2. Sippe: Renthieren (Rangifer)

[117] Bei den Renthieren (Rangifer) tragen beide Geschlechter Geweihe, welche von dem kurzen Rosenstocke an bogenförmig von rück- nach vorwärts gekrümmt, an ihren Enden wie an dem Augensproß schaufelförmig ausgebreitet, fingerförmig eingeschnitten und schwach gefurcht sind. Sehr breite Hufe und längliche, aber stumpf zugespitzte Afterklauen zeichnen diese Hirsche aus. Ihre Gestalt ist im allgemeinen ziemlich plump, namentlich der Kopf unschön; die Beine sind verhältnismäßig niedrig; der Schwanz ist sehr kurz. Nur die alten Männchen haben im Oberkiefer kleine Eckzähne.

[117] Man darf das Renthier als den wichtigsten aller Hirsche bezeichnen. Ganze Völker danken ihm Leben und Bestehen; denn sie würden ohne dieses sonderbar genug gewählte Hausthier aufhören, zu sein. Dem Lappen und Finnen ist das Ren weit nothwendiger als uns das Rind oder das Pferd, als dem Araber das Kamel oder seine Ziegenherden; denn es muß die Dienste fast aller übrigen Herdenthiere leisten. Das zahme Renthier gibt Fleisch und Fell, Knochen und Sehnen her, um seinen Zwingherrn zu kleiden und zu ernähren; es liefert Milch, läßt sich als Lastthier benutzen und schleppt auf dem leichten Schlitten die Familie und ihre Geräthschaften von einem Ort zum anderen; mit einem Worte: das Renthier ermöglicht das Wanderleben der nördlichen Völkerschaften.

Ich kenne kein zweites Thier, in welchem sich die Last der Knechtschaft, der Fluch der Sklaverei so scharf ausspricht wie in dem Renthiere. Es kann kein Zweifel obwalten, daß das heute noch wildvorkommende »Ren« der Skandinavier der Stammvater jenes Hausthieres ist. Zahme, welche ohne Obhut des Menschen leben können, verwildern in sehr kurzer Zeit und werden schon nach einigen Geschlechtern den wilden wieder vollständig gleich. In Gestalt und Wesen gibt es aber schwerlich zwei Geschöpfe, wel che, bei so inniger Verwandtschaft, so außerordentlich sich unterscheiden wie das zahme und das wilde Renthier. Jenes ist ein trauriger Sklave seines armen, traurigen Herrn, dieses ein stolzer Beherrscher des Hochgebirges, ein gemsenartig lebender Hirsch, mit allem Adel, welcher diesem schönen Wilde zukommt. Wer freilebendes Renwild in Rudeln und zahme Renthiere in Herden gesehen hat und beide vergleichend betrachtet, will kaum glauben, daß das eine wie das andere ein Kind desselben Urahnen ist.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Dritter Band, Erste Abtheilung: Säugethiere, Zweiter Band: Raubthiere, Kerfjäger, Nager, Zahnarme, Beutel- und Gabelthiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1883., S. 117-118.
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