Neue Entwickelung der Idee des Liedes

[188] Eine ganze Reihe der schönsten Lieder wurden in jener Zeit von den beiden Weber's in gegenseitiger Anregung componirt, die man, in noch höherem Maße als die früheren gleichnamigen Produkte Carl Maria's, unbedingt als bedeutungsvolle Verlebendigungen einer neuen Idee vom Liede betrachten kann, die Mozart, der überhaupt ja Alles, was zur Musikgehört, wußte, schon gehegt, ihr aber leider nur in einem, aber auch einzig schönen Liede »Das Veilchen« Ausdruck gegeben hatte und die in der Hand Franz Schuberts die Höhe ihrer Entwickelung, in den Werken der neuen Musikschule aber die widrige, nervös krankhafte Entartung zeigt, die das deutsche Lied aus dem klingenden[188] Athemzuge des gesunden Volkes in das Lispeln hysterischer Salondamen und in seelenpathologische Experimente umgeschaffen hat.

Beide Musiker waren darin einig, daß eine verständigere und sinngemäßere musikalische Behandlung der Texte nothwendig sei, als die bisher übliche, nach der Schablone einer kurzen, häufig kaum auf die erste Strophe passenden Melodie, das ganze Lied abzuleiern. Sie empfanden stark, daß dem Ausdrucke der einzelnen Empfindung, dem deklamatorischen Gewichte der Verse mehr Rechnung als bisher getragen werden müsse, wenn das deutsche Lied sein Amt, »das Fühlen des Volkes auszutönen,« erfüllen sollte. Dabei erkannte man, als zwingende Bedingung, die Einfachheit und Gesundheit des Styls an.

Den Liederschatz, den Carl Maria hinterlassen hat, und auch manche von den gelungenen Liedern Gottfried Weber's, werden aus ihrer temporären Vergessenheit aufleben, wenn die Welt einmal von der heutigen Superfötation und der Kost für Rückenmarkskranke, mit denen sie die heutigen Componisten bewirthen, übersättigt, zur Schlichtheit und Größe echter Kunst zurückkehren wird. Die meisten, der damals von Carl Maria und Gottfried Weber componirten Lieder waren mit Guitarrebegleitung gesetzt. Der Mißbrauch, der in der romantischen Richtung später mit dem Guitarrengeklimper getrieben worden ist, hat das einfache Instrument, dessen Natur es so sehr für die Begleitung des Gesangs geeignet macht, sehr mit Unrecht in Mißkredit gebracht. Es ist für die passende Sekundirung einfacher, besonders deklamatorischer Gesänge, geschaffen; ja, es giebt viele der schönsten Liedercompositionen, die geradezu diese Art von Begleitung fordern und die nicht allein den Klang und das Tonwesen der Clavierbegleitung, als ihnen antipathisch, zurückweisen, sondern sogar mit derselben, für den sein empfindenden Sinn, total ihren Charakter einbüßen. Daher gehören z.B. Carl Maria's Lieder: »Die Schäferstunde«, oder sein wundersüßes Ständchen: »Horch ! leise horch!« von Baggesen, sein Lied: »Es sitzt die Zeit im weißen Kleid« und noch viele andere; eben so mehrere Lieder von Gottfried Weber, von denen wir nur: »Des Kriegers Abschied« aus seinem »Leier und Schwert« hervorheben.

Quelle:
Weber, Max Maria von: Carl Maria von Weber. Ein Lebensbild. Band 1, Leipzig: Ernst Keil, 1864, S. 188-189.
Lizenz:
Kategorien: