Dritte Familie: Hirsche (Cervina)

[99] Keine einzige Gruppe der ganzen Ordnung läßt sich leichter kennzeichnen als die Familie der Hirsche (Cervina). Sie sind geweihtragende Wiederkäuer. Mit diesen Worten hat man sie hinlänglich beschrieben; denn alles übrige erscheint dieser Eigenthümlichkeit gegenüber als nebensächlich. Von den Moschusthieren unterscheiden sich die Hirsche durch bedeutendere Größe, durch den Besitz von Thränengruben, durch die nur sehr kurzen Eckzähne bei den Männchen mancher Arten und durch eine Haarbürste an den Hinterfüßen. Ihr Bau ist schlank und zierlich, der Leib wohlgeformt und gestreckt, der Hals stark und kräftig, der Kopf nach der Schnauzenspitze zu stark verschmälert; die Beine sind hoch und fein gebaut; die Füße haben sehr entwickelte Afterklauen und schmale, spitzige Hufen. Große, lebhafte Augen, aufrechtstehende, schmale, mittellange und bewegliche Ohren, die glatte, ungefurchte Oberlippe und sechs Backenzähne in jedem Kiefer sind anderweitige Merkmale der Gruppe.

Die Geweihe kommen meist nur den Männchen zu. Sie sind, wie oben angegeben, paarige, knöcherne, verästelte Fortsetzungen der Stirnbeine und werden alljährlich abgeworfen und aufs neue erzeugt. Ihre Bildung und die Absterbung steht im innigen Zusammenhang mit der Geschlechtsthätigkeit. Verschnittene Hirsche bleiben sich hinsichtlich des Geweihes immer gleich, d.h. sie behalten es, wenn die Verschneidung während der Zeit erfolgte, wo sie das Geweih trugen, oder sie bekommen es niemals wieder, wenn sie verschnitten wurden, als sie das Geweih eben abgeworfen hatten; ja einseitig Verschnittene setzen bloß an der unversehrten Seite noch auf. Schon vor der Geburt des Hirsches ist die Stelle, welche das Geweih tragen soll, durch eine starke Verknöcherung des Schädels angedeutet. Mit dem sechsten oder achten Monate des Alters bildet sich durch Erhebung der äußern Decke am Stirnbeine ein Knochenzapfen, welcher während des ganzen Lebens hindurch stehen bleibt: der sogenannte Rosenstock, auf welchem die Geweihe sich aufsetzen. Anfänglich sind die Stangen nur einfach spitzig, später verästeln sie sich mehr und mehr, indem von der Hauptstange Sprossen auslaufen, deren Anzahl bis zwölf an jeder Stange ansteigen kann. »Mit dem Alter der Hirsche«, sagt Blasius, »geht eine gewaltige Umänderung der Geweihe vor sich. Die erste und allgemein auffallende Veränderung ist die der Rosenstöcke, welche mit der zunehmenden Größe der Stirnzapfen sich mit jedem Jahr mehr erweitern und nach der Mitte der Stirn einander näher rücken; ebenso verringert sich auch mit dem Aufrücken der Stirnkante die Rose und der Schädel in jedem Jahre. Noch auffallender aber sind die Veränderungen in der Gestalt der Geweihe und der Anzahl der Enden.

Die jungen Geweihe, in deren ersten Bildungsanfängen der Grund zum Abwerfen der alten liegt, sind anfangs von einer gefäßreichen, behaarten Haut umgeben, kolbig, weich und biegsam. Erst lösen sich die tieferen, dann die höher stehenden Enden von der Hauptstange los, und nachdem alle in bleibende Verhältnisse ausgebildet und die Enden vereckt sind, stockt der Blutumlauf, und der Hirsch hat das Bedürfnis, die Haut oder den Bast abzuschlagen, welcher nun auch anfängt, sich von selbst abzulösen.« Die Veränderung des Geweihes, gewissermaßen seine Weiterausbildung, geht nun in folgender Weise vor sich: Schon ehe der Hirsch das erste Lebensjahr erreicht, bilden sich als unmittelbare Fortsetzungen der Rosenstöcke Stangen, welche bei manchen Arten der Familie wohl abgeworfen, aber immer in gleicher Weise wieder ersetzt werden, wogegen bei den meisten [99] Hirschen die auf die ersten Stangen, die sogenannten Spieße, folgenden Geweihe, also der Kopfschmuck des zweiten Jahres, einen, bisweilen wohl auch zwei Zacken, Sprossen oder Zinken erhalten. Im Frühjahre des dritten Jahres wiederholt sich derselbe Vorgang; aber die neu aufgesetzte Stange enthält einen Sprossen mehr als im vorigen Jahre, und so geht es fort, bis die größtmöglichste Ausbildung des Thieres erreicht worden ist. Krankheiten oder schlechte Nahrung bringen bisweilen einen Rückgang hervor, indem dann die neu aufgesetzten Stangen je einen oder zwei Sprossen weniger zählen als vorher, und ebenso kann die Geweihbildung durch reichliche Nahrung und ruhige, sorgenlose Lebensweise beschleunigt werden.


Geripp des Edelhirsches. (Aus dem Berliner anatomischen Museum)
Geripp des Edelhirsches. (Aus dem Berliner anatomischen Museum)

Max Schmidt hat über die Bildung und Entwickelung der Geweihe so übersichtlich und wahrheitsgetreu berichtet, daß ich nichts besseres zu thun weiß, als mich im nachfolgenden auf seine Ausführungen zu stützen. Bei dem neugebornen Hirsche sind die Stellen, an denen später die Geweihe sich entwickeln, in der Regel durch Haarwirbel angedeutet und erscheinen häufig eher etwas vertieft als erhöht. Gegen Ende des ersten oder zu Anfang des zweiten Jahres treten die Rosenstöcke allmählich hervor, und sobald sie ihre völlige Länge erreicht haben, werden die ersten Spuren eigentlicher Geweihbildung bemerklich. Der stets mit Haut bekleidete Rosenstock hat, je nach der Art, eine sehr verschiedene Höhe, indem er bald kaum über die Fläche der Stirnbeine sich erhebt, bald eine Länge von zwei bis fünf, in einzelnen Fällen sogar bis funfzehn Centimeter [100] erreicht. Die im zweiten Lebensjahre zum Vorscheine kommenden Geweihanfänge sind entweder niedere, höckerige Gebilde oder aber mehr gestreckte, kegelförmige Hervorragungen von ebenfalls sehr verschiedener Länge, je nach Art des Thieres; bei der ersteren Form tritt immer, bei der zweiten zuweilen eine Theilung ein. Hierauf folgt in späteren Jahren die weitere Ausbildung der Geweihe in der angegebenen Weise.

Die Befestigung des Geweihes auf dem Rosenstocke findet derartig statt, daß kleinere oder größere Hervorragungen der Geweihwurzel in entsprechende Vertiefungen der obern Fläche des Rosenstockes eingreifen und umgekehrt. Diese Verbindung ist eine so innige, daß sie auf einem senkrechten Durchschnitte eines frischen ausgebildeten Geweihes und des Rosenstockes nicht sichtbar wird, sondern erst nach dem Austrocknen als eine feingezackte Linie auf der Schnittfläche sich darstellt. Daher kommt es auch, daß bei Anwendung von Gewalt ein Geweih, welches nicht dem Abwerfen nahe ist, nicht leicht an dieser Stelle bricht, sondern weit eher der Rosenstock von der Stirnbeinfläche abgesprengt wird.

Bei den meisten Hirschen bemerkt man einige Tage vor dem Abwerfen eine Auftreibung des Hautrandes, welcher Rosenstock und Geweihwurzel umgibt; der Hirsch schont das Geweih, vermeidet damit anzustoßen und beweist dadurch, daß er ein ungewohntes Gefühl an dieser Stelle verspürt.

Das Abwerfen selbst geschieht infolge des eigenen Gewichtes der Stangen oder eines geringen äußern Anstoßes. Höchst selten werden beide Stangen zugleich abgeworfen; es bleibt vielmehr ein Zwischenraum von verschiedener Dauer, welche bald wenige Minuten, bald mehrere Tage umfaßt, zwischen dem Abwerfen der ersten und der zweiten Stange. Durch sein ganzes Benehmen, besonders aber durch die Haltung des Kopfes und Hängenlassen der Ohren bekundet der Hirsch, daß das Abwerfen, wenn nicht schmerzhaft, so doch jedenfalls mit einem unbehaglichen Gefühle verbunden ist. Schon mehrere Tage vorher stößt er nicht mehr, sondern wehrt sich wie das Thier, durch Schlagen mit den Vorderläufen. Nach dem Abwerfen einer Stange veranlaßt ihn das ungleiche Gewicht, den Kopf schief nach einer Seite geneigt zu tragen, und er schüttelt oft, als wolle er dadurch die andere Stange ebenfalls entfernen. Anwendung von Gewalt findet zwar auch, jedoch seltener statt, insbesondere dann, wenn der Hirsch verstümmelte Geweihe trug.

Unmittelbar nach dem Abwerfen beginnt die Neubildung des Kopfschmuckes. Hofrath Dr. Sömmering hat sich der Mühe unterzogen, den Aufbau des Geweihes eines gefangen gehaltenen Edelhirsches genau zu beobachten und zu beschreiben, und seine Schilderung gibt ein sehr getreues Bild dieses Vorganges. »Gleich nach dem Abfallen der einen Stange«, sagt er, »war die untere Fläche derselben trocken, wenigstens nicht blutig; die Blutgefäße in ihr waren also völlig abgestorben und leer. Man bemerkte namentlich nach hinten und außen, aber nur dicht am Rande der Rose, zwischen den Perlen, Oeffnungen zahlreicher Kanäle, durch welche die ernährenden Gefäße zum Baste verliefen. Die kleineren enthielten die Schlagadern, welche fast alle aus der äußern Halsschlagader (Carotis externa) entspringen. Zur Zeit der Geweihbildung erweitern und verlängern sich deren Zweige außerordentlich und sind von noch stärkeren Hohladern umgeben, deren Knochenkanäle man neben denen der Schlagadern sieht, und deren Wege man noch deutlicher als jene in den breiteren Furchen des Geweihes angedeutet findet. Durch das Fegen sind sie an den Spitzen der plattgeschliffenen Enden verwischt worden und völlig verschwunden. Die Mitte der untern Fläche des Geweihes ist weniger hart und fest als der Rand, mehr porös und rauh, mit dem Stirnbeinfortsatze daher loser verbunden, nicht durch wirkliche Naht daran befestigt.

Nach dem Abwerfen beider Stangen sucht der Hirsch im Freien die Ruhe, thut sich an einsamen Plätzen nieder und scheint ermattet, wenigstens muthlos zu sein, im Gefühle des Verlustes seiner Waffen. Er trägt den Kopf gern gesenkt und meidet jeden Anstoß, jede Berührung desselben.

[101] Die runde Fläche, auf welcher die Stange saß, hat 50 Millimeter Durchmesser, ist mit einem Gerinsel von Blut und Lymphe bedeckt, aber schon jetzt mit einem acht Millimeter breiten, wulstigen, schwärzlich violetten Ringe umgeben: eine offenbar bereits vor dem Abwerfen bestehende Neubildung von Gefäßen, welche, aus dem Hautrande des Rosenstockes sich hervordrängend, die Auflockerung und Loslösung bewirkt haben. Der Andrang des Blutes nach den Rosenstöcken wird von dem alten abgestorbenen Geweih aufgehalten; die Gefäße häufen sich vor demselben an, krümmen und verschlingen sich und bilden einen wulstigen Gefäßring, welcher das Geweih gleichsam von der Stirnhaut abschnürt und untergräbt und so die leichte Abstoßung desselben bewirkt. Aus diesem Gefäßwulste entsteht später durch Ausscheidung von kalkiger Knochenmasse die Rose mit ihrem Perlenkranze. Sie fehlt noch bei dem Erstlingsgeweih des Spießers, dessen dünne Stange auf einem hohen Fortsatze des Stirnbeins aufsitzt. Mit jedem Jahre nimmt dieser an Breite zu, aber an Höhe ab, denn mit dem Abwerfen des Geweihes geht immer eine obere Schicht desselben verloren.

Schon am zweiten Tage nach dem Abwerfen ist die Mitte der Wundfläche mit schwärzlich rothbraunem Schorfe bedeckt, welcher sich immer mehr nach der Mitte zusammenzieht, während der Ringwulst breiter und höher wird. Am vierten Tage ist die eigentliche Wundfläche schon sehr verkleinert, im Durchmesser 28 Millimeter, der Ringwulst dagegen 12 Millimeter breit, letzterer erhabener gewölbt und gefurcht, seine dünne Oberhaut so empfindlich, daß sie leicht blutet. Dasselbe beobachtet man auch noch am achten Tage; nur ist inzwischen der Ringwulst wieder merklich breiter und höher geworden, jedoch noch völlig rund geblieben, ohne den behaarten Hautrand seitlich zu überragen. Am vierzehnten Tage hat die mittlere Wundstelle sich wiederum bedeutend verkleinert. Der Wulst ist im Umfange allenthalben, am meisten aber nach vorn, über den Rand des behaarten Rosenstockes ausgedehnt, so daß man sehr deutlich den Anfang zu dem zuerst sich bildenden untersten Ende des Geweihes, des Augensprosses, wahrnimmt. Von dessen Spitze aus gemessen hat der Wulst oder Kolben nur einen Durchmesser von 72 Millimeter, während jener der mittlern Vertiefung nur noch 16 Millimeter beträgt. Am zwanzigsten Tage beginnt der nun nach allen Seiten stark hervortretende grauschwarze Kolben mit weißlichen Haaren sich zu bedecken; seine Oberhaut ist fester geworden und nicht allein der Ansatz zu den Augensprossen stärker hervorgetreten, sondern namentlich der hintere Theil des Kolbens, aus welchem die Stange sich erheben soll, breiter, höher, massenhafter ausgebildet. Von nun an verschwindet die kleine vertiefte Mittelfläche bald gänzlich, und der Kolben wächst rascher in die Breite und Höhe. Außer dem, am dreiundzwanzigsten Tage bereits 60 Millimeter langen Augensproß theilt er sich in eine kleinere vordere und eine stärkere hintere Halbkugel, aus welcher das zweite Ende, der Eissproß, und die Stange selbst sich bilden. Er ist nur dicht mit weißlichen Haaren bedeckt und hat daher eine graue Färbung bekommen. Im Verlaufe der nächsten zehn Tage hat sich das Ansehen der Kolben bedeutend verändert. Das ganze Geweih ist gleichsam in der Anlage schon vorhanden; alle Enden sind durch mehr oder minder hervorragende Abtheilungen und Einschnitte des Kolbens angedeutet. Letzterer gleicht einer Pflanze, welche im Frühlinge nach der Winterruhe schon ihren Stengel gebildet hat, aus dem Blätter und Blüten hervortreiben, nachdem das Wachsthum der Wurzel vollendet ist. Nun erst sieht man deutlich einen über den Rand des behaarten Rosenstockes hervorragenden bläulichen, gefäßreichen Ring, den Anfang der sich bildenden Rose und ihrer Perlen, am Grunde des Geweihes. Darüber ragt der Augensproß hervor. Die Spitze ist sehr breit geworden und beginnt durch Furchung sich zu gabeln. Zwölf Tage später, am fünfundvierzigsten des Wachsthums, ist die letzte Gabelung oder Theilung der Kolben noch nicht vollständig; am neunundfunfzigsten Tage sind alle vorhandenen Enden bereits ziemlich lang geworden, und der Augensproß hat sich bereits zugespitzt. Der obere Theil des Geweihes theilt sich jedoch erst am zweiundsechzigsten Tage und ist am neunundsiebenzigsten Tage fertig, aber noch mit stark behaartem und gefäßreichem Bast überzogen, welcher sehr empfindlich sein muß, weil der Hirsch noch immer das Geweih schont. Noch am hundertundzwanzigsten Tage, [102] um welche Zeit das Geweih vollständig ausgewachsen ist und seine Enden bis zu den Spitzen knochenhart sind, blutet der Augensproß bei der geringsten Verletzung. Erst zwanzig Tage später fegte der in Rede stehende Hirsch.«

Der hier beschriebene Hergang der Neubildung des Geweihes gilt für alle Hirsche, nur mit der Maßgabe, daß das Wachsthum bei dem einen längere, bei dem andern kürzere Zeit beansprucht. Nachdem der Bast oder häutige Ueberzug des Geweihes seine Dienste gethan hat, trocknet er ein, und der Hirsch reibt nunmehr die sich loslösenden Fetzen desselben an Bäumen und Gesträuchen ab, wodurch gleichzeitig die Geweihe, hauptsächlich wohl von dem Safte der dabei beschädigten Pflanzen dunkler gefärbt werden.

Im allgemeinen ist die Gestalt des Geweihes eine sehr regelmäßige, obgleich Oertlichkeit und Nahrung Veränderungen zur Folge haben können. Für die Artbestimmung bleibt das Geweih immer noch eines der Hauptmerkmale, mögen auch einzelne Naturforscher solcher Bestimmung nur einen sehr zweifelhaften Werth zusprechen wollen.

Die inneren Leibestheile der Hirsche stimmen im wesentlichen mit denen anderer Wiederkäuer überein und bedürfen hier keiner besondern Beschreibung. Daß allen Hirschen die Gallenblase fehlt, wurde bereits erwähnt.

Schon in der Vorzeit waren die Hirsche über einen großen Theil der Erdoberfläche verbreitet. Gegenwärtig bewohnen sie mit Ausnahme des größten Theiles von Afrika und von ganz Australien alle Erdtheile und so ziemlich alle Klimate, die Ebenen wie die Gebirge, die Blößen wie die Wälder. Manche leben gemsenartig, andere so versteckt als möglich in dichten Waldungen, diese in trockenen Steppen, jene in Sümpfen und Morästen. Nach der Jahreszeit wechseln viele ihren Aufenthalt, indem sie, der Nahrung nachgehend, von der Höhe zur Tiefe herab- und wieder zurückziehen; einige wandern auch und legen dabei unter Umständen sehr bedeutende Strecken zurück. Alle sind gesellige Thiere; manche rudeln sich oft in bedeutende Herden zusammen. Die alten Männchen trennen sich gewöhnlich während des Sommers von den Rudeln und leben einsam für sich oder vereinigen sich mit ihren Geschlechtsgenossen; zur Brunstzeit aber gesellen sie sich zu den Rudeln der Weibchen, rufen andere Gesinnungstüchtige zum Zweikampfe heraus, streiten wacker mit einander und zeigen sich überhaupt dann außerordentlich erregt und in ihrem ganzen Wesen wie umgestaltet. Die meisten sind Nachtthiere, obwohl viele, namentlich die, welche die hohen Gebirge und die unbewohnten Orte bevölkern, auch während des Tages auf Aesung ausziehen. Alle Hirsche sind lebhafte, furchtsame und flüchtige Geschöpfe, rasch und behend in ihren Bewegungen, feinsinnig, geistig jedoch ziemlich gering begabt. Die Stimme besteht in kurz ausgestoßenen, dumpfen Lauten bei den Männchen und in blökenden bei den Weibchen.

Nur Pflanzenstoffe bilden die Nahrung der Hirsche; wenigstens ist es noch keineswegs erwiesen, ob die Renthiere, wie man behauptet hat, Lemminge fressen oder nicht. Gräser, Kräuter, Blüten, Blätter und Nadeln, Knospen, junge Triebe und Zweige, Getreide, Obst, Beeren, Rinde, Mose, Flechten und Pilze bilden die hauptsächlichsten Bestandtheile ihrer Aesung. Salz erscheint ihnen als Leckerei, und Wasser ist ihnen Bedürfnis.

Die Hirschkuh wirft ein oder zwei, in seltenen Fällen drei Junge, welche vollständig ausgebildet zur Welt kommen und schon nach wenigen Tagen der Mutter folgen. Bei einigen Arten nimmt sich auch der Vater seiner Nachkommenschaft freundlich an. Die Kälber lassen sich Liebkosungen seitens ihrer Mutter mit vielem Vergnügen gefallen, und diese pflegt jene aufs sorgfältigste, schützt sie auch bei Gefahr.

In Gegenden, wo Ackerbau und Forstwirtschaft den Anforderungen der Neuzeit gemäß betrieben werden, sind die Hirsche nicht mehr zu dulden. Der Schaden, welchen die schönen Thiere anrichten, übertrifft den geringen Nutzen, den sie bringen. Sie vertragen sich leider nicht mit der Land- und Forstwirtschaft. Wäre die Jagd nicht, welche mit Recht als eine der edelsten und männlichsten Vergnügungen gilt, man würde sämmtliche Hirsche bei uns längst vollständig [103] ausgerottet haben. Noch ist es nicht bis dahin gekommen; aber alle Mitglieder dieser so vielfach ausgezeichneten Familie, welche bei uns wohnen, gehen ihrem sichern Untergange entgegen und werden wahrscheinlich schon in kurzer Zeit bloß noch in einem Zustande der Halbwildheit, in Thierparks und Thiergärten nämlich, zu sehen sein.

Die Zähmung der Hirsche ist nicht so leicht, als man gewöhnlich annimmt. In der Jugend betragen sich freilich alle, welche frühzeitig in die Gewalt des Menschen kamen und an diesen gewöhnt wurden, sehr liebenswürdig, zutraulich und anhänglich; mit dem Alter aber schwinden diese Eigenschaften mehr und mehr, und fast alle alten Hirsche werden zornige, boshafte und rauflustige Geschöpfe. Hiervon macht auch die eine, schon seit längerer Zeit in Gefangenschaft lebende Art, das Ren, keine Ausnahme. Seine Zähmung ist keineswegs eine vollständige, wie wir sie bei anderen Wiederkäuern bemerken, sondern nur eine halbgelungene.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Dritter Band, Erste Abtheilung: Säugethiere, Zweiter Band: Raubthiere, Kerfjäger, Nager, Zahnarme, Beutel- und Gabelthiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1883., S. 99-104.
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