Zweite Familie: Moschusthiere (Moschidae)

[91] Die Moschusthiere (Moschidae) haben kein Geweih, keine Thränengruben, keine Haarbürste an den Hinterfüßen und einen verkümmerten Schwanz. Die Männchen zeichnen sich vor allen übrigen Wiederkäuern durch lange hervorragende Eckzähne im Oberkiefer aus, welche bald weit aus dem Maule hervor und dann nach außen sich wenden, bald viel kürzer und einwärts gerichtet sind. Im Unterkiefer stehen außerdem drei Schneidezähne sowie ein Eckzahn, und in beiden Kiefern je sechs Backenzähne. Vierzehn bis funfzehn Wirbel tragen Rippen, fünf bis sechs sind rippenlos, vier bis sechs bilden das Kreuzbein und dreizehn den Schwanz. Die Weichtheile ähneln denen der Antilopen und Hirsche; der Magen ist jedoch nur bei einer Art in vier Abtheilungen geschieden, während bei den übrigen Moschusthieren der Blättermagen fehlt. Da nun außerdem die Männchen jener Art und Gruppe in der Nabelgegend einen Beutel besitzen, welcher Moschus absondert, und dieser bei den Zwergmoschusthieren ebenfalls nicht vorkommt, betrachtet man neuerdings beide Gruppen auch wohl als besondere Familien. Von den Hirschen unterscheiden sich die Moschusthiere durch das Fehlen eines Geweihes, den Mangel der Thränendrüsen, das Vorhandensein der Gallenblase und anderweitige Merkmale erheblich genug, um die gegenwärtig allgemein anerkannte Trennung beider Familien zu rechtfertigen.

Mittel- und Südasien mit seinen Jnseln und der westliche Theil von Mittelafrika sind die Heimat der Moschusthiere. Dort leben die größeren Arten in den felsigsten Gegenden der Hochgebirge, selten in den Thälern, in welche sie eigentlich bloß dann herabstreichen, wenn sie der strenge Winter von ihren Höhen vertreibt und der Nahrungsmangel sie zwingt, sich nach günstigeren [91] Gebieten zu wenden. Die kleinen Arten wohnen in dichteren Waldungen, zumal auf dem Gebirge und in felsigen, buschreichen Gegenden, selbst in unmittelbarer Nähe der Ortschaften. Bei weitem die meisten leben einzeln, oder bloß zur Fortpflanzungszeit paarweise; nur eine Art schlägt sich in größere Rudel zusammen.

Wie bei den meisten Wiederkäuern beginnt das Leben der Moschusthiere erst nach Sonnenuntergang; den Tag über liegen sie an verborgenen Orten versteckt und schlafen. Sie sind lebhaft und behend, leicht und schnell in ihren Bewegungen, springen und klettern vortrefflich und laufen gemsengleich über die Schneefelder hinweg. Die Arten, welche in der Tiefe hausen, sind zwar auch gewandt und rasch, jedoch nicht so ausdauernd wie jene, welche das Gebirge bewohnen. Alle zeigen sich sehr scheu und furchtsam und versuchen bei der geringsten Gefahr zu entfliehen. Dabei gebrauchen, wie das Opossum, einige ein eigenes Verstellungsmittel: sie stellen sich todt und springen dann plötzlich auf und davon. An die Gefangenschaft gewöhnen sie sich sehr bald, lassen sich ohne Umstände zähmen und schließen mit den Menschen ziemlich innige Freundschaft, ohne jedoch die ihnen angeborene Scheu gänzlich zu verlieren.

Die Vermehrung aller Arten ist gering. Sie setzen bloß ein oder höchstens zwei Junge, und zwar in ziemlich langen Zwischenräumen. Man jagt die Moschusthiere ihres Fleisches und ihres Felles wegen, die eine Art aber auch ganz besonders des Moschus halber, welcher, wie bekannt, noch heutigen Tages als ein höchst wichtiges Arzneimittel angesehen wird.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Dritter Band, Erste Abtheilung: Säugethiere, Zweiter Band: Raubthiere, Kerfjäger, Nager, Zahnarme, Beutel- und Gabelthiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1883., S. 91-92.
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