Zwergschlange (Calamaria albiventer)

[296] Die Zwergschlange (Calamaria albiventer und Linnei, Changulia albiventer) erreicht achtundzwanzig Centimeter an Länge, hat fünf Oberlippenschilder und zeichnet sich auch [296] dadurch aus, daß das erste Paar der Unterlippenschilder mit den übrigen nicht in Verbindung steht. Der Kopf ist braun, dunkler gefleckt, der braune Leib durch vier zinnoberrothe Längsstreifen gezeichnet, der Bauch im Leben karminroth, die Reihe der Unterschwanzschilder durch ein Zackenband geschmückt. Das Vaterland ist Ostindien.

Alle zu gedachter Sippe gehörigen Zwergschlangen leben auf den Eilanden des Ostindischen Inselmeeres und nur wenige von ihnen werden auch auf den benachbarten Festlanden, beispielsweise der Malaiischen Halbinsel gefunden; der Indischen Halbinsel und Ceylon fehlen sie gänzlich. Keine einzige Art erreicht mehr als vierzig Centimeter Länge. Sie leben sämmtlich auf dem Boden, bewegen sich bloß übertages und nähren sich von kleinen wirbellosen Thieren. Nach Cantors Beobachtungen trifft man sie nirgendwo in größerer Anzahl an. Sie sind träge, bewegen sich langsam und flüchten selbst bei Verfolgung niemals weit, ziehen im Gegentheil vor, sich bewegungslos hinzulegen und anscheinend todt zu stellen. Feinden gegenüber vertheidigen sie sich nicht, versuchen niemals zu beißen, ja kaum zu entfliehen. Unter allen bekannten Schlangen sind sie wohl die hinfälligsten; denn sie vermögen weder lange zu fasten, noch irgend welche, ihnen angethane Gewalt zu ertragen. In der Gefangenschaft verschmähen sie alle Nahrung und gehen infolge dessen bald ein, ganz abgesehen davon, daß man sie kaum berühren kann, weil der leichteste Druck ausreicht, sie zu tödten. In den Magen der von ihm untersuchten Arten fand Cantor Ueberreste von Kerfen und etwas Sand. Ueber ihre Fortpflanzung vermag ich nichts zu sagen.

Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Alten unter ihren Drachen unsere heutigen Riesenschlangen verstanden. Die auffallende Größe dieser Thiere, ihre bedeutende Stärke und die allgemeine Furcht vor den Schlangen insgemein lassen die Uebertreibungen, deren jene sich schuldig machten, sehr begreiflich und der noch heute in vielen Köpfen spukende Wunderglaube neben der beliebten Faselei gewisser Reisenden und sogenannter Naturbeschreiber auch sehr verzeihlich erscheinen. Von einem Menschen, welcher sich den vermeintlichen Ungeheuern gegenüber schwach fühlte, darf es uns nicht Wunder nehmen, daß seine Furcht mehr als doppelt sah und seine Einbildungskraft gedachte Ungeheuer mit Gliedern begabte, welche nicht vorhanden sind. Die sogenannten Aftersporen der Riesenschlangen, welche wir gegenwärtig als verkümmerte Fußstummel deuten, wurden von den Alten übersehen, dafür aber den in ihren Augen scheuslichen Geschöpfen eigenthümliche Füße und wunderbare Flügel angedichtet. Im Verlaufe der Zeit begabte die Phantasie die Drachen noch reichlicher: der christliche Teufelsspuk kam mit ins Spiel, und aus den unverständlichen Märchensagen der Morgenländer erwuchsen nach und nach Gestalten, für welche der Vernünftige vergeblich Urbilder suchte, weil die Kunde von den Riesenschlangen wenigstens fast verloren gegangen war. Um so inniger klammerte sich der Gläubige an die abgeschmackte Schilderung von dem »großen Drachen oder der alten Schlange, die da heißet Teufel oder Satanas und ausgeworfen ward auf die Erde, um die ganze Welt zu verführen«, und mit dem Begriffe Drache verband sich nach und nach der des Teufels, bis zuletzt die Benennung Drache zu einem Schmeichelnamen von jenem selbst wurde. In dieser Bedeutung wird das Wort noch heutigentages von dem Volke gebraucht, beispielsweise von den in anderer Hinsicht sehr gebildeten thüringer Bauern.

Zur Zeit des alten Geßner, also Ende des sechzehnten Jahrhunderts, war die Welt noch nicht so arg verdorben wie heutigentages. Der gegenwärtig allgemeine Unglaube erfüllte damals wenige lichtvolle Köpfe, und der Märchenkram wurde gläubig hingenommen auch von denen, welche sich Naturforscher nannten. Geßner hat sich redliche Mühe gegeben, die Drachen zu schildern und deshalb aus den Schriften der Alten alles zusammen getragen, was ihm wichtig erschien. Ich will diesen Angaben ihre alterthümliche Färbung nicht nehmen und lasse daher meinen alten Freund selbst reden. »Diser namen Track, kompt bey den Griechen von dem scharpffen gesicht her, vnd wirt [297] offt von den schlangen ingemein verstanden. Insonderheit aber sol man diejenigen schlangen, so groß vnd schwer von leyb, all ander grösse halb übertreffen, Tracken heissen. Sind derhalben gegen den schlangen, wie die grossen wallfisch gegen den anderen fischen, zu achten. Augustinus sagt man finde keine thier auff erden die grösser seyen dann die Tracken. Aelianus schreybt, Morenland zeuge Tracken dreyssig schritt lang, dieselben söllen kein eignen namen bey den Moren haben, sonder werden allein Helffantentöder genennt, vnd kommen auff ein hoch alter. Zur zeyt deß grossen Alexanders hat ein Indianer zwen grosse Tracken, deren der ein sechsundvierzig, der ander achtzig ellenbogen lang gewesen, ernehrt vnd erzogen, welche der groß Alexander von mercklicher grösse wegen zu sehen begärt hat. Es ist die sag bey den Egyptern (sagt Aelianus) das, als der könig Philadelphus regierte, zwen läbendige Tracken (der ein vierzehn der ander dreizehn ellenbogen lang) auß Aethiopia gehn Alexandriam seyen gefürt worden. So habe man auch zu deß Euergetis zeyten drey dahin gebracht, die siben vnd neun ellen an der lenge gehabt, der dritte seye mit grossem vnkosten vnd fleyß in deß abgotts Aeskulapij Tempel aufferzogen vnd gespeyßt worden. Es meldet auch Aelianus, daß der groß Alexander in Indien vil seltzame thier gesehen vnd angetroffen, vnder andern habe er alldah einen Tracken funden, daß er doch auß fürbit der Indianer, die ihm für heilig achteten, verschonet. Sie sagen er were siebentzig ellenbogen lang. Doh er deß Alexanders herzüg hörte herzu rucken pfeiff er so grausamm, daß alles volck hefftig daruon erschrack. Er liesse sich nit gar auß der spelunck, sonder strackt allein den kopff herfür. Seine augen söllen grösse halber einem grossen schilt gleych gewesen sein. Aethiopia gebirt viel Tracken, sonderlich gegen mittag, von nähe wegen der Sonnen vnd grosser hitz, deren mertheils zwantzig elln lang sind. Sonst findt man sie auch in India, Nubia, Libya vnd dergleychen heissen landen in grosser menge, die zu zeyten funffzehen schrit lang, vnd mit der dicke den blöcheren nit vngleich, doch sind die Indianischen meertheil grösser vnd vngeheüwrer, weder die so in Morenland erwachsen. Sie werden fürnemlich in zwey geschlecht abgetheilt, die einen enthalten sich in bergen vnd bergachten orten, sind groß, hurtig, geschwind vnd haben kämm, die andern aber wohnen in mösern vnd sümpffen, sind treg, faul vnd gemach, es wachßt jnen kein kamm. So haben auch ettlich flügel, vnd ettlich nit. Augustinus sagt: der Track ligt offt in seiner spelunck, sobald er aber die feuchtigkeit deß luffts empfindt, begibt er sich herfür, vnd schwingt sich mit hilff seiner flügler in die höche, vnd fleügt mit grosser vngestüme daruon. Ettlich schleichend mit der brust oder bauch auff der erden on füß, etlich habend füß. Die einen haben ein klein maul gleych einem rohr, die andern aber, so in India, Morenland vnd dergleychen orten geboren werden, haben ein so groß maul, daß sie gantze vögel vnd andere thier verschlinden. Ir zung ist zwyfach. Die zän starck vnd groß, scharpff vnd versetzt wie einsägen, die wol vnd scharpff gefeylet ist. Sy haben gar ein scharpff gesicht, vnd ein gut gehör, schlaffen selten, werden auß der vrsach von Poeten hüter der schätz geheisen, die die schetz bewahren, daß man vor jnen nit darzu kommen möge. Woh er wohnet da wird der lufft von seinem pfeiffen vnd gifftigem dampff verunreinigt. Er läbt von allerley speysen, von öpflen, kreüteren, eyeren, mancherley thieren vnd vöglen. Gar lange zeyt mag er ohn speyß läben, vnd insonderheit enthalt er sich lang ohn nahrung wenn er alt worden vnd sein gebürliche grösse erreicht. Wenn er aber die speyß bekompt vnd sich darhinder laßt, so wird er nit bald ersettiget. In Phrygia sicht man tracken zähen schrit lang, dieselben lassen sich bey dem fluß Rhindaco alle tag vmb essen-zeyt auß jren speluncken, stützen sich auff den schwantz, erheben den gantzen leyb entbor, vnd richten den halß auff, also mit auffgesperrtem maul wartende, daß sie die vögel, so hinüber fliegen, wie schnell sie auch seyen, mit jrem athem an sich ziehen, vnd verschlinden. Sölchs treyben sie, biß die Sonn vndergeht, darnach so verbergen sie sich vnd laustern auff daß vych daß man widerumb eintreybt, rauben vnd schedigen dasselbig, offt bringen sie die hirten auch vmb daß läben. Der adler tragt stetige feyndschafft wider den Tracken, dieweyl er auch die schlangen frisset. Die Tracken haben auch ein ewigen streyt mit den Helffanten. Aethiopia gebirt Tracken (wie angezeigt) dreyssig schritt lang, welche kein sondern namen haben, dann allein das man sie Helffantenmörder nennet. Dieweyl [298] demselben Tracken bewüßt, daß die Helffanten etliche böum abweiden, so nimpt er fleissig wahr, vnd ersteigt dieselben böum, bedeckt sein schwantz mit laub vnd esten, den vorderen teil laßt er wie ein seil hinabhangen. Wann dann der Helffant herzustreicht die obersten schoß abzufressen, so springt er seinen augen vnuersehens zu, reiß jm sie auß, verwicklet vnd verstrickt jn dermassen, daß er auff dem platz bleyben muß. Offt legen sie sich neben die straassen, die die Helffanten zu gehen pflegen, vnd wartend auff sie verborgen, lassen die vorderen gehn, vnd fallen den hindersten an, daß jm die ersten nit mögend zu hilff kommen, verbindend jm mit den schwentzen die bein, daß er nit weyter kommen mag, vnd erwügen jn also. Plinius sagt sy seyen alldah so groß, daß sie den Helffanten den gantzen leyb vmbschlahen vnd zustricken mögen. Der Track aber werde jm fallen vom Helffanten auch zertruckt vnderschlagen. Deßgleichen wenn sie den Helffanten anfallen vnd vmbschlahen, so reibe er sich an einen felsen oder baum, daß er den Track zerreibe vnd zermale, sölichem aber vorzukommen brauch der Track ein anderen list, winde sich vmb seine bein, daß er nit fortschreiten möge. Die Tracken haben wenig oder gar kein gifft, werden derhalben vnder dise schlangen gezellt, so mehr der wunden dann giffts halben schedlich sind. Derhalben ist zu mercken das die Tracken von art vnd natur nit vergifft sind, jedoch werden nach gelegenheit der landen auch gifftige gefunden. Gleych wie auch andere schlangen in kalten landen nit so schedlich sind wie in Aphrica vnd dergleychen heissen gegnen, dahär sagt Lucanus: ›Ir Tracken die jm gantzen land Unschädlich bißhär sind erkannt, Sind doch in Aphrica zumal Vergifft vnd schädlich überal.‹ Wann sie menschen oder thieren nachstellen vnd auffsetzig sind, so pflegen sie zuuor vergiffte kreuter vnd wurtzen zu ässen: sonst thun sie grössern schaden mit dem schwantz dann mit den zänen, vnd welchen sie mit dem schwantz fassen den erwürgen sie. Ir biss ist nit groß vnd peynlich, dann sie haben ein klein maul vnd streyten nit bald mit beyssen, sonder erzeigen jr stercke fürnemlich im schwantz.«

Wenn man sich der Uebertreibungen erinnern will, welche sich einzelne Reisende noch heutigentages zu Schulden kommen lassen, wird man sich mit vorstehender Schilderung wahrscheinlich aussöhnen. Noch gegenwärtig spricht man von funfzig Fuß langen Riesenschlangen; noch gegenwärtig scheut man sich nicht zu erzählen, daß solche Ungeheuer wohl auch über Pferde, Rinder und andere Thiere herfallen, sie erwürgen und verschlingen; und wenn man den Elefanten nicht mehr in das Bereich der Beutestücke unserer Schlangen zieht, so geschieht dies vielleicht nur, weil man die alten Geschichten vergessen hat. Es mag sein, daß die Riesenschlangen vormals eine bedeutendere Größe erlangten als gegenwärtig, wo ihnen der besser ausgerüstete Mensch entgegentritt und mit seinen furchtbaren Waffen das Leben kürzt; solche Schlangen aber, wie sie die Alten uns beschrieben, hat es nie gegeben. Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie außerordentlich schwer es hält, die Länge der Schlangen richtig zu schätzen. Selbst derjenige, welcher hierin wohl geübt ist und seine Schätzungen später durch Anlegung des Maßstabes erprobt hat, irrt in unbegreiflicher Weise. Schon bei kleinen Schlangen von Meterlänge, und selbst wenn man diese ruhig vor sich liegen sieht, auch volle Zeit hat, ihr Bild genau sich einzuprägen, ist man nur zu leicht geneigt, ein reichliches Drittheil zuzusetzen; bei Schlangen aber, welche drei Meter lang sind, verdoppeln und verdreifachen sich die Schwierigkeiten und damit die Fehler der Schätzung, und wenn solches Thier vollends sich bewegt, ist letztere einfach unmöglich. Worin dies eigentlich liegt, vermag ich nicht zu sagen, sondern nur als thatsächlich zu versichern, daß ausnahmslos jeder überschätzt, welcher überhaupt zu schätzen versucht, und daß jeder immer wieder in dieselben Fehler verfällt, auch wenn er denselben wiederholt erkannt hat. Ueber die Täuschung vergewissert man sich erst, nachdem man den Maßstab angelegt hat. Kein Wunder also, daß die rege Einbildungskraft der Eingeborenen südlicher Gegenden sich noch viel weniger als die unsrige Schranken auferlegt und die wirkliche Größe auf das doppelte und dreifache schätzt. Derselbe Indier oder Südamerikaner, welcher mit dem Anscheine vollster Zuverlässigkeit von einer funfzig Fuß langen Riesenschlange erzählt, die er selbst gesehen, bezüglich erlegt haben will, wird dem ruhig messenden Forscher, welcher ein Thier von sechs Meter erlegte, erklären, daß letzteres an Größe alles von ihm gesehene gleicher Art bei weitem übertreffe.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Siebenter Band, Dritte Abtheilung: Kriechthiere, Lurche und Fische, Erster Band: Kriechthiere und Lurche. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1883., S. 296-299.
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