Erste Familie: Flughunde (Pteropina)

[304] Die erste Unterabtheilung und Familie wird gebildet durch die Flughunde oder fruchtfressenden Fledermäuse (Pteropina).

Alle zu dieser Gruppe gehörigen Flatterthiere bewohnen ausschließlich die wärmeren Gegenden der alten Welt, namentlich Südasien und seine Inseln, Mittel- und Südafrika, Australien und Oceanien. Ihrer Größe wegen sind sie seit den ältesten Zeiten als wahre Ungeheuer verschrien worden. Sie, die harmlosen und gemüthlichen Thiere, hat man als scheußliche Harpyien und furchtbare Vampire angesehen; unter ihnen suchte man die greulichen Wesen der Einbildung, welche sich auf schlafende Menschen setzen und ihnen das Herzblut aussaugen sollten; in ihnen sah man die zur ewigen Verdammnis verurtheilten Geister Verworfener, welche durch ihren Biß unschuldige Lebende ebenfalls wieder zu Verworfenen verwandeln könnten. Kurz, der blühendste Aberglaube beschäftigte sich mit wahrem Behagen mit diesen Säugethieren, welche weiter nichts verschuldet haben, als etwas eigenthümlich gebildet zu sein, und in ihrer Ordnung einige kleine und eben wegen ihrer geringen Größe ziemlich unschädliche Mitglieder zu besitzen, welche sich des Frevels der Blutaussaugung allerdings schuldig machen.

Die Naturwissenschaft kann die abergläubischen Leute – denn heute noch gibt es gerade genug der Natur vollkommen entfremdete Unwissende, welche in unseren Thieren scheußliche Vampire zu sehen glauben – besser über die fruchtfressenden Fledermäuse oder Flughunde belehren. Sie haben so ziemlich die Fledermausgestalt, aber eine viel bedeutendere Größe und einen gemüthlichen Hunde- oder Fuchskopf, welcher ihnen den Namen Flughunde oder fliegende Füchse verschafft hat. Die Flatterhaut, und deshalb auch die Gliederung der Arme und Beine ist der anderer Fledermäuse ähnlich; außer dem Daumen hat aber noch der Zeigefinger den krallenförmigen Nagel. Der Nase fehlt der Hautansatz, und die Ohren sind niemals mit einer Klappe versehen. Hierdurch kennzeichnen sie sich also leicht von den übrigen Fledermäusen. Das Gebiß besteht aus vier Schneidezähnen oben und unten, einem Eckzahne in jedem und drei bis fünf Backenzähne im oberen, fünf bis sechs Backenzähnen im unteren Kiefer. Alle Backenzähne haben platte Kronen und eine mittlere Längsfurche. Die unteren Schneidezähne fehlen den Mitgliedern einer Sippe.

Die Flughunde bewohnen am liebsten dunkle Waldungen und bedecken bei Tage oft in unzählbarer Menge die Bäume, an deren Aesten sie, Kopf und Leib mit den Flügeln umhüllt, reihenweise sich anhängen. In hohlen Bäumen findet man sie wohl auch, und zwar zuweilen in einer Anzahl von mehreren hundert Stücken. In düsteren Urwäldern fliegen sie manchmal auch bei Tage umher; ihr eigentliches Leben beginnt aber, wie das aller Flatterthiere, erst mit der Dämmerung. Ihr scharfes Gesicht und ihre vortreffliche Spürnase lassen sie die Bäume ausfindig machen, welche gerade saftige und reife Früchte besitzen; zu diesem kommen sie einzeln, sammeln sich bald in große Scharen und sind im Stande, einen solchen Baum vollkommen kahl zu fressen. In Weinbergen erscheinen sie ebenfalls nicht selten in bedeutender Anzahl und richten dann großen Schaden an; denn sie nehmen bloß die reifen und süßen Früchte: die anderen überlassen sie den übrigen Fruchtfressern. Zuweilen unternehmen sie weitere Wanderungen und fliegen dabei von einer Insel auf die andere, manchmal über ziemlich breite Meeresarme weg. Die Früchte saugen sie mehr aus, als sie dieselben fressen; den Faserstoff speien sie aus. Süße und duftige Früchte werden anderen entschieden vorgezogen, und deshalb bilden Bananen, Feigen und dergleichen, ebenso auch wohlschmeckende Beeren, zumal Trauben, ihre Lieblingsnahrung. Wenn sie einmal in [304] einem Fruchtgarten eingefallen sind, fressen sie die ganze Nacht hindurch und verursachen dabei ein Geräusch, daß man sie schon aus weiter Entfernung vernehmen kann. Durch Schüsse und dergleichen lassen sie sich nicht vertreiben; denn so geschreckt fliegen sie höchstens von einem Baume auf den anderen und setzen dort ihre Mahlzeit fort.


Schädel und Geripp des Kalong. 1/10 natürl. Größe. (Aus dem Berliner anatomischen Museum.)
Schädel und Geripp des Kalong. 1/10 natürl. Größe. (Aus dem Berliner anatomischen Museum.)

Bei Tage sind sie sehr furchtsam und ergreifen die Flucht, sobald sie etwas Verdächtiges bemerken. Ein Raubvogel bringt sie in Aufregung, ein heftiger Donnerschlag geradezu in Verzweiflung. Sie stürzen ohne weiteres von oben zur Erde herab, rennen hier im tollsten Eifer aus einander, klettern an allen erhabenen Gegenständen, selbst an Pferden und Menschen, gewandt in die Höhe, ohne sich beirren zu lassen, hängen sich fest, breiten die Flügel thun einige Schläge und fliegen dahin, um sich ein anderweitiges Versteck zu suchen. Ihr Flug ist rasch und lebhaft, aber nicht eben hoch; doch treibt sie ihre Furchtsamkeit bei Tage ausnahmsweise in eine Höhe von über hundert Meter empor. Sie können nur von erhabenen Gegenständen, nicht aber von der Erde abfliegen, sind jedoch ganz geschickt auf dieser und laufen wie die Ratten umher, klettern auch vorzüglich an Baumstämmen und Aesten bis in die höchsten Wipfel hinauf. Sie schreien viel, auch wenn sie ruhig an Bäumen hängen, und zwar eigenthümlich knarrend und kreischend, lassen zuweilen auch ein Zischen vernehmen wie Gänse.

Das Weibchen bringt einmal im Jahre ein oder zwei Junge zur Welt, welche sich an der Brust festhalten und von der Mutter längere Zeit umhergetragen, sehr geliebt und sorgfältig rein gehalten werden.

In der Gefangenschaft werden sie nach geraumer Zeit zahm, gewöhnen sich auch einigermaßen an die Personen, welche sie pflegen, zeigen sogar eine gewisse Anhänglichkeit an solche. Sie nehmen ihnen bald das Futter aus der Hand und versuchen weder zu beißen noch zu kratzen. Anders ist es, wenn man sie flügellahm geschossen hat oder sie plötzlich fängt: dann wehren sie sich heftig und beißen ziemlich derb. Man nährt sie in der Gefangenschaft mit gekochtem Reis, allerlei frischen oder getrockneten Früchten, dem Marke des Zuckerrohrs und dergleichen; auch fressen sie dann und wann Kerbthiere. Wenn man ihnen Speisen und Getränke in der hohlen Hand vorhält, gewöhnt [305] man sie bald daran, diese wie ein Hund zu belecken. Bei Tage sind sie ruhig, obgleich sie zum Fressen sich herbeilassen; abends aber geht ihr Leben an.

Der Nutzen, welchen diese Flatterthiere bringen, kann den von ihnen verursachten Schaden nicht aufheben; doch kommt der letztere in ihrer fruchtreichen Heimat nicht eben sehr in Betracht. Ihr Nutzen ist freilich auch gering. Sie werden gegessen, und man behauptet, daß das Fleisch, trotz seines unangenehmen Bisamgeruches, wohlschmeckend und dem Kaninchen- oder Feldhühnerfleische ähnlich sein soll. Namentlich junge Thiere, welche erst ein Alter von fünf Monaten erreicht haben, werden gerühmt. Selbst ihren Pelz soll man verwenden können.

Es ist anziehend und unterhaltend, die Ansichten verschiedener Völker über diese Thiere kennen zu lernen. Schon Herodot spricht von großen Fledermäusen in Arabien, welche auf der in Sümpfen wachsenden Pflanze Casia sich aufhalten, sehr stark sind und fürchterlich schwirren. Die Leute, welche die Casia sammeln, bedecken ihren ganzen Leib und das Gesicht bis auf die Augen mit Leder, um sie hierdurch von ihren Gesichtern abzuhalten, und können dann erst Ernte halten, »wiewohl Plinius sagt«, fügt der alte Geßner hinzu, »daß diß falsch, vnd allein vmb Gewinns willen erdacht sei«. Strabo erzählt, daß es in Mesopotamien, in der Nähe des Euphrat, eine ungeheuere Menge Fledermäuse gäbe, welche viel größer wären als an anderen Orten, gefangen und gegessen würden. Der Schwede Köping erwähnt zuerst, daß die Flatterhunde des Nachts in ganzen Herden hervorkämen, sehr viel Palmensaft tränken, davon berauscht würden und dann wie todt auf den Boden fielen. Er selbst habe einen solchen gefangen und an die Wand genagelt; das Thier aber habe die Nägel benagt und sie so rund gemacht, als wenn man sie befeilt hätte. Jeder unkundige Europäer, namentlich die weibliche Hälfte der Menschheit, erblickt in den Flederhunden entsetzliche Vampire und fürchtet sich fast vor den Ungeheuern. Die Hindus dagegen sehen in ihnen heilige Wesen. Als sich Hügel bei Nurpur befand und abends durch die Straßen ging, sah er über sich ein Thier fliegen, schoß mit seiner Doppelflinte nach ihm und erlegte eine Fledermaus von der Größe eines Marders. Augenblicklich rotteten sich die Leute zusammen, erhoben furchtbares Geschrei und wüthendes Geheul und hielten ihm das gellende, kreischende Thier vor. Er sicherte sich dadurch, daß er sich mit dem Rücken an die Wand lehnte und die Flinte vorstreckte, konnte aber den Aufruhr nur durch eine Unwahrheit beschwichtigen, indem er sagte, er habe das Thier für eine Eule gehalten.


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Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Erster Band: Die Insekten, Tausendfüßler und Spinnen. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1884., S. CCCIV304-CCCVI306.
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