Fünfte Ordnung: Die Spaltfüßer[53] (Entomostraca)

Diese vielgestaltige Gruppe mikroskopischer oder kleiner, höchstens einen bis drei Centimeter lang werdender Krebse enthält theils freilebende und in diesem Falle wohlgegliederte, mit Mundwerkzeugen versehene Gattungen, theils solche, welche bei parasitischer Lebensweise alle äußere Gliederung verlieren und deren Mundtheile in einen Saugrüssel umgestaltet werden. So weit gehen die Veränderungen in den späteren Lebensabschnitten dieser zahlreichen Schmarotzerkrebse, daß sie anfänglich, als man sich gegen Ende des vorigen und in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts mit ihnen bekannt machte, überhaupt gar nicht für Gliederthiere gehalten wurden, bis die Uebereinstimmung ihrer Jugendformen mit denen anderer niederer Krebse die Zoologen eines [53] besseren belehrte. Ihre Zusammengehörigkeit mit den freilebenden Formen des Cyclops und anderen Gattungen wird durch eine ununterbrochene Reihe von vermittelnden Arten bewiesen. Diese Formenmannigfaltigkeit macht es daher auch unmöglich, in wenigen Zeilen eine für alle anwendbare Charakteristik zu geben, ein Geständnis, was die neuere Naturforschung entweder unbedingt oder mit einiger Beschränkung eigentlich bei der Aufstellung aller sogenannten Ordnungen und wie man die verwandten Gruppen heißen mag, vorauszuschicken hat.

Wir unterscheiden uns darin wesentlich von den trefflichen Zoologen der Linné'schen und nachlinné'schen Zeit, die mit möglichst kurzen »Diagnosen« auskamen. Seitdem hat man neben den sogenannten »typischen«, das heißt eine Reihe von unterscheidenden Merkmalen in auffälliger Weise zeigenden Arten und Gattungen, die sich in einen Katalog von mäßigem Umfange bringen ließen, so viele sogenannte »Zwischenformen« und »Uebergangsarten« kennen gelernt, daß allgemein gehaltene, kürzere Angaben über Gestalt, Bau und Lebensweise eben nur noch auf jene eklatanten, man möchte sagen Musterthiere passen. Und dies gilt nun auch für die Spaltfüßer.

Sie heißen so, weil ihr vom Kopfbruststücke deutlich geschiedener Leib zweiästige, gespaltene Beine besitzt. Auch haben sie nie eigenthümliche Athmungsorgane, wie die vorigen Ordnungen, sondern ihre dünnhäutigen, nie zu Schildern und Panzern sich erweiternden Körperbedeckungen gestatten überall den die Athmung bedingenden Gasaustausch. Noch wäre von allen freischwimmenden Formen hervorzuheben, daß ihre vorderen Fühlhörner ein paar mächtige Ruderorgane bilden, und der Körper mit zwei gabelig auseinander stehenden Platten endigt, an deren Spitze mehrere lange Schwanzborsten aufsitzen.

Die Entwickelung ist mit einer auffallenden, bei vielen Schmarotzerkrebsen rückschreitenden, das heißt in einer Verkümmerung gewisser Körpertheile sich aussprechenden Verwandlung verbunden. Die Larven von ovalem Körper, mit unpaarem Stirnauge und drei Paaren von Gliedmaßen in der Umgebung des Mundes, wurden, wie dies gar manchen Jugendformen niederer Thiere begegnet, für eine eigene Thiergattung gehalten und mit dem Namen Nauplius belegt. Mit einer Reihe von Häutungen ist ein allmähliches, knospenartiges Hervorsprossen der Leibes-und Hinterleibsringe und ihrer Gliedmaßen verbunden. Manche Schmarotzerkrebse setzen sich aber unmittelbar nach der ersten Häutung fest oder, nachdem ihre Gliederung nach einigen Häutungen schon weiter vorgeschritten ist, verlieren alsdann an ihrem ganz eiförmig werdenden Körper alle Gliederung, und ihre Ruderfüße bleiben entweder als kleine Stummel erhalten oder gerathen auch, wie der österreichische Kanzleistil sagt: »in Verstoß«. Bei diesen, für ihre ganze Lebenszeit an einer Stelle ihres gastlichen und von ihnen geplagten Wohnthieres festgehefteten Schmarotzern ist auch das Auge geschwunden, das ihnen während der schwärmerischen Jugendzeit von Nutzen war. Die schönen Anlagen der Jugend sind eben nicht entfaltet; es hätte etwas Rechtes, nämlich ein wirklicher, bis zu seinem Tode sich munter tummelnder Spaltfüßer werden können, es wurde aber nur ein elender, seine Jugend Lügen strafender, einem seiner Mitthiere zur Last fallender Taugenichts und unbehülflicher Freßsack daraus.

Man spricht jetzt in der wissenschaftlichen Welt schlechthin von der Nauplius-Entwickelung dieser und anderer niederen Krebse und von der Zoëa-Entwickelung der höheren, die uns oben bei den Krabben bekannt geworden. Unser Freund Fr. Müller, dessen feine Beobachtungen und Bemerkungen wir wiederholt angezogen, hat die Meinung ausgesprochen, daß die niedrigsten Krebse, mit denen in den ältesten, vorweltlichen Zeiten das Leben der Klasse begonnen, diese Nauplius-Form gehabt hätten. Wir dürfen zwar nicht hoffen, solche zarte Körperchen einst noch zur Bestätigung jenes Gedankens konservirt zu finden; allein eine merkwürdige Entdeckung Müllers hat wirklich zur Bewahrheitung wesentlich beigetragen. Unter der von vielen positiven Thatsachen gestützten Voraussetzung, daß die Entwickelungs- und Jugendzustände der heute lebenden Thiere an die vorweltlichen Vorläufer und Voreltern derselben erinnern, hoffte der nach Bestätigungen der Darwin'schen Lehre suchende Naturforscher wenigstens den einen und den anderen höheren Krebs [54] zu finden, dessen Entwickelung nicht bloß durch die Zoëa-Form ginge, sondern, mit der Nauplius-Form beginnend, eine nun vollständige, kurze Rekapitulation seiner ganzen Urgeschichte und urhistorischen Entwickelung vor Augen führte. Er suchte und fand: eine bei Desterro lebende Garneele kommt in der Nauplius-Form aus dem Eie und geht erst aus dieser in die Zoëa-Form über.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Zweiter Band: Die Niederen Thiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1887., S. 53-55.
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