Gemeiner Hirschkäfer (Lucanus cervus)

[73] Der gemeine Hirschkäfer, Feuerschröter (Lucanus cervus, s. die Tafel), war schon den Alten seinem Aussehen nach bekannt; denn Plinius sagt an einer Stelle (11, 28, 34) seiner Naturgeschichte: »Die Käfer – er braucht dafür den Ausdruck Scarabaei – haben über ihren schwachen Flügeln eine harte Decke, aber keiner hat einen Stachel. Dagegen gibt es eine große Art, welche Hörner trägt, an deren Spitzen zweizinkige Gabeln stehen, welche sich nach Belieben schließen und kneipen können. Man hängt sie Kindern als ein Heilmittel an den Hals. Nigidius nennt sie Lucanus«. Moufet, welcher in seinem »Insectorum sive Minimorum Animalium theatrum«1 mit großem Fleiße alles gesammelt hat, was bis zu seiner Zeit über Insekten bekannt geworden ist, und von einer großen Menge, den damaligen Verhältnissen entsprechende, meist kenntliche Holzschnitte lieferte, bildet auch das Männchen des Hirschkäfers ab, glaubt aber, dasselbe für ein Weibchen erklären zu müssen, weil Aristoteles behaupte, daß bei den Insekten die Männchen immer kleiner als die Weibchen seien. Ihm gelten daher die Männchen kleinerer Formen für die Weibchen. Jetzt weiß es jeder Knabe, welcher einige Käfer kennt und in einer mit Eichen bestandenen Gegend lebt, wo der Hirschkäfer vorkommt, daß die Geweihträger die Männchen, die nur mit kurzen, in der gewöhnlichen Form gebildeten Kinnbacken versehenen Käfer die Weibchen sind. Die jüngsten Beobachtungen auch an anderen Hirschkäferarten haben gelehrt, daß je nach der spärlicheren oder reichlicheren Ernährung der Larven die Käfer kleiner oder größer ausfallen, und daß namentlich bei den Männchen die geweihartigen Kinnbacken der kleineren Käfer durch geringere Entwickelung dem ganzen Käfer ein verändertes Ansehen verleihen im Vergleiche zu einem vollwüchsigen. Man hat daher bei den einzelnen Arten mittlere und kleinere Formen unterschieden, ohne dafür besondere Namen zu ertheilen, wie früher, wo bei der gemeinen Art eine Abart als Lucanus capreolus oder hircus unterschieden wurde. Ein großer Zahn vor der Mitte und eine zweizinkige Spitze der männlichen Kinnbacken, die einem queren Kopfe entspringen, welcher breiter als das Halsschild ist, ein dünner Fühlerschaft, vier bis sechs unbewegliche [73] Kammzähne an der Geisel (hier die erstere Anzahl), abwärtsgebogene Oberlippe, tief ausgeschnittene Zunge an der Innenseite des Kinns und eine unbewehrte innere Lade des Unterkiefers charakterisiren neben der gestreckten Körperform die Gattung Lucanus. Unsere Art ist matt schwarz, die Flügeldecken und Geweihe glänzen kastanienbraun. Sie vergegenwärtigt einen der größten und massigsten Käfer Europas, welcher von der Oberlippe bis zu der gerundeten Deckschildspitze 52 Millimeter messen kann, eine Länge, die durch die geweihsörmigen Kinnbacken noch einen Zuwachs in gerader Richtung von 22 Millimeter erhält. Ein Weibchen von 43 Millimeter Länge hat eine schon recht stattliche Größe. Im Juni findet sich dieser Käfer in Eichenwäldern, wo an schönen Abenden die Männchen mit starkem Gesumme und in aufrechter Haltung um die Kronen der Bäume fliegen, während die Weibchen sich immer mehr versteckt halten. Bei Tage balgen sie sich bisweilen unter dürrem Laube an der Erde und verrathen durch das Rascheln jenes ihre Gegenwart, oder sitzen an blutenden Stämmen, um Saft zu saugen. Chop gibt in der »Gartenlaube« einen anziehenden Bericht über ihr Betragen bei diesen Gelagen, welcher gleichzeitig einen Beleg für ihr vorübergehendes massenhaftes Auftreten liefert. Unter dem kühlenden Schatten einer altersschwachen Eiche eines Gartens in Sondershausen hatte sich der Berichterstatter an einem besonders warmen Nachmittage zu Ende Juni 1863 niedergelassen, als ein eigenthümliches Geräusch über ihn seine Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Ein leises, in kurzen Zwischenräumen wiederkehrendes Knacken oder Knirschen ließ sich vernehmen, als ob kleine, dürre Zweige zerbrochen würden. Kurz darauf fiel ein schwärzlicher Gegenstand vom Baume in das Gebüsch unter ihm. Dieser Gegenstand ergab sich als ein Hirschkäfer, der, als er nach längerem Suchen gefunden war, im Begriffe stand, an der rauhen Rinde wieder emporzukriechen. Da das Geräusch nicht aufhörte und sich der Blick des kurzsichtigen Beobachters nach oben wandte, bot sich ihm in einer Höhe von reichlich 4,5 Meter am Stamme eine eigenthümlich braune Masse dar. Im Verlaufe einer halben Stunde waren nach und nach elf Hirschkäfer beiderlei Geschlechts herabgefallen, und weil der knirschende Laut noch immer sich vernehmen ließ, holte Chop eine Leiter herbei, um die auffällige Erscheinung näher zu untersuchen. Jetzt bot sich ihm ein seltsames Bild.

Auf einer Fläche von etwa 82 Quadratcentimeter war an der alten Borke Saft herabgeflossen. Zu diesem leckeren Mahle hatte sich eine sehr gemischte Gesellschaft von Kerfen zu Gaste geladen. Große Ameisen kletterten geschäftig auf und nieder, genäschige Fliegen aller Art saßen in gedrängten Haufen beisammen, und auch die Hornisse schwärmte grimmig summend um den Stamm. Die augenfälligsten Gäste aber, sowohl nach der Zahl, wie nach ihrer sonstigen Beschaffenheit, waren unzweifelhaft die Hirschkäfer. Es wurden deren vierundzwanzig Stück gezählt, die bereits eingefangenen nicht eingerechnet. Sie spielten augenscheinlich die wichtigste Rolle bei diesem Gastmahle und schienen trotz der süßen Speise nicht besonders guter Laune zu sein; denn selbst die kühnen Hornissen scheuten sich, den plumpen Gesellen und deren gewaltigen Zangen zu nahe zu kommen, und hielten sich in respektvoller Entfernung. Um so wüthendere Kämpfe fochten die Käfer untereinander aus, und zwar rangen mindestens zwei Drittheile derselben zusammen. Da auch die Weibchen mit ihren kurzen, kräftigen Zangen sich zornig verbissen hatten, so lag der Grund wohl nicht in der Eifersucht, sondern in dem wenig idealen Futterneide. Besonders interessant waren die Kämpfe der Männchen. Die geweihartigen Kiefern bis an das Ende schief übereinander geschoben, so daß sie über das Halsschild des Gegners hinwegragten und die Köpfe selbst sich dicht berührten, zum Theil hoch aufgebäumt, rangen sie erbittert mit einander, bis dem einen der Streiter die Kräfte verließen und er zur Erde hinabstürzte. Hin und wieder gelang es auch einem geschickteren Fechter, seinen Gegner um den Leib zu fassen, mit dem Kopfe hoch aufgerichtet ließ er ihn dann einige Zeit in der Luft zappeln und schließlich in die Tiefe stürzen. Das Knirschen rührte von dem Schließen der Kiefern her; von den gebogenen Seitenwulsten des Kopfschildes in die mittlere Einbiegung abgleitend, verursachten sie jenes vernehmbare Knacken. Indeß sah sich der Kampf grimmiger an, als er in Wirklichkeit war; denn Verwundungen wurden nicht beobachtet, [74] außer einem leichten Bisse in einem Kiefer. Die Annäherung des Beobachters ward nicht beachtet: die Kämpfer stritten weiter, die Sieger leckten gierig. Nur wenn der Athem sie unmittelbar berührte, zeigten sie sich beunruhigt. Dagegen wirkte das leiseste Geräusch, wie das Knacken eines Zweiges, sofort auf die ganze Gesellschaft. Sie richteten sich sämmtlich rasch und hoch auf und schienen eine Weile zu lauschen. Aehnliches geschah, wenn einer der Gefallenen von unten heraufsteigend sich wieder näherte; auch in diesem Falle richteten sich die Männchen auf und gingen dem Gegner etwa eine Spanne lang mit weit geöffneten Kiefern kampfgierig entgegen. Gegen Abend summte allmählich der größte Theil der Käfer davon, vereinzelter und schwächer tönte aber noch das Knacken von oben herab, als der Beobachter Abends 8 Uhr den Garten verließ. – Entschieden ernstlicherer Natur, als die eben geschilderten, sind die Kämpfe der Männchen um ein Weibchen, wie die tiefen Eindrücke oder sogar Durchbohrungen der Flügeldecken, am Kopfe oder an dem Geweihe einzelner Männchen beweisen. Wie versessen die Männchen auf ein Weibchen sind, wurde Haaber bei Prag gewahr, indem er ein Weibchen anband und in der Zeit von 11 bis 121/2 Uhr fünfundsiebzig herbeigeflogene Männchen, sämmtlich der kleineren Form angehörig, einfing. Die nächtlichen Umflüge sind gleichbedeutend mit den Hochzeitsfeierlichkeiten. Ende des genannten oder in den ersten Tagen des folgenden Monats ist die kurze Schwärmzeit vorüber, die Paarung hat des Nachts stattgefunden, die Weibchen haben darauf ihre Eier in das faulende Holz altersschwacher Eichbäume abgelegt, und die von Ameisen oder Vögeln ausgefressenen harten Ueberreste der männlichen Leichen liegen zerstreut umher und legen Zeugnis davon ab, daß hier Hirschkäfer gelebt haben. Es kann sogar vorkommen, und ist von mir einige Male beobachtet worden, daß die nach der Paarung matten Männchen, noch ehe sie verendet sind, von den räuberischen Ameisen bei lebendigem Leibe an- und ausgefressen werden und ihren harten Vorderkörper, des weichen Hinterleibes beraubt, auf den langen Beinen noch eine Zeitlang mühsam dahinschleppen, eine seltsame Behausung für einzelne Ameisen. Weibliche Leichen findet man darum nur selten, weil die wenigsten aus der Brutstätte wieder hervorkommen, und weil die Weibchen viel seltener als die etwa sechsmal häufigeren Männchen sind.

Die aus den rundlichen, 2,25 Millimeter langen Eiern geschlüpften Larven wachsen sehr langsam, indem sie sich von dem faulen Eichenholze ernähren, und erreichen erst im vierten (fünften?) Jahre eine Länge von 105 Millimeter bei der Dicke eines Fingers. Ihrer äußeren Erscheinung nach gleicht die Larve denen ihrer Familiengenossen. Sie trägt am hornigen Kopfe viergliederige Fühler, deren letztes Glied sehr kurz ist, eine stumpfzähnige Kaufläche an den Kinnbacken, zwei Laden an dem Unterkiefer, welche sich zuspitzen und an der Innenseite bewimpert sind. Die vorderen drei Körperringe, welche sich wegen der Querfalten wenigstens auf der Rückenseite unvollkommen von einander abgrenzen, tragen sechs kräftig entwickelte, einklauige Beine von gelber Farbe, der des Kopfes; nur die hornigen Mundtheile sind schwarz. Den Alten sind diese Larven ohne Zweifel auch schon bekannt gewesen; denn Plinius erzählt: »Die großen Holzwürmer, welche man in hohlen Eichen findet und Cossis nennt, werden als Leckerbissen betrachtet und sogar mit Mehl gemästet«. Sie müssen als Nahrungsmittel lange in Gebrauch gewesen sein; denn Hieronymus sagt: »Im Pontus und in Phrygien gewähren dicke, fette Würmer, die weiß, mit schwärzlichem Kopfe ausgestattet sind und sich im faulen Holze erzeugen, bedeutende Einkünfte und gelten für eine sehr leckere Speise«.

Die erwachsene Larve fertigt ein faustgroßes, festes Gehäuse aus den faulen Holzspänen oder tief unten im Stamme aus Erde, welches sie inwendig gut ausglättet. Ein Vierteljahr etwa vergeht, bis sie hier zu einer Puppe und diese zu einem Käfer geworden ist. Derselbe bleibt zunächst in seiner Wiege, ist es ein Männchen, die langen Kinnbacken nach dem Bauche hingebogen, und kommt, vollkommen erhärtet und ausgefärbt, im fünften (sechsten?) Jahre Ende Juni zum Vorscheine, um kaum vier Wochen lang sich seines geflügelten Daseins zu erfreuen. So lange ungefähr kann man ihn auch in der Gefangenschaft erhalten, wenn man ihn mit Zuckerwasser (oder süßen Beeren) ernährt.

[75] Die Mittheilungen Chops lassen auf große Mengen von Hirschkäfern in der Gegend von Sondershausen im Jahre 1863 schließen. Büttner gedenkt eines Hirschkäferschwarmes, welcher in der Ostsee ertrank und bei Libau angeschwemmt worden ist. Cornelius berichtet von der auffallenden Häufigkeit, in welcher die Hirschkäfer 1867 auf einer beschränkten Oertlichkeit bei Elberfeld geschwärmt haben, und knüpft daran die Vermuthung, daß aller fünf Jahre dergleichen wiederkehren dürfte, und somit die von Rösel angenommene Entwickelungszeit von sechs Jahren um ein Jahr herabgesetzt werden müsse. Der oben erwähnte Haaber meint diese Vermuthung bestätigen zu müssen, da er 1862 und dann wieder 1867 in der Gegend von Prag die Hirschkäfer in auffälligen Mengen beobachtet hat. Hier wie bei Elberfeld gedeihen dieselben in alten Eichenstubben, welche ihrer Vermehrung besonders günstig zu sein scheinen. Es wäre wohl von Interesse, auch für andere Gegenden auf das »Hirschkäferflugjahr« Acht zu haben. Der Käfer breitet sich über das ganze mittlere und nördliche Europa bis in das angrenzende Asien hinein aus und fehlt natürlich nur in den eichenlosen Gegenden.

Die Linné'sche Gattung Lucanus, neuerdings in zahlreiche weitere Gattungen zerlegt, hat Vertreter in allen Erdtheilen, die meisten in Asien, nächstdem in Südamerika (34), die wenigsten in Europa aufzuweisen, trägt den Charakter unseres gemeinen Hirschkäfers, insofern die Kinnbacken der Männchen vor denen der Weibchen mehr oder weniger geweihartig entwickelt sind. Um Lucanus gruppiren sich noch mehrere andere Gattungen mit nur wenigen europäischen Vertretern, bei denen dieses Kennzeichen nicht zutrifft, wohl aber die Bildung der Fühler und des Kinnes übereinstimmt und sie in ihrer Gesammtheit zu der Sippe der Hirschkäfer (Lucanidae) im weiteren Sinne vereinigt hat. Ihr Kinn ist nämlich vorn niemals ausgeschnitten, sondern trägt an seiner Innenfläche, seltener an der Spitze, die häutige oder lederartige, lang vorstreckbare Zunge, mit welcher diese Käfer nur Saft als Nahrungsmittel auflecken.

Fußnoten

1 Man meint, das genannte Buch sei ursprünglich von Konrad Geßner verfaßt, aus dessen Nachlasse, der in Joachim Camerarius' Hände gekommen war, Thomas Penn alle auf Entomologie bezüglichen Handschriften kaufte und dieselben mit Ed. Wottons sich darauf beziehenden Sammlungen vereinigte. Penn starb vor der Herausgabe, und Moufet setzte sein Unternehmen fort, bis auch ihn der Tod überraschte. So lag die Handschrift dreißig Jahre lang, bis sie auf Veranlassung der königlichen Akademie 1634 in einem haarsträubenden Latein herausgegeben wurde. Der letzten Angabe widerspricht der Titel, und in der Vorrede sagt Mayerne, die Erben hätten aus Mangel an Vermögen und eines Herausgebers die Handschrift liegen gelassen; außerdem erwähnt Moufet, daß er über einhundertundfunfzig Figuren und ganze Abschnitte hinzugefügt habe.


Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Erster Band: Die Insekten, Tausendfüßler und Spinnen. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1884., S. 73-76.
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