von Accorden, deren unaussprechlicher Reiz bis dahin für alle Musiker ein Geheimniß gewesen war.

Belmonte hatte Erkundigungen einzuziehen, zu welchem Zweck er eine Gelegenheit sich verschaffen muß, Pedrillo, seinen ehemaligen Diener zu sprechen, welcher, um ihm behilflich zu sein, gesucht hat, das Vertrauen des Pascha zu gewinnen, was ihm auch gelungen ist. In diesem Augenblick kommt Osmin, der gerade in guter Stimmung ist; er hat gegessen, geschlafen und bei seinem Erwachen hat er ein Liebeslied angestimmt, das er auf dem Wege seiner Rundschau fortsetzt; denn er ist Oberaufseher der Gärten des Serails. Wir sagen, daß er geschlafen und schon ehe er die Scene betrat, gesungen habe, zwei sehr interessante Umstände, welche der Componist uns ohne Hilfe des Libretto's zu wissen zu thun verstanden hat. Folgende sind die ersten Tacte des Liedes:


2. Die Entführung aus dem Serail

[141] Man fängt nicht leicht ein Stück mit einem Sexten-Accord an. Es ist dieß aber auch nicht der Anfang, sondern der Schlußsatz des Liedes dieses Trallalera am Ende, welches hier das Orchester wiederholt; und da dieses Trallalera auch nichts Anderes als ein langes und entsetzliches Gähnen ist, so schließen wir mit völlig logischer Sicherheit, daß er schon mehrere Verse gesungen, die man nicht gehört hat, und sodann schließen wir mit nicht minderer psychologischer Gewißheit, daß Osmin so eben seinen Mittagsschlaf vollendet hat. Wie viel Geist liegt in diesem Liede! Die Melodie ist so einfach und fast barbarisch, daß man sie für eine der ursprünglichen Melodien halten möchte; sie charakterisirt in einer bewunderungswürdigen Weise sowohl das Land, als das Individuum, und ist dabei doch reizend. Sie zeigt, daß die Liebe trotz der individuellen und der verschiedenartigsten localen Färbung stets Liebe, das höchste Gut der Seelen bleibt. Menschen und Thiere erkennen ihre Macht an, und in Folge davon fühlt selbst Osmin sich bei dem Gedanken an die Gefühle weicher gestimmt, die er für Blondchen hat, und die er unter seiner Peitsche und seinen Riegeln sich wünscht: Und um treu sie zu erhalten, sperr' man Liebchen sorglich ein. Das ist freilich das wahre Mittel.

Belmonte wartet das Ende des ersten Verses ab, bis er den Sänger fragt, ob der Palast, den er hier vor sich sieht, der des [142] Pascha ist. Statt einer Antwort hebt Osmin den zweiten Vers mit einer andern Figur des Accompagements und einer etwas verschiedenen Harmonie an. Der Fremde wiederholt seine Frage. Man wirft ihm einen wilden Blick zu und fährt mit dem dritten Verse fort. Wenn Belmonte nicht mehr Eile als wir hätte, so würde er mit Entzücken den neuen und anmuthigen Wendungen lauschen, welche dieß Mal den Blasinstrumenten überlassen sind. Belmonte aber, der ganz andere Dinge im Kopfe hat, verliert die Geduld, und in den Schlußsatz einfallend, wie um den Türken zu verhöhnen, geht er unmittelbar von da in ein Allegro 4/4 auf B-dur über, wodurch der Gesang dramatisch wird. Verdammt seist Du mit deinem Singen! willst Du mir endlich antworten. Wenn man bei Osmin einen solchen Ton anschlägt, so darf man sicher sein, daß er eine solche Höflichkeit mit gleicher Höflichkeit vergelten wird. Das Duett beginnt mit brutalen Redensarten einerseits, auf der andern mit ungeduldigen Fragen. Ist hier des Pascha's Haus? – Hm! lautet die Antwort auf demselben Tone. Freund, seid Ihr in des Pascha Dienst? – Hm! erwiedert abermals der Taube. Herrliche, unbezahlbare Komik. Von Frage zu Frage kommt Belmonte endlich zu der wichtigsten: er fragt endlich in recitirender Weise, ob es kein Mittel gebe, mit Pedrillo zu sprechen. Dießmal hat unser Tauber ihn vollkommen verstanden. Wie, diesen Elenden? ihn sprechen! was fällt Euch ein, Freund. Die Galle der Sprechenden fließt über; das Wortgefecht beginnt; sie binden mit einander an und verfolgen sich von Ton zu Ton, von Kanon zu Kanon, ohne daß eine Stimme der andern einen Ausdruck oder eine Beleidigung einen Augenblick schuldig bleibt, so daß die Partie zwischen Tenor und Baß sich vollkommen ausgleicht. Da der Tenor auf diese Weise sich nicht in Vortheil zu versetzen vermag, und von seinem Gegner [143] ebenso viele Galgenschwengel einerntet, als er ihm grobe Bengel an den Kopf wirft, so nimmt er seine Zuflucht zu einer komisch klagenden Melodie, um durch sie zu versichern, das das Individuum, nach dem er fragt, Pedrillo, ein ganz braver Mann sei. – Ja, ein so braver Mann, daß der Pfahl ihn schon längst erwartet und sein Kopf eine Stange zieren sollte. Bei diesem ergötzlichen Bilde wird Osmin's Gesang rascher, sein Puls schlägt in Achteln: Auf einen Pfahl gehört sein Kopf, während der Tenor in seinen schönen hohen Tönen auf das Rührendste zu Gunsten Pedrillo's spricht. Osmin kann nicht mehr länger an sich halten: er macht sich in einem Presto 6/8 D-dur Luft, in einer Art von Fuge, deren Text die Androhung einer Bastonade enthält, wenn man sich nicht sogleich aus dem Staube macht. Nach diesem peremtorischen Winke bleibt dem armen Belmonte keine andere Wahl, als seine Antwort in der Quinte zu geben und sich in Erwartung einer günstigeren Gelegenheit zurückzuziehen.

Wenige Scenen haben mich sowohl in dramatischer wie in musikalischer Hinsicht mehr unterhalten, als dieses Duett, ein Meisterstück des Contrapunctes und der Natürlichkeit, voll Gelehrsamkeit und Munterkeit, Originalität und Wärme, soweit es ein komisches Duett sein kann. Es verlangt allerdings, wie überhaupt alles, was Belmonte und Osmin zu singen haben, einen sehr hohen Tenor und einen Baß, wie er selten zu finden ist. Ueberdieß müssen Beide gute Schauspieler sein. Die Rolle des Belmonte sang Adamberger, ein wahrer Professore di canto, der in Italien, in Deutschland, in England glänzte, und dessen Verdienst Burney bestätigt. Die des Osmin war für Fischer geschrieben und damit ist Alles gesagt. Man denke sich einen Sänger, der Bassist, Baritonist oder Tenor zugleich war, der vom tiefen D bis zum eingestrichenen A, also zwei Octaven und [144] eine Quinte mit Bruststimme sang, einen Sänger, dessen volltönendes Organ in gleichem Verhältnisse zu diesem Umfang stand, und der ein vollendeter Künstler war; einen Schüler Raaff's, der die Vocal-Traditionen Bernacchi's geerbt hatte; einen Sänger endlich, der ebenso sehr im tragischen wie im komischen Fache sich auszeichnete, wenn man also einen so außerordentlichen Künstler sich denkt, so hat man eine Idee von Ludwig Fischer, der Perle des singenden Deutschlands zu Ende des vorigen Jahrhunderts.

Eine Art von Instinct läßt Osmin errathen, daß der ausfragende Abenteurer in schlimmen Absichten gekommen ist; wahrscheinlich um eines Frauenzimmers willen. Ehre dem Verstande, der das Complott schon von Weitem gewittert hat; Tod seinen Urhebern! Dieß ist der Sinn der Arie (Nr. 3): Solche hergelaufene Lassen, die nur nach den Weibern gaffen, ebensosehr die Person, die dargestellt werden soll, als des Sängers würdig, der einzig, wie Beide, dasteht. Im ersten Theile der Numer wiederholt sich der Satz: Ich hab' auch Verstand dergestalt zur Uebersättigung, daß er dadurch gerade das Gegentheil von dem beweis't, was er sagt. Der Gesang hört nicht auf, dramatisch, noch die Declamation wahr zu sein, und doch verleihen eine gewisse Unabhängigkeit und eine gewisse contrapunctische Kühnheit in der Wahl der Figuren, eine gelehrte thematische Arbeit, gleichsam Spielerei in den Nachahmungen des Orchesters, bis auf die Anlage des Motivs herab, dieser Composition einige Aehnlichkeit mit einem Instrumental-Musikstücke.

Hie und da hören wir ungeheure Noten, welche der Sänger unerwartet gleich Vierundzwanzigpfündern schleudert, um Pedrillo zu zerschmettern, der zuhört. Er wird sterben dieser arme Pedrillo; [145] Osmin schwört es beim Barte des Propheten. Dieser Schwur in einem raschen parlando ausgesprochen, in welchem keine anderen melodischen Intervalle vorkommen, als der Sprung in der Quinte abwechselnd mit dem in der Octave, während Accent und Wirkung durch eine punctirte Note bestimmt wird. Man höre, die Stimme versagt dem Recitirenden; die Wuth hat ihm die natürlichen Töne genommen; er röchelt, der Unglückliche, er erstickt. Ist dieß nicht äußerst komisch? Pedrillo unterbricht ihn: Was habe ich Dir gethan, daß Du mir so viel Böses wünschest? (Dieß wird gesprochen.) – Was Du mir gethan hast? Du hast eine Galgen-Physiognomie, das ist genug. (Besprochen.) Mit Richten; den wahren Grund wird der Componist sagen. Rhythmus und Tonart wechseln; die Bewegung wird rascher. Alle Kunst scheint aus der Musik zu weichen; das A-moll beginnt in seiner ursprünglichen Schärfe; indem es auf den zwei Accorden der Tonica und der Dominante sich dreht; Triangel und Pauken, Querpfeife und große Trommel schlagen gleich den Folterinstrumenten an das Ohr; die türkische Nationalität macht sich augenscheinlich Luft. Dieß erklärt besser, als alles Andere, den Haß des alten Muselmannes gegen Pedrillo, der zu allen persönlichen Beschwerden hin noch überdieß ein Ausländer und Christ ist. Welche Musik hätte besser für einen solchen Text gepaßt?


Erst gelöpft und dann gehangen,

Dann gespießt auf heiße Stangen,

Dann verbrannt und dann gebunden,

Dann gethaucht, zuletzt geschunden.


Es gibt keine Schlange und kein scheußliches Ungeheuer, das nicht, vermöge der nachahmenden Kunst den Augen gefällig gemacht werden könnte – und dem Ohre setzen wir hinzu; einen Beweis hievon liefert wenigstens dieses Fragment von Poesie und [146] türkischer Musik, welche einem die Haut schaudern machen kann und zugleich zu unsinnigem Gelächter hinreißt.

Was ist aber aus diesem urwüchsigem Texte in der französischen Bearbeitung des citoyen Moline geworden? Man höre?


Envieux, entreprenant,

Ayant l'air fort insolent,

Du pacha seul confident,

Mon rival, j'en fais serment,

Je te fais complètement.


Wir sind an die Plattheiten der Operntext-Uebersetzer gewöhnt, aber eine solche bêtise, eine solche Versündigung gegen allen Sinn, allen Charakter und Rhythmus des musikalischen Satzes ist wohl unerhört!

Wir haben der Analyse des lyrisch dramatischen Charakters von Osmin einen großen Platz eingeräumt, Erstens, weil er gänzlich Mozart's Schöpfung ist, nach Text und Musik; sodann um klar darzuthun, wie viel Geist und Berechnung in dieser Schöpfung liegt, ganz abgesehen von dem Genius, den man nicht zergliedern kann; und Drittens, weil wir Nichts, durchaus Nichts kennen, was, weder in den Werken Mozart's, noch in denen eines Meisters, denselben gleichkommt.

Nach der wildesten aller Baß-Arien kommt die sentimentalste und melodischste Tenor-Arie (Nr. 4): Constanze Dich wieder zu sehen, Andante aus A-dur 2/4. In einem seiner Briefe hat Mozart den Sinn dieser Arie erklärt, die er allen anderen in dieser Oper vorzog. Wir sind so ziemlich seiner Ansicht. Der durch Sechzehntelpausen unterbrochene Vocalgesang und der anklopfende Rhythmus der Orchesterbegleitung drückt das Schlagen eines Herzens aus, das von Hoffnung und Zweifeln pocht: O wie ängstlich, o wie feurig schlägt mein liebevolles [147] Herz, Für die Hoffnung die Dur-, und die Moll- Tonart für das Bangen. Belmonte fühlt sich gedrückt, eine schwere Dissonanz und ängstliche Figuren in Zweiundreißigsteln verrathen, wie beklemmt er ist. Wenn er glaubt, einen Seufzer oder ein leichtes Geräusch zu hören, das er für die Schritte seiner Geliebten hält, so täuscht ihn das Orchester durch betrügerisches Geflüster und murmelt gleich dem Espenlaube. Viele, wenn gleich intelligente Musiker, und selbst Mozart, verstanden es nicht immer, den Fehler zu vermeiden, der darin besteht, vereinzelte Worte mit den Bildern, die sich daran knüpfen, wieder zu geben, wenn diese Worte und diese Bilder nicht wesentlich mit dem Hauptgedanken des Stückes zusammenhängen. Hier aber fanden sich glücklicherweise die malerischen Bilder mit dem psychologischen und musikalischen Thema identificirt; die Einheit verlor Nichts dabei und der Ausdruck gewann dadurch. Mozart hat in dieser göttlichen Arie Tropfen für Tropfen das Entzücken destillirt, welches sein Herz am Vorabende des schönsten Tages seines Lebens erfüllte. Er erwartete; liegt darin nicht die ganze Leidenschaft der Liebe? Er verlangte Constanze von der ganzen Natur; und die Natur, die von undenklichen Zeiten her den Liebenden nur ein Bild zurückwirft und ihnen nur einen Namen zustammelt, antwortete ihm, wie die Oboe dem Rufe des Tenors, mit: Constanze! Constanze! Wie innig mußte der Musiker lieben, der diese beiden Sätze des Recitativ's gemacht hat.

Ueber die erste Arie Constanzen's (Nr. 6): Ach ich liebte, war so glücklich, ist Nichts zu sagen, außer daß sie eine italienische Bravour-Arie mit deutschen Worten nach der Art von 1782 ist. Die wenigen Tacte des Adagio sind von Mozart; das Uebrige ist von Mlle. Cavaglieri.

Der erste Act endigt sehr angenehm mit einer komischen [148] Scene. Belmonte und Pedrillo wollen, ich weiß nicht wo, in den Garten oder Palast des Pascha eindringen. Osmin stellt sich vor ihnen auf, um ihnen den Weg zu versperren. Daraus entsteht Zank und Streit, in einem trefflich dialogisirten kanonartigen Terzett Nr. 7) von bewunderungswürdiger Composition. Dießmal hat aber unser Türke seine Kräfte überschätzt. Einer gegen zwei, das ist ihm entgangen. Mag sich Osmin noch so heiser schreien, die Stimmen der Tenore und ihre ihm an Geläufigkeit weit überlegenen Zungen bringen ihn aus der Fassung und betäuben ihn. Mag er mit der Bastonade drohen; man spottet über ihn und kommt ihm zuvor; Belmonte's kräftiger Arm wirft ihn während der Schluß-Cadenz auf zehn Schritte bei Seite. Victoria! die Festung, welche die lebenden Schätze des Pascha birgt, ist im Sturme genommen.

Blondchen entwickelt den lyrischen Charakter, der ihren Arietten fehlt, in einem Duett im zweiten Acte (Nr. 9), das sie mit Osmin zu singen hat. Wir lernen eine sehr schelmische Soubrette in ihr kennen, welche als Frau einmal den häuslichen Scepter an sich reißen wird. Osmin zeigt sich ihr gegenüber bemüthig und unterwürfig, wie ein Bär gegen seinen Führer, oder wie ein junger Gatte von sechzig Jahren gegen seine liebenswürdige junge Frau, deren Großvater er sein könnte. Die Grundzüge in diesem Duett sind ächt komisch, auch sind die Motive anmuthig, namentlich zu Anfang des Andante; aber das Verhältniß der Stimmen zu einander, die öfters drei Octaven von einander entfernt singen, klingt nicht immer sehr angenehm für das Ohr. Die eine brummt um die tiefsten Saiten des Baßes herum, die andere zwitschert über der Quinte der Violine, wodurch gleichsam eine ungeheure Leere in der Harmonie entsteht.

Nach der Bravour-Arie mußte Constanzen eine sentimentale [149] Arie gegeben werden, um dadurch, nachdem sich die Primadonna gezeigt, auch die trauernde Geliebte hören zu lassen. Geschah es aus Mangel an Inspiration oder in Folge von Bequemlichkeit, genug Mozart bearbeitete diesen Text nicht nach völlig neuen Gedanken. Traurigkeit ward mir zum Loose (Nr. 10), ist Nichts als die Paraphrase einer Arie in Idomeneo: Padre, Germani, addio! Dasselbe Tempo, Andante con moto, derselbe Rhythmus 2/4, dieselbe Tonart, G-moll, dieselben synkopirten Sätze in der Vocalmusik, ähnliche Anordnung des Accompagements; endlich derselbe Charakter von Zärtlichkeit und Melancholie, nur drücken sich diese in der Arie der Entführung tiefer gefühlt und durch eine romantische Färbung aus. Diese beiden Zeichnungen haben jede ihre Verdienste; die eine wie die andere lassen aber etwas zu wünschen übrig. Mozart scheint dieß selbst gefühlt zu haben, weil er in der Zauberflöte zum dritten Male auf seinen Gedanken zurückkam. Damals hatte aber der moralische Zustand des Componisten sich bedeutend geändert. Schon seit lange waren die Eindrücke einer bald träumerischen und sanften, bald finstern und qualvollen Melancholie in sein ganzes Wesen übergegangen; seine Seele hatte Geschmack an dieser Gewohnheit gefunden und so konnte er folglich dieses Sinnbild in seiner idealen Vollkommenheit verwirklichen: das Sinnbild nämlich eines Mädchen, das aus Liebesgram stirbt. Ach ich fühl's, es ist verschwunden (Cavatine der Pamina).

Kaum ist dieser elegische Erguß in klagenden Echo's im Orchester verklungen, als Selim kommt, um seine Erklärungen zu wiederholen, oder wie ich mich eigentlich ausdrücken sollte, der Odaliske, die ihn verschmäht, sein Ultimatum zu wissen zu thun. Arme Constanze! es handelt sich kurz und einfach um die Wahl zwischen wirklichem Dienste im Harem oder dem Tode. Neue Arbeit [150] für die Sängerin, und was für eine Arbeit! eine ultra-heroische Bravour-Arie (Nr. 11): Martern aller Art mögen meiner warten, mehr als 200 Tacte lang. Das Ritornell am Anfange zählt allein deren 60. Es ist dasselbe eine Art Concertante für das Orchester. Was macht Kleopatra, die Schöne, während dieses ewig langen Ritornell's, fragen wir mit der Küchen-Primadonna des Capellmeisters von Paer. In der That, die Mittel der Cavaglieri waren außerordentlich. Sehr wenige Sängerinnen dürften im Stande sein, diese fürchterliche Numer so zu singen, wie sie geschrieben steht, welche übrigens ebensowohl hinsichtlich der Gedanken und der Ausarbeitung des Maestro, als der Schwierigkeiten in der Ausführung über der ersten Arie Constanzen's steht. Das Motiv ist voll Originalität und Feuer und die Declamation von ganz besonderer Kraft; der Gesang hat hie und da etwas Veraltetes, aber viele Passagen haben deßhalb doch eine glückliche Wendung, und der Schluß, ein ungestümer Strom, muß alle Zuhörer außer sich bringen, wenn die Sängerin in einem Athem und der nöthigen Bravour, diese riesenhafte Roulade, die zweimal, und mit Begleitung des ganzen Orchesters vorkommt, zu überwinden vermag. Ein prächtiger Schluß.

Es gibt Musiknumern für die Bühne, deren Effekt dergestalt von der Handlung abhängt, daß man sie nicht davon trennen kann, ohne sie zu vernichten. Dieser Art ist das Bacchus-Duett (Nr. 14) zwischen Osmin und Pedrillo, das man durchaus sehen muß, wenn man es recht verstehen will. Man muß die Personen auf türkische Weise auf dem Boden kauernd sitzen sehen, den sauertöpfischen Osmin und den verschlagenen Pedrillo, die nun Cameraden geworden waren; den Einen vorsichtig den Wohlgeruch des verbotenen Getränks einschlürfend, während er den Andern, der ihn aufmuntert seinem Beispiele zu folgen, [151] mit Blicken ansieht, in denen sich mit einem Ueberreste von Zorn, Mißtrauen und Lüsternheit aussprechen; sodann in einem so ernsten Tone, als der Gegenstand es erfordert, sich fragt, ob Allah Zeuge sein dürfe, von dem, was man ihm vorschlägt, dann in langen Zügen in den für das Leeren der Flasche aufgesparten Pausen trinkt, und endlich, nachdem er gethan, was er nicht lassen konnte, in den fröhlichen Schluß-Vers mit einstimmt: Vivat Bacchus, Bacchus lebe, Bacchus war ein braver Mann, den eine Janitscharen-Musik begleitet. Gut gespielt und gut gesungen muß diese Scene die Stirne des ärgsten Misanthropen aufhellen; aber, wie ich sagte, der musikalische Effekt ist von dem dramatischen unzertrennlich.

Wir kommen jetzt zu dem Hauptstücke der Oper, zu dem Quartett (Nr. 16), welches den zweiten Act schließt und die Reihe jener wundervollen Mozart'schen Ensemblestücke eröffnet, bei denen die Handlung vorwärts schreitet, in welchen die handelnden Personen ihre individuelle und genau unterschiedene Physiognomie beibehalten, in welchen sich die Charaktere zu gleicher Zeit unter dem Gesetze derselben Accorde abzeichnen, und die Musik, gewissermaßen die Macht der Poesie und der bildenden Künste in sich vereinigend, nämlich die Bewegung und die Gruppen, das Aufeinanderfolgen und das Zusammentreffen, und dadurch nach unserer Ansicht zur vollständigsten und wahrsten Form im lyrischen Drama insbesondere und im Drama überhaupt wird. Der musikalische Chor hat uns, im Vergleich mit den stummen Figuranten der Tragödie, den Beweis geliefert, daß zuweilen in der Oper sich mehr Wahrheit vorfindet, als in dem gesprochenen Drama. Wir finden einen ganz andern, ebenso schlagenden Beweis in dem Quartett der Entführung. Gibt es etwas Kühleres und Widersinnigeres, das heißt etwas Unnatürlicheres [152] in einer Komödie, als diese gedoppellen Handlungen, die gleichförmig in einem zwischen vier Personen ganz genau vertheilten Dialoge vorwärts schreiten, zwei Liebespaare zum Beispiel, Herren und Diener, die sich jedes unter sich streiten und wieder versöhnen, und welche die Pausen zu zählen scheinen, um die Antworten a tempo geben zu können. Je mehr der Autor gewöhnlich Geist in Scenen dieser Art zu bringen gesucht hat, um so mehr Widerwillen empfindet der Zuhörer. Unser Quartett beruht aber auf einer ähnlichen Situation und doch scheint es nicht, als ob es je bei den Liebhabern der Musik Ekel erregen sollte. Warum? weil Mozart vor Allem sich gehütet hat, in den Dialog eine die Illusion zerstörende Symmetrie zu bringen, welche der Dichter nicht vermeiden könnte. Bei ihm führt das aristokratische Paar seine Unterredung in schöner musikalischer Sprache, ohne sich um die Handlungen und Geberden des plebejischen Paares zu kümmern, welches sich ebenso wenig um die ihrer Gebieter kümmert, und den Handel so abmacht, wie es ihn versteht. In der Musik können Alle zugleich sprechen, und zwar Jedes aus seine Rechnung, wie es bei dergleichen Veranlassungen in Wirklichkeit der Fall wäre. Endlich übersehe man nicht, daß die Theilung der lyrischen Handlung, statt das Auditorium zu zerstreuen und seine Aufmerksamkeit doppelt in Anspruch zu nehmen, diese vielmehr durch den Zauber des Total-Effects stets zur Einheit zurückführt. Worin dieser vom Drama unabhängige und über diesem stehende Zauber liegt, brauche ich Wohl nicht zu sagen. Es ist auffallend, daß, je mehr also die fictiven Verhältnisse, welche die Grundlage aller nachahmenden Künste sind, sich von dem positiv Realen entfernen, um so mehr erreichen sie das wahre Ideale; je größer die Täuschung, um so größer ist der Genuß. Doch kommen wir zu unserem Quartett zurück.

[153] Weil die Situation eine Reihenfolge von dramatischen Phasen durchlief, die unter sich sehr verschieden sind, so mußte auch die Musik sich in mehrere Stücke theilen, die sich in Rhythmus, Tempo und Ton von einander unterscheiden, wodurch eine Art von kleinem Finale entsteht. Anfangs herrscht große Freude sich wieder zu sehen, welche sich in einem feurigen und leidenschaftlichen Allegro kundgibt. Nachdem der erste Freudentaumel vorüber ist, steigen in den Männern betrübende Zweifel auf, die in Betracht der Umstände ziemlich natürlich sind. Constanze und Blondchen, beide junge und hübsche Mädchen, seit lange Gefangene in der Türkei, sollten sie wohl dem türkischen Gesetze entgangen sein? Der Herr bringt zuerst, wiewohl zitternd, einen so zarten Gegenstand zur Sprache: Man sagt, doch zürne nicht; er zögert, seufzt, hält bei jedem Satze inne. Der Diener geht direkter auf die Sache los. Hier fand der Componist Gelegenheit, diese Kunst der gemeinschaftlichen und doch contrastirenden Melodieen zu entwickeln, welche er in der Partitur des Don Juan auf's Höchste brachte. Pedrillo, Belmonte, und Blondchen, Constanzen gegenüber, waren seine Versuchsarbeit in dieser Gattung. Die beiden Liebhaber forschen zugleich derselben Sache nach, nur thut es Belmonte in anständigen Ausdrücken, während Pedrillo es in gemeinen Ausdrücken thut; eine Verschiedenheit der Sprache, welche dem Componisten die der Gefühle aufwog. Wie viel Reiz und Adel liegt nicht in der Melodie des ersten Tenors: Ich will, doch zürne nicht, und welche plumpe Trivialität in der Declamation der zweiten Stimme mit ihren komischen Fragesätzen! Derselbe Contrast findet zwischen den Frauen statt. Constanze wird traurig; Blondchen antwortet durch einen derben Schlag auf Pedrillo's Wange, und diese Rechtfertigung wird von beiden Theilen als genügend anerkannt. Die Frauen halten sich deßhalb für nicht weniger beleidigt, [154] die Männer wünschen sich Glück über den Zorn ihrer Gebieterinnen, weil er ihnen deren Treue verbürgt. Sie glauben es wenigstens, die Armen. Dadurch entsteht ein doppeltes bei Seite Gingen, in welchem sich die Stimmen in A-dur, Andante 6/8, vereinigen. Hinreißende Melodie, mit einer Färbung sentimentaler Gefallsucht und erzwungener Schelmerei, herrlich gewählte Accorde. Besiegt, und sehr zufrieden, es zu sein, flehen die Tenore die Nachsicht ihrer Besieger, der Soprane an. Wie gewöhnlich lassen sich diese Damen ein wenig am Ohre ziehen, namentlich Blondchen, die fortfährt sich in 12/8 zu zanken, während die anderen in 4/4 zu singen, und die Prima-Donna nur zarte und melodische Vorwürfe, die Vorläufer einer allgemeinen Amnestie vorträgt. Die Verzeihung wird endlich den Schuldigen in feierlichen halben Noten kanonartig zu Theil; man gibt sich den Friedenskuß; ein lebendiges und feueriges Allegro schließt das Stück ebenso munter und in demselben Tone, in welchem es angefangen hat. Welch' ein Quartett! Ebenso erstaunenswürdig hinsichtlich seiner gelehrten Auffassung, sowohl in musikalischer wie psychologischer Beziehung, in allen seinen Theilen mit einer überlegenen Kenntniß der scenischen Effecte angelegt und verbunden, mit einer unnachahmlichen Anmuth und Natürlichkeit dialogisirt, sprühend von Geist, Munterkeit, dichterischem Feuer und Schelmerei. Es ist ein wahres Meisterstück des Musikers, und, um die Wahrheit zu sagen, auch des Dichters.

Der letzte Act ist der kürzeste, aber nicht der wenigst schöne unter den dreien. Beinahe alle Piecen, aus denen er besteht, sind auserlesene Numern. Zuerst kommt die Arie Belmonte's (Nr. 17): Ich baue ganz aus Deine Stärke, die weder in Melodie noch im Ausdrucke der im ersten Acte aus A-dur nachsteht, und überdieß noch viel glänzender ist. In einigen [155] Stunden wird Belmonte sich auf seinem Schiffe befinden, Constanze den Barbaren entführt haben, und für immer der Glücklichste unter den Sterblichen sein. Aus das Bangen der Hoffnung und der Besorgnisse ist ein blindes Vertrauen und eine zu voreilige Freude über den Erfolg des Unternehmens gefolgt. Die Flöten, Clarinette, Fagotte führen in Es-dur das triumphirende Thema aus, welches im Gange eines Marsches auf den Einschnitten des Rhythmus vorwärts schreitet, der regelmäßig in Viertelnoten durch die Violinen angeschlagen wird. Wie viele Leidenschaft und Glück sprechen sich in diesem Gesange aus, von dem alle Sätze zur Seele dringen und in dem Ohre einen unauslöschlichen Eindruck zurücklassen. Alle Dissonanzen, alle declamatorischen Effecte, alle Moll-Accorde sind aus diesem Stücke ausgeschlossen. Nichts als die fließendste Melodie, die ihren Ueberfluß in's Orchester ergießt und ebenso dem Sänger Gelegenheit gibt, sich geltend zu machen, als sie zur Charakteristik der Darstellenden beiträgt. Es beweis't dieß, daß gut gewählte und an richtiger Stelle angebrachte Rouladen, ebensosehr zum Ausdrucke beitragen, als das Cantabile selbst. Mozart hat nichts Glänzenderes für den Tenor geschrieben, außer: Il mio tesoro intanto, die Perle aller alten und neuen Tenor-Arien.

Schon ist aber die Nacht weit vorgerückt, die Zeit drängt und die zu entführenden Schönen erscheinen noch nicht. Um sie zu benachrichtigen, daß man da ist, ergreift Pedrillo seine Guitarre und singt eine alte Romanze (Nr. 18), welche von einem jungen Mädchen erzählt, welches von den Ungläubigen gefangen gehalten, durch einen aus fernen Landen hergekommenen tapfern Ritter befreit wird. Mozart begriff vortrefflich, welchen ganz besondern Charakter für diese Romanze, sowohl die gefährliche Lage der Personen, als die halbmitternächtliche Stunde, und die [156] etwas veraltete Form dieses Solo's erfordere. Er theilte den Vers in drei musikalische Sätze, welchen ein Ritornell vorangeht, das, wie das übrige Accompagnement pizzicato gespielt wird, welches de Guitarre nachahmen soll. Das Ritornell fängt inH-moll an und geht dann in D-dur über; der erste Satz wird aus demselben Tone D gesungen und endigt mit der Quinte A; der zweite ist eine buchstäbliche Wiederholung des ersten, aber in C-dur, und schließt mit der Quinte G; der dritte springt durch eine Art von ganz unvorhergesehenen Trugschluß in Fis-moll über, eine Tonica, die sich bald in die Dominante verwandelt, und die anfängliche Tonart wieder bringt, indem sie sich dem Ritornell anschließt. Dieser sonderbare Bau nach Rhythmus und Modulation beraubt das Stück seiner Schluß-Cadenz, und läßt die Tonart durchaus unbestimmt und schwimmend. Man fühlt sich unwillkürlich in jene Zeiten der alten Legenden und Balladen zurückversetzt, von denen man hier eine jener gebräuchlichen Melodieen zu hören glaubt. Allein diese Erinnerung an eine längst dahin gegangene und nebelhafte Vergangenheit, dieses Echo aus den Kreuzzügen, verhindert nicht, daß die Romanze nicht mit derselben analogen Treue auf den gegenwärtigen Augenblick passe. Ihre Accorde verlieren sich in einander, wie die Gegenstände mitten in der Finsterniß; ihre Melodie fordert zu geheimnißvollem Stillschweigen auf; ihr Rhythmus verräth die Beklemmung dessen, der singt und derer, die zuhören. Vortrefflich! man kann es nicht besser machen.

Osmin, der auf ganz merkwürdig schnelle Weise wieder nüchtern geworden ist, hat mit Luchsaugen die Bewegungen der beiden Verbündeten bewacht. Er braucht nur zu winken, so werden sie ergriffen und strangulirt; die türkische Justiz macht es kurz. Dieß ist der Augenblick für unsern Mann zu singen, oder nie. (Arie Nr. 19): Ha! wie will ich triumphiren, wenn [157] sie Euch zum Richtplatz führen, und die Gurgeln schnüren zu. Das ist der unwiderstehliche Schrei des Herzens, die Natur in ihrer wahren Gestalt. Alle Episoden dieser Arie schließen mit dem liebenswürdigen Thema: Ha! wie will ich triumphiren; es kommt immer wieder und stets in Begleitung des Flauto picclo zum Vorschein, das es in der dreigestrichenen Octave bläs't. Ist Osmin nicht ganz mit seinem Thema beschäftigt? In der Freude seines Herzens überläßt er sich den muthwilligsten Einfällen; Sprünge in Octaven, Rouladen, er schlägt seine tiefsten Töne an und die Allgewalt seines tiefenD beherrscht acht Tacte lang das Spiel des Orchesters mit der Gewalt eines großen Baß-Fagott15. Wie zufrieden, wie behaglich er sich fühlt; wie schwelgt er im Vorgenusse des Festes, das sich für die Geier und für ihn vorbereitet. Ha! wie will ich triumphiren, ruft er noch einmal auf, und das Thema, das den Anfang bildete und die Luft erfüllt hat, dient ihm ebenfalls zum Schlußsatze. Nie zuvor hat man einen ähnlichen Schlußsatz, eine so schreckliche Onomatopöie gehört, in welcher das Wort schnüren auf eine Art sich wiederholt, um so sehr als möglich den Vollzug des Erdrosselns nachzuahmen: schnüren, schnüren zu, schnüren, schnüren, schnüren, schnüren u.s.w. u.s.w. Wie abscheulich! Wem soll man den Vorzug geben, dem Osmin in der Wuth, oder dem Osmin, dem glücklichsten der Sterblichen, wie Belmonte es vor einem Augenblicke noch war? Ich für meinen Theil ziehe aber doch den ersten vor, das ist aber Geschmacksache. Der eine wie der andere sind ganz Mozart's Werk, welcher dem Librettomacher Stephani den Text zu den [158] beiden Arien, den beiden Duetts und dem Terzett angab. In Bretzner's Buche hatte Osmin nur das Lied im ersten Acte.

Belmonte und Constanze bereiten sich vor zu sterben (Nr. 20). Diese Situation war schon so oft von den dramatischen Komponisten behandelt worden, daß sie zu einer Art von Gemeinplatz der Oper seria geworden war. Mozart verjüngte sie aber, indem er ihr eine Färbung verlieh, welche sie wahrscheinlich nie zuvor unter der Feder irgend eines Musikers gehabt hatte. Zusammen zu sterben heißt für zwei tugendhafte, treu sich liebende Wesen so viel, als für ewig, in einer bessern Welt die Bande enger knüpfen, die sie auf dieser Welt aneinander ketten. Dieß ist der musikalische Sinn des Duetts. Man findet deßhalb weder ein klagendes Agitato, noch ein herzzerreißendes Geschrei, noch eine auffallende Anhäufung von verminderten Septimen-Accorden; weder Verzweiflung im Gesänge, noch in der Instrumental-Begleitung, sondern einen himmlischen Gesang, einen Gesang von jenseits des Grabes, wenn man sich so ausdrücken darf, welcher der Seele jenes unaussprechliche Glück und die Ueberzeugung ihrer Unsterblichkeit einflößt. Mit dem Geliebten sterben ist seliges Entzücken. Diesem Allegro geht aber ein Recitativ und ein Andante voran, in welchen die beiden Liebenden der menschlichen Schwäche ihr Recht angedeihen lassen. Belmonte klagt sich als Urheber des Todes von Constanzen an, und Constanze, die sich endlich zu der ganzen lyrischen Höhe erhoben hat, deren ihre schöne Rolle fähig ist, macht sich denselben Vorwurf hinsichtlich Belmonte's; ein erhabener Dialog. Beider Muth, der einen Augenblick gewankt hat, stärkt sich auf's Neue; es gelingt ihnen, den Tod als das Mittel zu einer Verbindung für die Ewigkeit zu betrachten; ihre Stimmen vereinigen sich in eine Hymne der Tröstung und der Hoffnung, welche nach und nach den Zustand [159] des Entzückens im Allegro vorbereitet. Selbst die am Wenigsten an das Vergießen von Thränen gewöhnten Zuhörer werden von der allgemeinen Rührung mit hingerissen.

Ueberall in der Welt ist im Grunde die Liebe sich gleich; überall hat sie nur ein und dasselbe Ziel vor sich. Was ihr aber einen so mannichfaltigen Charakter und so verschiedenartige Schattirungen verleiht, je nach der Sprache, die sie spricht und der Gegend, welche sie bewohnt, jene Ursache, durch die sie nothwendigerweise in alle Sphären der Kunst eindringt und sie beherrscht, das liegt lediglich in dem Wege, welchen die Phantasie durchläuft, ehe das Ziel ereicht wird. Hat die Liebe es einmal bis zum ehelichen Verhältnisse gebracht, so gleicht sie sich überall und wird von da an für Dramatisten, Romantiker und Theater-Compositeure unergiebig, mit Ausnahme von außerordentlichen Fällen, die sie etwa in der Ruhe ihres Besitzes zu stören vermögen. Es gibt aber kein Volk, bei welchem die leidenschaftliche Liebe, das heißt das Glück in der Erwartung, mit dem Gedanken an die Heirath mehr poetische und romantische Gedanken erweckt, als bei den Deutschen. Bei ihnen gefällt sich die Liebe darin, die Grenzen des Daseins zu überschreiten, ihren Flug nach den Gestirnen zu nehmen, sich in sentimentale, metaphysische Tiefe zu stürzen. Wenn aber auch dieses Bild der Liebe, mit dem Stempel der Deutschen, den Ausländern nicht immer in den geschriebenen Werken, welche diese Leidenschaft behandeln, gefallen kann, wenn die Helden eines August Lafontaine ihnen auch übertrieben und etwas lächerlich erscheinen, so wird doch der wahre Ausdruck dieses Gefühls stets für Jedermann in der Musik hinreißend erklingen, weil die Musik dasselbe unmittelbar der Seele mittheilt, statt sie in irgend einer Sprache, je nach dem Geschmacke und den Ideen dieses oder jenes Lesers zu beschreiben, Belmonte [160] in seiner ganzen Rolle und Constanze in dem Duett, sind deutsche Verlobte, also Wesen voll Begeisterung und Poesie. Sie drücken die Liebe aus, wie sie Mozart damals verstand und fühlte; aber wie Alle, die einmal Siegwarte und Werther waren, und durch die Ehe geheilt worden sind, so sollte auch Mozart von seiner platonischen Ueberschwänglichkeit zurückkommen und jene andere Liebe kennen lernen, die einzige, welche der große Gotteslästerer Buffon zugibt. Almaviva und Don Giovanni geben uns bedeutende Aufschlüsse darüber; für jetzt handelt es sich aber um die Entführung.

Weil die Entwickelung einer komischen Oper Selim nothendigerweise Milde und Nachsicht als Tugend und unerläßliche Pflicht vorschreibt, so wird Jedermann vom Pascha verziehen und Alles singt das Lob desselben in einem Schlußgesange, eine Verfahrungsart, welche Hiller und andere der ersten deutschen Operettenmacher in ihrem Vaterlande heimisch gemacht hatten. Die Melodie des Schlußgesangs ist sehr angenehm, sehr sangbar und erinnert mehr als irgend ein anderes Tonstück, das Mozart gemacht hat, an die französische Musik. Jeder Vers wird im Chor wiederholt. Wenn die Reihe an Osmin kommt, so bemerkt man von den ersten Noten an, daß diese europäische Melodie in seine Kehle nicht recht paßt, und daß ihr die Worte geläufiger sind: Verbrennen sollte man die Hunde u.s.w. Zum Teufel mit dem Schlußgesange, und plötzlich hören wir ... was? die müthende Musik des Presto: Erst geköpft, dann gehangen, mit ihrem Texte und dem Lärmen der Ianitscharen-Instrumente. Es klingt dieß wie bei einem Vogel, der unwillig die ihm eingeorgelte Melodie pfeift und auf einmal ungeduldig in seinen Waldgesang verfällt. Damit will ich aber nicht behaupten, daß Osmin's Gesang gerade dem eines Canarienvogels gleiche.

[161] Die Oper hat zwei Chöre, den einen in der Mitte des ersten Actes, den andern am Schlusse des Stückes. Sie sind in einem Geschmacke geschrieben, den man den asiatischen nennen könnte, wenn die Orientalen in der Musik irgend einen Geschmack hätten. Ich spreche hier von der Musik im Zustande der Kunst, der bei ihnen sich nicht vorfindet. Gewiß würden weder Perser noch Türken sich in diesen Ianitscharen-Chören erkennen; wir Europäer erkennen sie vollkommen darin, während an der Stelle dieser, für sie unverständlichen Musik, wirklich türkische oder persische Melodieen Nichts ausdrücken und Nichts malen würden, und zwar aus dem ganz einfachen Grunde, weil sie keinen ihnen eigenthümlichen musikalischen Sinn haben, und weil sie deßhalb auf den Zuhörer nur den Eindruck von National-Gesängen hervorbringen würden. Ich spreche hier aus Erfahrung. Es bedurfte der Kunst und zwar vieler Kunst, um die Barbarei in der Kunst, das Bild oder den Ausdruck der geistigen Barbarei zu versinnlichen; eine musikalische Analogie hervorzubringen, in welcher sich das Ganze der poetischen Farben abspiegelt, unter welchen die Männer des Orients unserer Phantasie erscheinen. Obschon im Wesentlichen ideal, so kann doch ein Gemälde dieser Art einige allgemeine, der Wirklichkeit entnommene Züge nicht entbehren, welche hier die Musik im Naturzustande ist. Aus diesem Grunde flocht Mozart in seine Arbeit häufige und lang anhaltende Modulationen des primitiven Gesanges; das Minore und Majore wechseln unaufhörlich mit einer Art von wildem Jubel und einer der Melancholie verwandten Lustigkeit ab, wie man es im Orient trifft. Ungewöhnliche und fast barocke Sätze sind da und dort eingestreut, wie um das Ohr irre zu führen und die Phantasie weit aus der europäischen Sphäre wegzuziehen. Dem Componisten ist dieß vollkommen gelungen. Eine glänzende Instrumentation trägt [162] beudeutend zur Erhöhung des Effects dieser Chöre bei, welche in ihrer Art das sind, was die komische Rolle in der Oper in der ihrigen ist; bewunderungswürdig und einzig. Mit dem grandiosesten Charakter, mit der treffendsten Originalität, mit der höchsten Wahrheit von Analogie, verbinden sie den ungemeinen Reiz, welchen die Kunst den primitiven Melodieen zu verleihen vermag, indem sie sie in ihren Formen idealisirt, und ihrer natürlichen Armuth, durch die Hilfsquellen der Harmonie und durch den Glanz der Instrumentation aufhilft. Die russischen Lieder, welche die Ausländer mit ebenso viel Vergnügen hören, als die Eingeborenen, sei es am Piano oder auf der Bühne, oder durch einen Sänger-Chor aufgeführt, welcher die Musik erlernt hat, diese Lieder, sage ich, sind zugleich die ideale und wahre Musik, von der wir sprechen. In ihnen liegt die russische Nationalität, und nicht in dem barbarischen Geheul, welches man bei einem Feste auf irgend einem Dorfe hören kann16.

Die Ouverture zur Entführung trägt dasselbe asiatische Gepräge, wenn gleich fühlbar modificirt und gemildert. Ihre Beziehungen zu dem Stücke beschränken sich darauf, den Ort, wo die Handlung spielt, zu bezeichnen. Ein Andante, welches sie nach unserer Ansicht entbehren könnte, scheidet sie in der Mitte und kommt in der ersten Cavatine Belmonte's in Dur wieder vor. Mozart fürchtete nicht, daß man beim Anhören seiner Ouvertüre einschlafe, gewiß nicht, sie scheint im Gegentheile dazu gemacht, selbst die Schläfer von Profession wach zu erhalten, welche [163] gewöhnt sind, auf ihren Lehnstühlen in der Oper ihre Siesta zu halten. Die große Trommel, die Triangel, die Cymbeln, das ganze türkische Contingent, verstärken die doppelte Phalanx des Orchesters, das vollständig auf dem Kriegsfuße, mit Trompeten und Pauken an der Spitze, beisammen ist. Nur die Posaunen fehlen. Lustig und munter läuft und hüpft das Presto von einer Tonart zur andern, ohne je seine Themas loszulassen, von denen einige wie Freudengeschrei erklingen, während andere, im Vorbeigehen, einige Seufzer der Wollust und Liebe ertönen lassen. Es ist ein großer Abstand zwischen der Ouverture zu der Entführung bis zu der zu Figaro, zu Don Giovanni, zu Titus und zu der Zauberflöte. Ganz gewiß; aber so, wie sie ist, bleibt ihr noch so viele Frische, ihr Gang ist so ungezwungen und so voll Geist und Feuer, sie hat eine so muntere und anspruchslose Weise, welche ihr so wohl ansteht, daß wir nicht wünschen, sie möchte mehr ihren jüngeren Schwestern gleichen. Wenn sie gelehrter wäre, so hätte sie einen Theil ihrer schlafvertreibenden Eigenschaft verloren, welche sie allen Classen von Dilettanten anempfiehlt.

Vielleicht habe ich in dieser Analyse die Vorliebe durchblicken lassen, welche ich von jeher für die Entführung gehabt habe. Die Werke, an welche sich glückliche Jugenderinnerungen knüpfen, behalten im reiferen Alter immer ein gewisses Vorrecht. Dessenungeachtet war ich gegen diese unwillkürliche Parteilichkeit auf meiner Hut; hier, wie an andern Orten, habe ich mich bemüht, so viel wie möglich das besonders hervorzuheben, was aus individuellen Gründen mir persönlich gefällt, gegenüber von dem, was vermöge der allgemeinen Gesetze des Schönen und Wahren gefallen muß. Diese Unterscheidung ist von der höchsten Wichtigkeit, und doch machen die meisten Liebhaber und Kritiker sie nicht. Sollte dieß [164] denn unmöglich sein? Ein Maler kann das Gesicht seiner Geliebten jedem andern Gesichte vorziehen, und dennoch anerkennen, daß es denn viel schönere gebe. Warum sollte einem Musiker in der Sphäre seiner Kunst eine analoge Unterscheidung versagt sein? Dieß zugegeben, so glauben wir ohne alle Illusion ahnen zu dürfen, daß das Sujet der Entführung eines der best gewählten ist, die es im ganzen Repertoir der komischen Oper gibt, daß die Intrigue gut durchgeführt ist, die Charaktere gut gezeichnet sind, und daß das Ganze dem Componisten die glücklichste Mischung von sentimentalen und komischen Scenen bot. Was die Partitur betrifft, so ist sie, die Wahrheit zu sagen, nicht so vortheilhaft arrangirt, als sie es sein könnte. Sie räumt dem Dialoge zu großen Spielraum ein. Die nachfolgenden Opern Mozart's sind viel reicher an Musik; einige sind sorgfältiger bearbeitet. Die Entführung scheint uns diese unbestreitbaren Vorzüge aufzuwiegen durch den Zauber ihrer Tenor-Arien, durch die Originalität und die Kraft der Baß-Arien, durch eine Frische der Inspiration, eine Fülle von geistigem Schwung und komischer Kraft, welche man nicht in demselben Grade in irgend einer andern Oper unseres Heros trifft, mit Ausnahme der, in welcher alle Ausdrücke in der Musik auf die höchste Stufe ihrer Mächtigkeit erhoben sich finden. Idomeneo und Titus, Figaro und Così fan tutte stimmen in manchen Beziehungen überein. Don Juan entspricht der Totalität der lyrisch-dramatischen Kunst. Die Entführung, sowie auch die Zauberflöte wurden über eine specielle Form gegossen.

Quelle:
Alexander Ulibischeff: Mozart's Leben und Werke. Stuttgart 2[1859], S. 133-165.
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